von JOHANNES ROSSI
Mit dem Ruf nach Kriegstüchtigkeit ist die Debatte um den Wehrdienst wieder entflammt. Die Vehemenz des Unverständnisses, das dabei der individuellen Kriegsdienstverweigerung (KDV), immerhin der Ausübung eines Grundrechts, entgegengebracht wird, gibt Anlass, über ihre verfassungsrechtliche Sicherung nachzudenken.
Einleitung
Die Position, persönlich lieber leben als für eine Nation sterben zu wollen, erregt die Gemüter derjenigen, die meinen, dass Deutschland dies seinen Bürgern „wert“ sein müsse. Wieder wird die wirksame Landesverteidigung (Art. 73 I Nr. 1 GG) und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr (Art. 87a I GG) mit der ihnen dienenden staatsbürgerlichen Wehrverpflichtbarkeit (Art. 12a GG) gegen das sie begrenzende KDV-Grundrecht (Art. 4 III GG) für den Verteidigungsfall (Art. 115a GG) in Stellung gebracht (dazu Groh). Inwiefern der Bürger sich etwa hier „nicht zum Untertan macht, sobald er freiwillig einen Staat verteidigt“, mag einen Wehrwillen herleiten und herstellen; für die Verpflichteten kommt es jedoch auf die Grenzen staatlichen Zwangs zur Waffe zu greifen an. Derzeit ist die allgemeine Wehrpflicht noch ausgesetzt. Spätestens im Verteidigungsfall würde diese jedoch automatisch reaktiviert (§ 2 WPflG). Auf die Spitze getrieben fragt sich schon jetzt: Schert sich der Staat noch um die Grundrechte, wenn es an seine Existenz geht? Das Verfassungsstaatsverständnis des Bundesgerichtshofes (BGH) und gewisse Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) irritieren.
(Un-)Wille und Pflicht
Die Grundrechte sollen die Staatsgewalt „binden“ (Art. 1 III GG). Hinsichtlich der Wehrpflicht trifft die Rechtfertigungslast dagegen vor allem seine Bürger: Der Staat zwingt diese ganz allgemein zum Dienst an der Waffe, und bloß ausnahmsweise dürfen sie sich nach Überstehen einer Gewissensprüfung dem entziehen (BVerfGE 48, 127 [LS 6, 7]). Der (Wehr-)Wille ist keine Voraussetzung einer Kriegsdienstpflicht (Art. 12a GG), dagegen ist zu ihrer Verweigerung ein qualifizierter Unwille (als überprüfbare Gewissensentscheidung) notwendig.
Niemand ist daran gehindert, (frei-)willig Kriegsdienst zu leisten, für Werte, aber jedenfalls für Deutschland, zu sterben. Dagegen kommt es bei der Wehrpflicht, also der Zwangsrekrutierung, und im Dienst auf den eigenen positiven Wehrwillen nicht (mehr) an. Es gilt Befehl und Gehorsam, nicht Wille und Entschluss. Der Staat unterscheidet im Zweifel nicht danach, ob oder wie man gerade für ihn kämpfen möchte.
Gleichsam taugt nicht jeder Wille zur KDV. Ihre Voraussetzung ist nämlich ein qualifizierter Unwille: Eine Gewissensentscheidung, die überprüft werden muss, und dessen Beweislast beim Verweigerer liegt (BVerfGE 48, 127; 69, 1 [21 ff.]). Gewissensentscheidungen, das müssen „Gebote unbedingten Sollens“, geleitet von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, oder auch der historisch-politischen Situation, sein, solange ihr Inhalt jedenfalls allgemein und nicht situativ ist (BVerfGE 12, 45 [60]). Der pazifistische Verzicht auf nackte Gewalt kann dabei nur auch den anti-heroischen Pazifismus des nackten Lebens umfassen.
Auch nach bisheriger Rechtsprechung genießt der Kernbereich des KDV-Grundrechtes, der eng mit der Menschenwürde verwandt ist, Vorrang vor der Landesverteidigung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, also der Selbsterhaltung des Staates (BVerfGE 12, 45 [54]; 28, 243 [260]; 48, 127 [163 ff.]; 69, 1 [54 f.]).
