Der Bär und der Gartenfreund: Ein Beitrag zum Verhältnis von parteipolitischem Neutralitätsgebot und staatlicher Verfassungsverteidigung

von ANNIKA JACOBSEN

Die politische Lage ist angespannt. Das spiegelt sich auch in der rechtlichen Debatte wider. Die zunehmende Polarisierung und Radikalisierung sowie Gesellschaftsfähigkeit im Kern populistischer oder gar extremistischer Positionen, rechts wie links im politischen Spektrum, rücken Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Maßnahmen zur Verfassungsverteidigung bereits seit längerem mit besonderer Schärfe ins Blickfeld. Gerichtliche Entscheidungen wie das Urteil des VGH München vom 14.11.2024 zeigen, dass dabei bisweilen – ohne Not – wenn nicht über den rechtlich vorgegebenen Ramen hinaus, so doch an ihm vorbei gehandelt wird. Das hat die Demokratie des Grundgesetzes, die Handlungsräume bietet, nicht nötig. Bestenfalls. Schlimmstenfalls schadet es ihr. Anlässlich der Entscheidung des VGH München sowie der Diskussion um die „551 Fragen“ der CDU/CSU-Fraktion plädiert dieser Beitrag daher – gerade mit Blick auf den Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung – für ein differenziertes Verständnis und eine Versachlichung der Debatte.

In der heute kaum mehr bekannten Fabel „Der Bär und der Gartenfreund“ von Jean de la Fontaine bringt der Zufall einen einsamen Bären und einen nicht weniger einsamen greisen Gartenfreund zusammen, die fortan in liebenswürdiger Freundschaft zusammen leben. Als sich eines Tages eine Fliege wieder und wieder auf des schlafenden Greises Angesichte setzt, wütet der Bär, dem aus seiner Sicht hilflosen Freund zur Hilfe eilend, und schleudert einen Pflasterstein voller Kraft auf die Fliege und des Greises Haupt. Die Fliege ist besiegt, doch es überlebt, ach wunder, auch der Freund nicht. Er hat seinem Freund den berühmten – und in diesem Bild ist die Fabel auch heute noch bekannt – Bärendienst erwiesen.

Was hat dies mit dem hier zu besprechenden Verhältnis von parteipolitischem Neutralitätsgebot und staatlicher Verfassungsverteidigung zu tun? Nun, einiges. Ähnlich dem Bären in der Fabel erweist seinem Freund – hier: der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes – einen Bärendienst, wer etwa im Sinne falsch verstandener „Demokratieförderung“ (vgl. auch hier) verfassungsrechtliche Vorgaben, in bester Absicht gewiss, im Zweifel weniger eng sieht, und dem „Feind“, statt ihn abzuwehren, so letztlich gibt, was er oft will, nämlich die zu verteidigende Verfassungsordnung preis. Werden im Eifer des Gefechts beispielsweise Maßnahmen ohne hinreichende Rechtsgrundlage ergriffen, dadurch rechtswidrig und gerichtlich aufgehoben, erfahren diejenigen Wasser auf ihre Mühlen, deren „Waffe“ der Versuch einer Delegitimierung staatlicher Repräsentanten und Institutionen ist. Dies ist umso bedauerlicher als eben jene freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes ja tatsächlich eine wehrhafte ist und durchaus wirkungsvolle Mittel zu ihrer eigenen Verteidigung bereit hält.

Zur sprachlichen Verfassungsverteidigung durch Hoheitsträger

Im Bereich des hiermit im Besonderen angesprochenen öffentlich-rechtlichen Äußerungsrechts ist vor diesem Hintergrund bereits wiederholt angemahnt worden, die namentlich durch Richtigkeits-, Sachlichkeits- und Neutralitätsgebot gezogenen Grenzen zu beachten, um mit einer gut gemeinten Äußerung nicht letztlich ihr Gegenteil zu bewirken (zu Voraussetzungen und Grenzen der Äußerungen von Hoheitsträgern, siehe im Einzelnen z.B. hier).

Der einer aktuellen (noch nicht rechtskräftigen) Entscheidung des VGH München zugrunde liegende Sachverhalt stellt weiter nun ein, mit Blick auf die rechtliche Lösung des Gerichts sehr interessantes, Beispiel für die zuletzt vermehrt diskutierten Fälle dar, in denen Gerichte mittelbaren staatlichen Maßnahmen zur „Förderung“ der Demokratie Grenzen setzen mussten. Gemeinsam ist ihnen zum einen, dass es – in Abgrenzung zu der im Äußerungsrecht üblichen Vorfrage, ob eine Äußerung in privater oder hoheitlicher Funktion abgegeben wurde – um nicht (unmittelbar) staatliche Äußerungen zivilgesellschaftlicher Akteure geht, deren Handeln einem Hoheitsträger jedoch zugerechnet wird. Zum anderen geht es jeweils um eine Beeinträchtigung des parteipolitischen Neutralitätsgebots des Art. 21 Abs. 1 GG, das Parteien im Interesse eines ungestörten Prozesses der politischen Meinungsbildung vor einer staatlichen Einflussnahme in den politischen Wettbewerb schützt.

