von MATTHIAS FRIEHE
Vor fünfzig Jahren herrschte Aufbruchsstimmung in der deutschen Strafrechtswissenschaft: Die „Große Strafrechtsreform“ der 1960er- und 1970er-Jahre setzte sich zum Ziel, den Straftäter wieder in die Gesellschaft einzugliedern und zu befähigen, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen (Resozialisierung). Längst ist dieser Elan zur bloßen Zeitgeschichte verblasst. Während Rechtsprechung und Lehre inzwischen nahezu jeden Winkel deutscher Amtsstuben grundrechtlich ausgeleuchtet haben, herrscht ausgerechnet dort, wo die Menschen dem Staat am verletzlichsten ausgeliefert sind – im Gefängnis – eine anachronistische grundrechtsdogmatische Finsternis.
Regelungsunterschiede bei Haftbedingungen für Legehennen und Strafgefangenen
Für Legehennen regelt die „Verordnung zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung (Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung – TierSchNutztV)“ – im Volksmund: „Legehennenverordnung“ haarklein, wie viel Platz den gefangenen Hühnern zusteht (§ 13a): Die Grundfläche muss mindestens 2,5 Quadratmeter betragen, jeder Legehenne einzeln mindestens 1 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Die Kantenlänge der Futtertröge darf je Legehenne bei Verwendung von Längströgen 10 Zentimeter und bei Verwendung von Rundtrögen 4 Zentimeter nicht unterschreiten. Außerdem muss für jede Legehenne eine Sitzstange von mindestens 15 Zentimeter Länge zur Verfügung stehen, die wiederum einen Abstand zur Wand von mindestens 20 Zentimetern einhalten muss.
Weniger strukturiert geht es im deutschen Strafvollzugsrecht zu. Denn seit 2006 ist Strafvollzug Ländersache. Welche Haftbedingungen einen Gefangenen erwarten, hängt damit vom Bundesland ab, dessen Gastfreundschaft der Betroffene in Anspruch nimmt. Immerhin gehen alle Länder vom Grundsatz der Einzelunterbringung aus, wofür es freilich zahlreiche Ausnahmen gibt. Der Haftraum darf in „angemessenem Umfang“ mit persönlichen Gegenständen ausgestattet werden. Wie detailliert die Unterbringung im Übrigen geregelt ist, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. In NRW beispielsweise wird der Grundsatz der Einzelunterbringung ergänzt um das ausdrückliche Recht, sich bei Arbeit und Freizeit in Gemeinschaft aufzuhalten (§ 14 Abs. 2 SGV.NRW).
Wer eine Ladung zum Haftantritt erhält, will verständlicherweise genau wissen, wo er landet. „Foto“ und „Größe“ schlägt die Google-Suche automatisch als Ergänzung für „Gefängniszelle“ vor. Sind es fünf oder zehn Quadratmeter? Wie sieht die Toilette aus? Kann ich aus dem Fenster schauen? Das sind existenzielle Fragen für jeden, der vom Staat monate- oder sogar jahrelang eingesperrt wird.
Antworten auf diese Fragen würde man im demokratischen Rechtsstaat zuvörderst im Gesetz erwarten. Doch die Strafvollzugsgesetze schweigen sich aus. In einigen Strafvollzugsgesetzen heißt es vage, Hafträume müssten „hinreichend Luftinhalt“ haben (Art. 170 S. 2 BayStVollzG; § 144 Abs. 1 S. 2 StVollzG-BW; § 101 HmbStVollzG) und „für eine gesunde Lebensführung ausreichend mit Heizung, Lüftung, Boden- und Fensterfläche ausgestattet sein“ (§ 174 Abs. 2 S. 1 NJVollzG; § 128 Abs. 2 S. 2 LStVollzG SH).
Menschenwürdige Unterbringung?
Die einzige konkrete Quadratmetervorgabe findet sich im brandenburgischen Strafvollzugsgesetz: Dort sind 14 Quadratmeter für Doppelzellen vorgeschrieben (§ 108 Abs. 4 BbgJVollzG). Bis auf diese eine Ausnahme ist es bisher allein den Gerichten überlassen geblieben, Mindestanforderungen an Größe und Ausstattung von Hafträumen zu entwickeln. So haben sich die Zivilgerichte in einer Reihe von Amtshaftungsverfahren mit den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung befasst. Anlass waren eine Reihe krasser Menschenrechtsverletzungen. So wurden Gefangene in winzige Zellen ohne räumliche Abtrennung der Toilette gesperrt, sodass die Gefangenen vor Mitgefangenen ihre Notdurft verrichten mussten. In einzelnen Fällen waren die Hafträume mit Schimmel und Ungeziefer befallen.
Nach der – auch von Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gestützten – Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu klären, ob die Unterbringung der Menschenwürde gerecht wird. Die wichtigsten Kriterien sind dabei die Haftraumgröße sowie die Frage, ob die Toilette räumlich abgetrennt ist. Daneben spielt aber auch eine Rolle, wie lange der Gefangene täglich in dem Haftraum verbringt, ob es sich nur um eine vorübergehende Unterbringung handelt, wie der Haftraum belüftet ist und wie viel Tageslicht das Fenster in den Haftraum lässt.
