Nachdem das OVG Nordrhein-Westfalen am 16.07.2024 vermeintlich urteilte, dass für syrische Schutzsuchende kein subsidiärer Schutz mehr zu erteilen sei, mehren sich Rufe aus der Politik nach schnellen und konsequenten Abschiebungen auch nach Syrien. Doch lässt dieses Urteil pauschale Abschiebungen überhaupt zu? Eine Analyse zeigt, dass die Forderungen der Politik wieder einmal überzogen sind und das Urteil nicht nur inhaltliche Schwächen zeigt, sondern darüber hinaus keine Schlüsse auf die Zulässigkeit zukünftiger Rückführungen zulässt.
Ausgangslage: Subsidiärer Schutz für Syrer*innen
Geflüchtete aus Syrien erhalten schon jetzt nicht (mehr) stets einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus, im ersten Halbjahr 2024 lag die Anerkennungsquote dafür bei nicht einmal 10 %. Relevanter ist dagegen die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach § 4 AsylG, den etwas mehr als 75 % der Antragsteller*innen erhielten. Subsidiärer Schutz wird erteilt, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt wird. Er erfasst Personen, denen unabhängig von einer individuellen Verfolgung im Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und die keinen internen Schutz im Herkunftsland finden können. Präziser schützt der subsidiäre Schutz vor der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3) im Heimatland.
Seit geraumer Zeit mehren sich jedoch Stimmen, die eine noch restriktivere Migrationspolitik fordern. Auch Olaf Scholz fordert vehement die Rückführung zumindest von Straftätern nach Syrien, als ob es sich um eine alleinige exekutive Entscheidung handelte. Doch auch diese erhalten nach § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG bereits jetzt bei schweren Straftaten keinen subsidiären Schutz. Noch weitergehend forderte im Juni 2024 der Präsident des Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), eine vollständige Abschaffung des subsidiären Schutzes auch für Schutzsuchende aus Syrien. Aussicht auf Erfolg hat dies schon aufgrund der Bindung Deutschlands an das § 4 AsylG zugrundeliegende EU-Recht und die EMRK nicht.
Das Urteil des OVG
In diese komplexe Gemengelage hinein fällt nun ein Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.07.2024 (mit Begründung hier abrufbar), in welchem einem syrischen Staatsangehörigen die Zuerteilung des subsidiären Schutzes verweigert wurde. In seiner Entscheidung stellte das OVG als erstes Obergericht fest, dass für syrische Rückkehrer gegenwärtig keine generelle ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestehe.
Das OVG setzte die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle, darunter Explosionen und Angriffe mit Fernwaffen, sowie die damit einhergehenden zivilen Todesfälle in Relation zur Einwohnerzahl und Fläche der jeweiligen syrischen Provinzen. Diese als „Body-Count-Ansatz“ bezeichnete Vorgehensweise wurde bereits im Jahr 2021 durch den EuGH zumindest kritisch gesehen, andere Stimmen erachteten diese nach dem EuGH-Urteil sogar als unzulässig. Zudem legt das OVG den Begriff der Gefahrendichte sehr restriktiv aus: Diese liege erst dann vor, wenn „praktisch jede Zivilperson ernsthaft damit rechnen müsste, getötet oder verletzt zu werden“ (S. 63) (zu einem solchen 100 %-Standard kritisch hier). Das Ergebnis erfolgt insbesondere auch gegen anderslautende Bewertungen der Europäischen Asylagentur (explizit S. 63). Eine solche selektive Quellenauswahl zeigt der Senat bereits im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft. Der Senat schätzt in diesem Zusammenhang zwar einen (für den Kläger nachteiligen) Bericht des Dänischen Einwanderungsdiensts ohne weitere Begründung als „plausibel, weil realitätsnah“ (S. 26) ein, hält Lageberichte aus dem Auswärtigen Amt hingegen wiederholt für „nicht plausibel“ (S. 24, 28).
Neben diesen teils kritikwürdig restriktiven Einschätzungen lassen sich auch aus einem anderen Grund keine Schlüsse aus dem Urteil ziehen. Aktuelle Zahlen zeigen, dass seit mehreren Jahren konstant über 90 % der Erteilungen subsidiären Schutzes an Syrer*innen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht auf einer Gefährdung deren Lebens oder deren Gesundheit gestützt werden (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG), sondern auf einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) (siehe allgemein hier und die Statistiken der Bundesregierung, hier S. 12, hier S. 16). Von Januar bis April 2024 wurde Schutz gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG lediglich an 39 Personen erteilt, während 26.257 Personen Schutz gemäß Nr. 2 erhielten (hier S. 13). Doch damit beschäftigt sich das Urteil nicht; hier werden die Voraussetzungen der praxisrelevanteren Nr. 2 nur kurz behandelt und im Ergebnis offengelassen, da wegen einer vorigen Straftat eine Erteilung des Schutzstatus sowieso nach § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG ausgeschlossen wäre (S. 80-82). Die Frage der Gefahrendichte wird hingegen ausführlich behandelt (S. 60-82).