Zur Verfassungsverteidigung durch mittelbar-staatliches Handeln

Im konkreten Fall des VGH München etwa musste das Gericht über die Klage eines AfD-Kreisverbands entscheiden, mit der dieser gegen die Mitgliedschaft der Stadt Nürnberg in der „Allianz gegen Rechtsextremismus in der Metropolregion Nürnberg“ (im Folgenden: „Allianz“) vorgegangen war, nachdem sich die Allianz – so die Feststellungen des Gerichts – mehrfach und gezielt nicht nur allgemein gegen Rechtsextremismus, sondern konkret gegen die AfD geäußert hatte. Die Allianz ist ein in der Rechtsform des nicht eingetragenen Vereins organisierter Zusammenschluss, dem neben einer Vielzahl von Kommunen eine noch größere Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen angehört. Die entsprechenden Äußerungen waren nach Auffassung des VGH München von der Meinungsfreiheit der Allianz gedeckt, die auch nicht etwa aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Beherrschung an Art. 21 Abs. 1 GG gebunden war und sich selbst somit ohne Weiteres entsprechend politisch positionieren durfte; anderes gilt jedoch für die Stadt Nürnberg, die sich ihrer Neutralitätspflichten nach den Ausführungen des Gerichts nicht einfach durch die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation entledigen konnte, sondern sich deren Äußerungen – jedenfalls im konkreten Fall – vielmehr zurechnen lassen musste. Der VGH München gestand dem klagenden Kreisverband daher gegen die Stadt einen Unterlassungsanspruch aus Art. 21 Abs. 1 GG zu, der nach Auffassung des Gerichts nur durch einen Austritt aus der Allianz erfüllt werden konnte. Die Stadt Nürnberg hat nach Auskunft der Landesanwaltschaft Bayern bereits Revision eingelegt; sollte die Entscheidung vor dem BVerwG bestand haben, müssen womöglich auch die anderen – im Zeitpunkt der Entscheidung waren es 164 weitere – kommunalen Mitglieder der Allianz austreten.

Ein bekanntes weiteres Bespiel mittelbar staatlichen Handelns ist die staatliche Finanzierung parteinaher Stiftungen oder sonstiger zivilgesellschaftlicher Organisationen. Diese begegnet verfassungsrechtlich grundsätzlich keinen Bedenken. Die Förderpraxis ist jedoch regelmäßig auf eine hinreichend konkrete parlamentsgesetzliche Rechtsgrundlage zu stellen, in der der hierzu legitimierte parlamentarische Gesetzgeber die kollidierenden Verfassungsgüter miteinander in Einklang bringt. Im ersten Beispiel des VGH München dürfte hingegen zunächst klar sein, dass der jeweils handelnde Hoheitsträger unzulässigen Eingriffen in die Parteienfreiheit – deren Vorliegen unterstellt – nicht durch eine „äußerungsrechtliche Flucht ins Privatrecht“ entgehen könnte. Auch stellt sich die Frage, ob es sich bei der von der Allianz angestrebten allgemeinen Extremismusprävention aus Sicht der Stadt Nürnberg noch um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft handelt, oder es nicht vielmehr auch hier einer, über das kommunalpolitische Mandat des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hinausgehenden, Rechtsgrundlage für die Mitgliedschaft bedürfte.

Sodann gilt jedoch, wie schon für unmittelbar staatliche Äußerungen, dass ein Eintreten gegen populistisch, erst recht extremistisch motivierte demokratiefeindliche Bestrebungen unter Wahrung insbesondere des bereits genannten Dreiklangs aus Richtigkeit, Sachlichkeit und Neutralität sowie der Kompetenzordnung möglich ist. Gegebenenfalls erforderliche Rechtsgrundlagen können, im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen, geschaffen werden. Als Beispiel für einen der oben angesprochenen Abwehrmechanismen, die die Verfassung auch außerhalb streng formalisierter Verfahren wie dem des Parteiverbots parat hält, sei weiter auf die vom BVerfG erstmals in seiner sog. Merkel-Entscheidung aufgegriffene Befugnis zur kommunikativen Verfassungsverteidigung verwiesen. Diese erlaubt über die sonst durch das Neutralitätsgebot gezogenen Grenzen hinausgehende Äußerungen zulasten einer Partei, von der Gefährdungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen (dazu z.B. hier und hier).

Jede unnötige – weil durch Beachten der aufgezeigten Grenzen vermeidbare – gerichtliche Kassation einer staatlichen Maßnahme bedeutete hingegen den sprichwörtlichen Bärendienst oder, um im Bild zu bleiben, Pflasterstein, der neben Feind auch Freund trifft.