Rechtliche Hürden, Judikative Bürden
Die Sollbruchstellen der KDV finden sich entlang der einfachgesetzlichen Ausgestaltung (Art. 4 III 2 GG) von Antragsverfahren und Überprüfung (KDVG) der Gewissensentscheidung des Art. 4 III 1 GG. Spätestens über die dortigen Rechtfertigungslasten wird das Abwehrverhältnis zur Wehrpflicht jedoch verkehrt. So findet die zur Selbsterhaltung des Staates dann doch ganz praktisch „notwendige“ situative Elastizität des Grundrechts im Verteidigungsfall ihr Einfallstor (zu dynamischen Auslegungsversuchen an anderer Stelle s. Magnus).
Der „Verfahrensvorbehalt“ ist nicht bloß deklaratorischer Natur, sofern die KDV von einem Antrag abhängt, der das Gewissen unter den Erkenntnisvorbehalt anderer stellt, und auch abgelehnt werden kann (§ 7 KDVG). Im Dienst der Freiheit (das in dubio pro libertate des Ausnahmezustands!) waren KDV-„Tribunale“ immer möglich, wie solche Verfahren schon im „Kalten“ Krieg und darüber hinaus gezeigt haben.
Die Restriktion der KDV treibt teils seltsame Blüten, wenn etwa die Inkonsequenz erstens den Kriegsdienst nur für sich selbst allgemein ablehnen zu müssen, ihn aber dann zweitens nicht „aus welchen Gründen auch immer“ (!) generell ablehnen zu dürfen, sondern „als notwendige und hinzunehmende Verpflichtung gegenüber der staatlichen Gemeinschaft allgemein“ anerkennen zu müssen, zur Voraussetzung der Konsequenz ersterer Entscheidung machen zu wollen (BVerfGE 48, 127 [169]). Die Verhinderung eines „politischen Missbrauchs“ der KDV ermöglicht ganz nebenbei die verwaltungsmäßige Steuerung des Verweigereraufkommens, nicht zuletzt wenn der latente Generalverdacht gegen die Ernsthaftigkeit der Gewissenserklärung aus fehlenden Zivildienstkapazitäten hergeleitet werden kann (BVerfGE 48, 127 [175 f.]).
Darüber hinaus ist zwar die Auffassung des BGH, dass ein „unabdingbarer Grundsatz der einschränkungslosen Aufrechterhaltung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch im Verteidigungsfall […] sich ihr [der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, Anm. d. Verf.] bereits auf nationaler Ebene nicht entnehmen“ (BGH, Beschl. v. 16.01.2025, Az. 4 ARs 11/24, Rn. 30) ließe, tatsächlich „falsch“; die ersten Stellungen sind jedoch eröffnet, und die Marschrichtung vorgegeben. Wenn der BGH schließt, dass die Überwindung „unüberwindliche[r] Schranke[n]“ (BGH, Rn. 36 m.w.N.) in Deutschland im Rahmen „überragende[r] Treuepflichten in außerordentlicher Lage“ (BVerfGE 12, 45 [57 f.]; ähnlich, aber eigentlich mit genau entgegengesetzter Stoßrichtung BVerfGE 28, 243 [263]) „nicht undenkbar“ (BGH, Rn. 38) oder sogar „angelegt“ ist (BGH, Rn. 50), illustriert das ein Staatsverständnis (in) der Bundesrepublik, dessen Sich-Offenhalten man ernstzunehmen hat.

Unterstellt man mit dem BGH und dessen Bezügen zur BVerfG-Rechtsprechung, dass im Staat wohl eher die Grundrechte elastisch verstanden würden, als dass dieser in der Rigidität ihres Schutzes unterginge, also die souveräne Selbsterhaltung als Voraussetzung aller weiteren Freiheit seine Maxime ist, rechtfertigt das praktisch schon mal die einfachgesetzliche Entkernung von Grundrechten. Der argumentative Schritt, Gewissens- und Staatserhaltung im Angesicht ihrer Bedrohung zu verbinden, ist klein. Diese einfachgesetzliche Dynamisierung der KDV macht dann auch jede Verfassungsänderung entbehrlich.
