Das deutsche und europäische Asylrecht wird seit den 90er Jahren fortlaufend eingeschränkt. In diese Entwicklung reihen sich jüngst verlautbarte Forderungen (u.a. von CDU/CSU und FDP), das sog. „Ruanda-Modell“ in Deutschland zu etablieren. Misst man dieses Vorhaben jedoch an unions- und völkerrechtlichen Maßstäben und berücksichtigt zudem praktische Erwägungen, wird deutlich: Es handelt sich um populistische Agitation, nicht um eine auf den Schutz von Geflüchteten zielende, humanitäre Asylpolitik.
Das Modell beschreibt das Vorhaben, Asylantragsteller*innen in Drittstaaten zu überführen, um dort ihre Asylverfahren durchführen zu lassen. Ein Drittstaat, zu dem Schutzsuchende regelmäßig keinerlei Bezug haben, hätte demnach im Falle erfolgreicher Asylanträge den Schutz der Menschen zu gewährleisten. Anders als üblich obläge dies nicht mehr dem Staat, in dem der Asylantrag gestellt wurde. Die Idee extraterritorialer Asylverfahren ist jedoch keineswegs neu, sondern wird bereits seit mehreren Jahrzehnten wiederkehrend diskutiert (dazu Engler). Das „Ruanda-Modell“ selbst verdankt seinen Namen dem Vorhaben Großbritanniens, dessen Parlament im April 2024 beschloss, künftig Asylverfahren in Ruanda durchzuführen (die neue britische Regierung stampfte diesen Plan jüngst wieder ein).
Unionsrecht steht „Ruanda-Modell“ (noch) im Wege
Das europäische Asylrecht schreibt unter Bezugnahme auf die GFK vor, dass Menschen nur in „sichere Drittstaaten“ überstellt werden dürfen (Art. 38 Abs. 1 lit. c AsylverfahrensRL). Zu diesen muss der Antragsteller jedoch eine Verbindung haben, aufgrund derer es „vernünftig erscheint, dass [er] sich in diesen Staat begibt“ (Art. 38 Abs. 2 lit. a AsylverfahrensRL). Der EuGH stellte klar, dass es dafür nicht genügt, dass der Antragsteller bloß durch den Drittstaat gereist ist (Rn. 44-50). Bereits der Versuch, dieses Kriterium abzuschwächen, um Rückführungen in solche Transitstaaten zu ermöglichen, erfuhr deutliche Kritik: Lübbe stellte zutreffend dar, dass es migrationspolitisch unvernünftig ist, Schutzsuchende willkürlich einem Staat zuzuordnen. Nicht nur ist es ineffizient und behindert die Integration (Menschen integrieren sich besser, wenn sie eine Verbindung zum Staat und ortsspezifische Kenntnisse haben). Auch dient das Verbindungskriterium einer humanitären Asylpolitik sowie dem Schutz des Menschenrechts auf Familieneinheit (hier). Schränkte man es ein, so stellte man diese Zielrichtung in Frage. Das Europäische Parlament widersprach der Aufweichung des Verbindungselements, sodass die im Mai 2024 beschlossene Asylverfahrens-VO insoweit der bisherigen Rechtslage entspricht (vgl. S. 30).
Während man das Verbindungskriterium u.a. aufgrund dieser Gefahren nicht einmal einschränkte, müsste man es nunmehr abschaffen, um Antragsteller*innen in Staaten zu bringen, die sie nie betreten haben. Da das Völkerrecht ein solches Verbindungskriterium nicht explizit vorschreibe, solle man das Kriterium laut Thym (S. 32) aus dem Unionsrecht streichen, um Drittstaatsmodelle rechtlich zu ermöglichen. So forderten jüngst auch fünfzehn Mitgliedstaaten, das „Sichere-Drittstaats-Konzept“ inklusive dem Verbindungskriterium neu zu bewerten und möglicherweise, unter Einhaltung des Völkerrechts, insb. dem Refoulementverbot, anzupassen.
Doch genau in dieser Bedingung liegt die Crux. Denn selbst wenn man von der Prämisse ausgeht, man könne das Verbindungskriterium theoretisch völkerrechtskonform entfernen (daran wird zB hier und hier gezweifelt), drängt sich die Frage auf, inwiefern völker- und menschenrechtliche Standards in der Praxis effektiv eingehalten würden.
Völker- und menschenrechtliche Standards in Gefahr
Externalisiert der deutsche Staat Asylverfahren, muss er sicherstellen, dass im Drittstaat alle völker- und menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands eingehalten werden (vgl. Art. 38 AsylverfahrensRL). Dazu zählen insbesondere das Refoulementverbot, ein effektives Asylverfahren sowie die Schutzgewährung im Drittstaat bei erfolgreichen Asylanträgen (Art. 33 GFK; Art. 3, 6 EMRK; dazu hier).
Freilich kann man nur schwer abstrakt bewerten, inwiefern dies umsetzbar ist, solange die Drittstaaten nicht feststehen. Bisher benannten Politiker*innen explizit nur Ruanda (eine Delegation der CDU/CSU reiste bereits für Gespräche dorthin). Unter Bezugnahme darauf ist zu berücksichtigen, dass das BMZ (gestützt auf Freedom House und HRW) in Ruanda „ausgeprägte Defizite in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ feststellt. Dass Ruanda (oder ähnlich autoritäre Staaten) die hohen Anforderungen eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens einhalten, darf man daher keinesfalls einfach unterstellen.
