von CHARLOTTE MAGNUS
Im Juni hat Verteidigungsminister Boris Pistorius seine Pläne zum „Neuen Wehrdienst” vorgestellt. Das Modell setzt vor allem auf Freiwilligkeit. Die CDU dagegen fordert (S. 27) im neuen Grundsatzprogramm die Rückkehr zur Wehrpflicht und deren Eingliederung in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Menschen. Eine solche Pflicht strapaziert die Grenzen dessen, was wir an Solidarität des Einzelnen für die Gesellschaft verlangen können.
Die militärische Bedrohung durch Russland ist nicht zu leugnen. Deshalb sind neue Impulse nötig, um Deutschland in die Lage zu versetzen, sich effektiv zu verteidigen. Dazu gehört die langfristige Einhaltung des 2%-Ziels der NATO, ebenso wie die Besetzung vakanter Posten und die Vergrößerung der Bundeswehr insgesamt. Um mehr Menschen für die Bundeswehr zu gewinnen, ist die „Wiedereinführung” der Wehrpflicht auch durchaus denkbar: 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Durch einfache Gesetzesänderung könnte sie wiederaufgenommen werden. Das stellt ein verfassungsmäßiges und politisch durchaus legitimes Vorgehen dar.
Die Pläne der CDU
Die CDU auf der anderen Seite verwendet die Debatte, um ihr verpflichtendes Gesellschaftsjahr wieder ins Spiel zu bringen. Dieses hat sie bereits vor zwei Jahren in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Im Mai 2024 verband sie es dann mit der Debatte zur Wehrpflicht: „Die Jahrzehnte der Friedensdividende sind vorbei“; „Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen und die Wehrpflicht in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr überführen“ (S. 27). Zu dem verpflichtenden Gesellschaftsjahr würde nach Plänen der Partei neben dem militärischen auch der soziale, sportliche, kulturelle und ökologische Bereich gehören. Es gehe darum, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken (S. 40). Das hat nichts mit dem Ausgangspunkt der militärischen Bedrohung Europas und der BRD zu tun. In welchem Umfang die Tätigkeit vergütet werden soll ist noch unklar. Orientiert sie sich an der bisherigen Vergütung von Freiwilligendienstleistenden, läge sie wohl bei circa 600 Euro im Monat. Zynisch lässt sich also sagen, es geht darum, die bestehenden personellen Engpässe in sozialen Berufen durch billige Arbeitskraft aufzufüllen. Als Partei mit den deutlich stärksten Umfragewerten wird die CDU mit größter Wahrscheinlichkeit an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein. Ihre Pläne sind daher relevant.
Rechtliche Grundlagen für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs
Die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs ist ohne Grundgesetzänderung nicht möglich: Art. 12 II GG normiert das Verbot des Arbeitszwangs. Davon bestehen lediglich zwei relevante Ausnahmen: eine herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht (Art. 12 II GG) und die Wehrpflicht (Art. 12a I GG i.V.m. dem Wehrpflichtgesetz). Wer den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigerte, konnte gemäß Art. 12a II GG i.V.m. Kriegsdienstverweigerungsgesetz und dem Zivildienstgesetz zum Ersatzdienst verpflichtet werden. Dieser Ersatzdienst war auch als Zivildienst bekannt.
Um das verpflichtende Gesellschaftsjahr ohne Grundgesetzänderung einzuführen, müsste es also entweder unter den Wehrdienst beziehungsweise den Ersatzdienst, oder unter eine herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht fallen. Unter die Wehrpflicht fielen die geplanten Tätigkeiten im sozialen, sportlichen, kulturellen und ökologischen Bereich nicht. Unter den Ersatzdienst ließen sie sich auf den ersten Blick dagegen schon subsumieren (s. § 1 Zivildienstgesetz). Sinn und Zweck des Zivildienstes war aber nicht die Beschaffung von billiger Arbeitskraft für den sozialen Bereich. Vielmehr ging es darum, einen Missbrauch der Wehrdienstverweigerung durch das Berufen auf (kaum überprüfbare) Gewissensgründe zu verhindern: wem es lediglich darum ging, sich der Bürgerverpflichtung zu entziehen, sollte abgeschreckt werden (s. BVerfG (B.I.2.c)). Das von der CDU vorgeschlagene verpflichtende Gesellschaftsjahr dient nicht dazu Missbrauch zu verhindern. Es kann nicht unter den Ersatzdienst fallen.
Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr ließe sich durch einfaches Gesetz demnach nur einführen, wenn es unter den Begriff „herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht” fiele. Zu den hier allgemein anerkannten Pflichten gehören nur wenige, ganz bestimmte Tätigkeiten, z.B. die Pflicht zur Deichhilfe und der Feuerwehrdienst (s. Protokoll des Parlamentarischen Rates).