Verfassungsentscheidungen
Gerade aus der historischen Erfahrung mit Kriegsdienst und Wehrkraftzersetzung heraus wurde die KDV jedoch in die Verfassung aufgenommen. Sicherlich ist die Erfüllung der Wehrpflicht „demokratische Normalität“ (BVerfGE 69, 1 [22]), und doch hat das Grundgesetz gegenüber der staatlichen Ordnung zugunsten der individuellen Gewissensentscheidung entschieden. Unbesehen, ob gerade die staatliche Ordnung verteidigt wird, ist die KDV vielmehr gerade gegen ihren Zwang gerichtet. Das Spannungsverhältnis zwischen Verweigerung und Verteidigung ist durch waffenlose Dienstverpflichtungen aufgelöst (dazu auch BVerfGE 19, 135 [137]), und die Forderungskraft systembezogener Kompetenz-, Ermächtigungs- und Organisationsregeln wie Art. 12a, 73 I Nr. 1, 87a, 115a ff. GG ausgeschöpft.
Wenn die Verfassung dem Staat vorausgehen und ihn binden soll, und die Verfassungsentscheidung getroffen wurde, der individuellen Verweigerung Vorrang zu geben, dann kann der Staat dies auch nicht umgehen, indem er sich als Voraussetzung der Freiheit geriert, sich vor die und damit außerhalb der Verfassung stellt. Für das individuelle Gewissen gegen den Zwang dieses Staates ist es deshalb nicht von Belang, ob unter anderer Herrschaft tatsächlich größerer Zwang – als potentiell im Kriegsdienst zu sterben? – herrschen würde. Eine Bewertung bezieht sich eben auf die Ernsthaftigkeit nicht die Richtigkeit der Gewissensentscheidung (BVerfGE 12, 45 [55 f.]).
(Ab-)Wehrrechte?
Die einfachgesetzliche Ausgestaltung bietet eine weite Angriffsfläche, die Grundrechtsausübung im Verteidigungsfall erheblich zu erschweren. Dieses Ausgehen auf die Selbsterhaltung muss man erwarten. In Deutschland muss aber auch im Verteidigungsfall gelten, dass die Gewissensentscheidung noch dann zu respektieren ist, wenn sie im individuellen Staat-Bürger-Verhältnis zulasten staatlicher Selbsterhaltung mit Waffengewalt getroffen wird – dieser „legalistische Perfektionismus“ ist ein bewahrenswerter Ausfluss deutscher Verfassungsgeschichte, der nicht dazu gedacht ist, im Namen der Grundordnung (durchscheinend im immergleichen Argument der „Gefährdung der staatlichen Gemeinschaft, deren Erhaltung die Berufung auf das Grundrecht erst ermögliche“, so die Bundesregierung in BVerfGE 12, 45 [48]) unterlaufen zu werden. Wie dem Bürger ein situativ-elastisches Gewissen im Rahmen der KDV verwehrt ist, muss auch dem Staat hier ein situativ-elastisches Grundrechtsverständnis versperrt bleiben, sich also gegen die Aushöhlung des KDV erwehrt werden.
Soll dennoch der Ausnahmezustand alle Begrenzungen verschlingen, schlägt eine Staatstheorie durch, die mit dem Grundgesetz überwunden werden sollte. Auf diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung sollte sich bei aller Abwägung im Detail jedoch besonnen werden. Vom Abwehrrecht darf nie nur das Wehrrecht bleiben.
Zitiervorschlag: Rossi, Johannes, Für Deutschland sterben? Zur Kriegsdienstverweigerung im Ernstfall, JuWissBlog Nr. 35/2025 v. 08.04.2025, https://www.juwiss.de/35-2025/
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.