Fehlgeleitete Reaktionen der Politik
Entgegen der rechtlichen Einordnung waren die politischen Reaktionen auf das Urteil von beträchtlicher Tragweite. Es wurde vielfach angenommen, dass die Möglichkeit zu Abschiebungen nun generell gegeben sei. Als kennzeichnend kann die Aussage des FDP-Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai bezeichnet werden: Die Entscheidung mache deutlich, „dass keine pauschale, ernsthafte Bedrohung für Zivilisten in Syrien mehr vorliegt. Abschiebungen nach Syrien […] sind also möglich, und sie müssen kommen.“ Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, bezeichnet das Urteil als „wegweisend“, eine „schallende Ohrfeige für Außenministerin Baerbock“ und fordert umgehende „Konsequenzen“.
Jedoch erteilt das Urteil der Exekutive keinen Freibrief für Abschiebungen nach Syrien. Zwar kann in diesem Verfahren das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der Besonderheiten des Falls nicht als weitere Tatsacheninstanz nach § 78 Abs. 8 AsylG die Lageeinschätzung abändern. Das OVG NRW vertritt mit seiner Auffassung aber eine Einzelposition. Es bleibt abzuwarten, ob sich andere Obergerichte und das BAMF dieser Auffassung anschließen werden. Doch auch dann wären Abschiebungen nach Syrien nicht generell zulässig. Wie Daniel Thym bereits im Juni dargelegte, scheint es plausibel, dass die Auswirkungen des Bürgerkrieges in Syrien nicht mehr ausreichen, um die automatische Erteilung des subsidiären Schutzes zu rechtfertigen. Infolgedessen ist dann aber eine Einzelfallprüfung erforderlich, um festzustellen, ob eine Person dennoch besonders gefährdet ist. Und in dieser Hinsicht geht die Debatte am Thema vorbei: Die Schutzgewährung wird seit längerem eben nicht mehr auf den syrischen Bürgerkrieg gestützt, sondern auf eine dort drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, zu welcher das OVG weitgehend schwieg. Damit scheint die Reaktion der Außenministerin auf die Anmerkungen der Politik angemessen zu sein: „Ich glaube, dass es gerade in solchen unsicheren Zeiten nicht ein Beitrag zur Sicherheit ist, wenn man Dinge verspricht, wo man dann am nächsten Tag schon nicht mehr ganz weiß, wie man die eigentlich halten kann.“
In diesem Zusammenhang sei auch auf die praktische Auswirkung einer Einschränkung der Erteilung des subsidiären Schutzes hingewiesen. Denn bei Nicht-Erteilung des subsidiären Schutzes werden für Syrer*innen in der Regel Abschiebeverbote gemäß § 60 Abs. 5, 7 AufenthG festgestellt. So handelte es sich auch im diskutierten Fall um eine sogenannte Aufstockungs- oder Upgrade-Klage, der Kläger wird jedenfalls nicht rückgeführt. So sei in diesem Kontext auf die Einschätzung des Leipziger Asylrechtsanwalts Matthias Lehnert verwiesen: „Mit diesem Urteil kann man keinen Menschen in ein Flugzeug setzen und nach Syrien abschieben.“ Allerdings sendet die Diskussion um das Urteil nicht nur eine starke Signalwirkung für alle Syrer*innen, die sich teils seit vielen Jahren in Deutschland aufhalten, sondern kann auch konkrete aufenthaltsrechtliche Auswirkungen mit sich bringen. Eine Herabstufung in die Duldung verhindert beispielsweise eine Einbürgerung. Daher sollten vorschnelle Forderungen nach weitreichenden restriktiven Maßnahmen gut bedacht sein.
Zitiervorschlag: Holzhauer, Vincent, Abschiebungen nach Syrien: Kein Problem mehr nach dem Urteil des OVG NRW?, JuWissBlog Nr. 50/2024 v. 06.08.2024, https://www.juwiss.de/50-2024/.
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