Professor Dr. Gregor Thüsing und Dr. Carsten Linnemann (Generalsekretär der CDU) haben sich dafür ausgesprochen den Begriff der „herkömmlichen Dienstleistungspflicht“ „dynamisch auszulegen“. Ein solches Verständnis überzeugt nicht: Die dynamische Auslegung einer Norm ist der Versuch, den „Konflikt des Auseinanderfallens von Norm und Zeit“ zu lösen. Es geht um „die Anpassung der Norm an den Wandel der Verhältnisse“. Die dynamische Auslegung spielt vor allem im Völkerrecht eine Rolle, wenn die völkerrechtlichen Verträge von Anfang an auf eine dynamische Auslegung abzielen: Laut Bundesverfassungsgericht ist dies vor allem bei den Gründungsverträgen hochpolitischer internationaler Organisationen mit bewusst weitgefassten Aufgabenbestimmungen der Fall (s. Out-of-Area-Beschluss, C.III.3.c). Der deutschen Auslegungslehre ist die dynamische Auslegung dagegen eher fremd: anders als im Völkerrecht gibt es nämlich einen effektiven Gesetzgeber, der schnell auf sich verändernde Umstände zu reagieren vermag. Im vorliegenden Fall verbietet sich die dynamische Auslegung schon von Anfang an: Wenn das Grundgesetz eine „herkömmliche“ Dienstpflicht fordert, kann dieser Begriff nicht dynamisch ausgelegt werden.
Selbst wenn man eine dynamische Auslegung zulassen würde, würde dies nicht dazu führen, dass die Erfordernisse „gleich“ und „allgemein“ wegfallen. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Menschen ist aber wohl kaum eine „allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht“: Eine Pflicht ist allgemein, wenn sie jedem auferlegt wird, der zur Erfüllung der Pflicht in der Lage ist. Die CDU fordert, eine entsprechende Rechtspflicht solle mit Vollendung des 18. Lebensjahrs eintreten. Dabei wird immer nur von jungen Menschen gesprochen, eine „Rückwirkung“ auf ältere Generationen ist nicht vorgesehen. Auch ältere Generationen wären aber (bis zu einem gewissen Punkt) zur Erfüllung der Pflicht in der Lage. Das Vorhaben ist daher nicht allgemein. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Menschen lässt sich demnach nicht als herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht verstehen. Die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs ist demnach ohne Grundgesetzänderung nicht möglich.
Wie viel Solidarität kann das Grundgesetz vom Einzelnen verlangen?
Eine Änderung des Grundgesetzes ist natürlich theoretisch möglich. Es entspricht aber erstens nicht dem sonstigen Gefüge der Verfassung, derart weitreichende Pflichten zu normieren. Hinzukommt zweitens ein „Demokratiedefizit“, wenn es um die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs für junge Menschen geht.
Zu Ersterem: Aus dem Grundgesetz lassen sich eine Vielzahl von Pflichten ableiten. Diese können sich einerseits daraus ergeben, dass der Staat die Grundrechte verschiedener Personen in einen möglichst schonenden Ausgleich bringen muss: So ist die Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder Not (§ 323c I StGB) Ausdruck der Abwägung zwischen der Allgemeinen Handlungsfreiheit des/der Passant*in und der körperlichen Integrität des/der Verunglückten. Pflichten lassen sich andererseits aus Prinzipien des Grundgesetzes ableiten, die für das Funktionieren des Staates unerlässlich sind: Die Pflicht zum Schöffenamt dient der effektiven Rechtspflege, die Steuerpflicht der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Staates insgesamt. Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr passt weder in die eine, noch in die andere Gruppe: die CDU gibt an, es gehe darum, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, „neues Verständnis füreinander zu gewinnen und voneinander zu lernen.“ Es geht also nicht unmittelbar um den Schutz von Grundrechten Dritter. Und auch die Verbindung zu einem tragenden Prinzip des Grundgesetzes liegt nicht auf der Hand: Inwiefern ist die Einführung des verpflichtenden Gesellschaftsjahrs etwa für das Bestehen des Sozialstaats erforderlich? Im Hinblick auf das traditionsreiche Schöffenamt ist das viel einleuchtender: es geht um die wirksame Kontrolle der richterlichen Gewalt durch das Volk. Beim verpflichtenden Gesellschaftsjahr dagegen wird einfach nicht klar genug, wem dadurch wie geholfen werden soll.
Zweitens sei noch auf das große demokratische Defizit einer solchen Änderung hingewiesen: Die Regelung würde nach Plänen der CDU allein diejenigen treffen, die künftig 18 Jahre alt werden. Diese Personengruppe darf aber noch nicht wählen, kann sich dementsprechend kaum an der Meinungsbildung über eine solche Änderung beteiligen. Das sollte uns Wähler*innen anhalten, sehr gewissenhaft zu handeln: Es ist immer leichter über andere zu entscheiden, wenn man selbst sowieso nicht betroffen ist. Umso wichtiger, dass sich alle Wähler*innen für die Rechte derjenigen stark machen, die jetzt noch nicht mitentscheiden dürfen.
Zitiervorschlag: Magnus, Charlotte, Rückkehr zur Wehrpflicht durch verpflichtendes Gesellschaftsjahr? Nein, danke!, JuWissBlog Nr. 48/2024 v. 30.07.2024, https://www.juwiss.de/48-2024/.
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
[…] Die Sollbruchstellen der KDV finden sich entlang der einfachgesetzlichen Ausgestaltung (Art. 4 III 2 GG) von Antragsverfahren und Überprüfung (KDVG) der Gewissensentscheidung des Art. 4 III 1 GG. Spätestens über die dortigen Rechtfertigungslasten wird das Abwehrverhältnis zur Wehrpflicht jedoch verkehrt. So findet die zur Selbsterhaltung des Staates dann doch ganz praktisch „notwendige“ situative Elastizität des Grundrechts im Verteidigungsfall ihr Einfallstor (zu dynamischen Auslegungsversuchen an anderer Stelle s. Magnus). […]