Der UNHCR bezweifelt vielmehr, dass Asylsuchenden in Ruanda ein ausreichender individueller Schutz und mithin ein faires Asylverfahren geboten wird. Wird dies nicht gewährleistet, droht eine (das Refoulementverbot verletzende) Rückführung. Auch der UK Supreme Court stellte bei einer Entscheidung zum „Ruanda-Modell“ fest, dass für Schutzsuchende in Ruanda die reale Gefahr einer völker- und menschenrechtswidrigen Rückführung existiert (dazu hier). Der EGMR hatte die Abschiebung eines Asylsuchenden aus Großbritannien nach Ruanda vorerst verboten, da dieser dort möglicherweise kein faires Asylverfahren erhalte.
Dem Deutschen Institut für Menschenrechte zufolge ist es sehr wahrscheinlich, dass mit der Auslagerung von Asylverfahren Menschenrechtsverletzungen einhergehen würden, für die Deutschland dann mitverantwortlich wäre. Die „sehr hohen rechtlichen Anforderungen“, die Asylverfahren in Drittstaaten mit sich brächten, seien „kaum oder gar nicht zu erfüllen.“ Schließlich müsste Deutschland „von außen“ gewährleisten, dass in geschlossenen Asylzentren (in möglicherweise autoritären Staaten) weder menschenunwürdige Behandlungen noch Rückführungen in Staaten, aus denen die Schutzsuchenden geflüchtet sind, ohne individuelles Asylverfahren erfolgen. Dies praktisch umzusetzen, dürfte schwierig bis unmöglich sein (zu den Gefahren hier).
Blickt man auf bereits bestehende Kooperationen der EU mit anderen Drittstaaten, sind zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in „Flüchtlingslagern“ zu konstatieren (s. zB Libyen). Auch wenn die Lage völkerrechtlich anders zu bewerten ist, da Schutzsuchende nicht aus der EU dorthin überführt werden, offenbart dies die Gefahren der Zusammenarbeit mit Drittstaaten, die rechtsstaatliche Anforderungen nicht einhalten. Letztlich hängt es von den örtlich agierenden Verantwortlichen ab, ob deutsche Menschenrechtsverpflichtungen eingehalten werden. Man begibt sich damit in Abhängigkeiten zu Drittstaaten.
Praktische Erwägungen und Fazit
Versuche, Asylverfahren auszulagern, bergen stets die Gefahr, menschen- und völkerrechtliche Schutzstandards im Drittstaat zu unterminieren, da zahlreiche Faktoren relevant werden, die der überstellende Staat nur bedingt beeinflussen und kontrollieren kann.
Demgegenüber steht das politische Kalkül, Schutzsuchenden zu vermitteln, sie hätten in Deutschland ohnehin keine Bleibeperspektive. Dies ist nicht nur verwerflich, weil es die Grundlogik eines solidarischen und humanitären Flüchtlingsrechts, das sich dem Schutz von Menschen verschrieben hat, umkehrt: Politische Akteure, die ein „Ruanda-Modell“ fordern, wollen Menschen so wenig Schutz wie rechtlich irgendwie möglich bieten (wenn sie nicht sogar das Völkerrecht anzweifeln), um den immer lauteren rechtsextremen Stimmen in Europa vermeintlich entgegenzukommen.
Zudem ist unklar, ob solche Verfahren Schutzsuchende überhaupt von einer Flucht abschrecken würden (Daten zum „EU-Türkei-Deal“ lassen Gegenteiliges vermuten). Es könnten ohnehin nur so wenige Asylverfahren extraterritorial durchgeführt werden (Ruanda könnte jährlich 200 britische Asylverfahren durchführen), dass keine signifikante Veränderung erwartbar wäre. Hinzu kommen horrende Kosten: Der britische Rechnungshof geht davon aus, dass die ersten 300 in Ruanda durchgeführte Asylverfahren 540 Millionen Pfund gekostet hätten. Durch die entstehenden Abhängigkeiten zum Drittstaat böte man diesem zudem politische Druckmittel, was gerade bei autoritären Staaten für Schutzsuchende äußerst gefährlich ist (diese Gefahren zeigen sich auch am praktisch gescheiterten „EU-Türkei-Deal“, s. hier und hier).
Während Bund und Länder extraterritoriale Asylverfahren „weiter prüfen“, positioniert sich der Großteil der befragten Expert*innen gegen ein „Ruanda-Modell“. Selbst die von konservativen Politiker*innen geführte EU-Kommission lehnt dieses ab.
Die Diskussion um externalisierte Asylverfahren zeigt, wie massiv der politische Diskurs in letzter Zeit nach rechts rückte. Politiker*innen diskutieren verzweifelt vermeintliche Strategien für eine „bessere Migrationspolitik“, welche jedoch Menschenrechte in Frage stellen, unverhältnismäßig teuer sind und keine Verbesserungen mit sich bringen. Stattdessen sollte die Bundesregierung die Bedenken von Expert*innen ernstnehmen und sich auf ihre historische und politische Verantwortung besinnen, indem sie eine Asylpolitik verfolgt, die Geflüchtete effektiv schützt.
Zitiervorschlag: Nalbantis, Leonard, Ein „Ruanda-Modell“ für Deutschland? – Extraterritoriale Asylverfahren als Gefahr für Schutzsuchende, JuWissBlog Nr. 49/2024 v. 01.08.2024, https://www.juwiss.de/49-2024/.
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