Zur rechtswissenschaftlichen Debatte

Das Erfordernis eines Einhaltens der verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grenzen staatlichen Handelns ist danach vielmehr auch und gerade dann in Erinnerung zu rufen, wenn es um die Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit deren Mitteln geht. Dem Einhalten der rechtlichen Grenzen notwendig vorgelagert ist dabei deren fortwährendes Ausloten und Konkretisieren durch die, hier vor allem rechtswissenschaftliche, Auseinandersetzung. In den angesichts der politisch aufgeladenen Situation derzeit vor allem in den Sozialen Medien doch sehr aufgeregt geführten Diskussionen – ein jüngeres Beispiel ist diejenige anlässlich der kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur finanziellen Förderung von NGOs durch die Bundesregierung (s. dazu zuletzt hier) – scheint indes nicht selten auf unterschiedlichen Ebenen aneinander vorbei argumentiert zu werden und scheinen zum Teil gegenseitige Unterstellungen eine konstruktive Auseinandersetzung über die ja tatsächlich bestehenden unterschiedlichen rechtlichen Auffassungen zu verhindern; auch jene Auseinandersetzung ist nach dem Vorstehenden jedoch Teil einer effektiven Verfassungsverteidigung und als solche für diese unabdingbar. Die rechtlichen Grenzen zulässigen staatlichen Handelns auszuloten heißt zudem nicht zwingend, sie enger zu ziehen.

Staatliche Verfassungsverteidigung als Gratwanderung

Die Verteidigung der Demokratie in der Demokratie und mit den Mitteln der Demokratie ist ein zweischneidiges Schwert; dass dies so ist, ist wiederum ein alter Hut. Unabhängig von der Verselbstständigung des Zitats aus seinem ursprünglichen Zusammenhang – kaum irgendwo scheint eine Abwandlung des viel bemühten sog. Böckenförde-Diktums den Kern der Sache so zu treffen wie hier: Die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Staat und Verfassung können nur – aber immerhin – den institutionellen Rahmen schaffen, innerhalb dessen eine solche überhaupt denkbar scheint; umso wichtiger also, auf deren Beachtung zu bestehen, und nicht durch falsch verstandene „Freundschaftsdienste“ den Freund selbst aus den Augen zu verlieren. Es ist Wert und Wesen – auch der wehrhaften – Demokratie, dass diese die von ihr gewährleisteten Freiheiten grundsätzlich auch ihren Feinden zugesteht und Abwehrmechanismen an enge Voraussetzungen bindet. Hierin zeigt sich nicht nur deren Stärke, sondern – so sie ihren Feinden damit vielfach erst den Raum gibt, sich selbst als solche zu entlarven – auch ihre Klugheit (zum Verhältnis von politischer Klugheit und Staat, vgl. schon Christian Thomasius; speziell zur Klugheit im Recht etwa hier, S. 13 ff.). Mit Blick auf Maßnahmen wie die kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion mag man, ganz unrechtlich, hinzufügen, dass zur politischen Klugheit auch gehört, unter mehreren – an sich zulässigen – Handlungsweisen die zum jeweiligen Zeitpunkt beste zu wählen. Die Moral, die Joan de la Fontaine an das Ende seiner Fabel stellt, ist übrigens folgende:

„Nichts bringt so viel Gefahr uns als ein dummer Freund;

Weit besser ist ein kluger Feind.“

Zitiervorschlag: Jacobsen, Annika, Der Bär und der Gartenfreund: Ein Beitrag zum Verhältnis von parteipolitischem Neutralitätsgebot und staatlicher Verfassungsverteidigung, JuWissBlog Nr. 36/2025 v. 10.04.2025, https://www.juwiss.de/36-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

Äußerungsrecht, freiheitliche demokratische Grundordnung, Neutralitätsgebot, Parlamentsvorbehalt, Verfassungsverteidigung
Nächster Beitrag
Ombudsman’s Mandate, Judicial Integrity, and the Limits of Constitutional Privilege
Vorheriger Beitrag
Für Deutschland sterben? Zur Kriegsdienstverweigerung im Ernstfall

Ähnliche Beiträge

Füchse, Legehennen, Strafgefangene

Matthias Friehe
von MATTHIAS FRIEHE Vor fünfzig Jahren herrschte Aufbruchsstimmung in der deutschen Strafrechtswissenschaft: Die „Große Strafrechtsreform“ der 1960er- und 1970er-Jahre setzte sich zum Ziel, den Straftäter wieder in die Gesellschaft einzugliedern und zu befähigen, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen (Resozialisierung). Längst ist dieser Elan zur bloßen…
Weiterlesen

AfD gegen Seehofer: Neues Urteil – alte Störgefühle

Keno Christoffer Potthast
von KENO CHIRSTOFFER POTTHAST Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.06.2020 geht die Diskussion um Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern in eine weitere Runde. In einem Interview mit der Deutschen Presse Agentur im September 2018 bezeichnete Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat (BMI), die AfD unter anderem als „staatszersetzend“.…
Weiterlesen
Von NICOLAS HARDING In der Debatte um die von der Berliner Versammlungsbehörde verhängten Untersagungen für die geplanten Corona-Demonstrationen haben sich verschiedene Amtsträger und Politiker in die Diskussion eingebracht (ein guter Überblick findet sich im Tagesspiegel). Die Äußerungen des Berliner Innensenators Andreas Geisel stachen besonders heraus. Der Kopf der Berliner Polizei und…
Weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.