Vereinzelt hat die Rechtsprechung inzwischen klargestellt, dass diese Kriterien auch bei Einzelhafträumen anzuwenden sind. So gab das Bundesverfassungsgericht 2016 in einem Kammerbeschluss der Verfassungsbeschwerde eines Insassen der JVA Butzbach (Hessen) statt. Unter Berufung auf Empfehlungen des Europarats sieht das Gericht eine Haftraumgröße von etwa sechs bis sieben Quadratmetern als unterste Grenze für eine mit der Menschenwürde vereinbare Unterbringung an (Rn. 26).
Parlamentsvorbehalt?
Zunächst mag es beruhigend klingen, dass die Gerichte die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung konkretisiert haben. Tatsächlich offenbart sich hier aber zugleich eine bemerkenswerte grundrechtsdogmatische Anarchie. Denn es gehört zur gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und zum kleinen Einmaleins der Grundrechtslehren, dass der parlamentarische Gesetzgeber alle besonders grundrechtsrelevanten Fragen selbst regeln muss. Die Volksvertretung soll grundrechtsrelevante Abwägungen weder der Regierung überlassen noch auf die Gerichte abschieben. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes hat sich so mehr und mehr hin zu einem Parlamentsvorbehalt entwickelt.
Wie streng dieser Grundsatz in anderen Bereichen gehandhabt wird, zeigt wiederum die Legehennenverordnung. Diese enthielt auch verschiedene Anforderungen an die Haltung von Pelztieren. Diese Beschränkung erklärte das Oberverwaltungsgericht Schleswig im Hinblick auf die Berufsfreiheit von Pelztierfarmbetreibern für unwirksam, weil die Vorgaben nur in einer Rechtsverordnung, nicht aber in einem Parlamentsgesetz erfolgt seien (Rn. 76 ff.). Der Gesetzgeber arbeitete dann 2017 nach und erließ ein formelles Gesetz, das nunmehr für Fuchsgehege mindestens 12 Quadratmeter vorschreibt (Anlage zum Gesetz zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Verbote und Beschränkungen hinsichtlich des Handels mit bestimmten tierischen Erzeugnissen sowie zu Haltungs- und Abgabeverboten in bestimmten Fällen – Tiererzeugnisse-Handels-Verbotsgesetz – , Abschnitt A, Nr. 5 b).
Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts
Sollte die Frage, auf wie viel Quadratmetern der Staat einen Menschen einsperren darf, weniger grundrechtliches Gewicht haben als die Frage, auf wie viel Quadratmetern ein Pelztierfarmer seine Füchse halten darf?
Gerade das Beispiel Strafvollzug verdeutlicht: Der Parlamentsvorbehalt ist alles andere als überflüssiger Formalismus. Zahlreiche Urteile der letzten Jahre zeigen, welche katastrophalen Haftbedingungen in Deutschland – jedenfalls in Einzelfällen – zu beklagen waren. Ursächlich dafür ist ein Sanierungsstau in deutschen Haftanstalten, der wiederum darauf zurückzuführen ist, dass jegliche Geldausgaben „zugunsten“ von Gefangenen ausgesprochen unpopulär erscheinen. Die Parlamente – die auch aus eigenem Antrieb hätten tätig werden können – haben sich hier vor ihrer Verantwortung weggeduckt und die Exekutive „machen lassen“. Die Gerichte retten nur diejenigen, die sich beschweren. Gerichtliche Einzelfallentscheidungen können deshalb im Gegensatz zu konkreten gesetzlichen Vorgaben strukturelle Defizite im Strafvollzug nicht breitenwirksam bekämpfen.
Die Rechtsprechung sollte die Landesparlamente dazu anhalten, die Justizvollzugsgesetze im Hinblick auf die Haftumstände erheblich zu präzisieren. Dies wäre ein wichtiger Anstoß für eine überfällige Wiederbelebung der gesellschaftlichen Debatte darüber, wie unsere Gesellschaft mit Straftätern und Gefangenen umgehen soll. Die Abgeordneten müssten Farbe bekennen, ob ein Mensch weniger Auslauf benötigt als ein Fuchs (12 Quadratmeter). Anregungen für die zu schaffenden gesetzlichen Konkretisierungen kann der Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes liefern, der 1973 – noch im Zuge der eingangs erwähnten Reformbemühungen – von deutschen Strafrechtslehrern (darunter Jürgen Baumann und Claus Roxin) vorgelegt wurde. In Anlehnung an bauliche Empfehlungen für Zimmer im Studentenwohnheim sind dort 10 Quadratmeter als Mindestgröße für einen Haftraum vorgesehen (§ 10 Abs. 3 AE-StVollzG).
Strafgefangenenentscheidung II
Das Bundesverfassungsgericht ist daher berufen, seine berühmte Strafgefangenenentscheidung zu erneuern und klarzustellen: Auch Häftlinge haben Grundrechte. Auch für Häftlinge gilt die ganz normale Grundrechtsdogmatik. Auch für Häftlinge gilt der Parlamentsvorbehalt. Deshalb hat der parlamentarische Gesetzgeber die wesentlichen Umstände der Unterbringung und insbesondere Größe und Ausstattung der Hafträume selbst zu regeln.
Zitiervorschlag: Friehe, “Füchse, Legehennen, Strafgefangene”, JuWissBlog Nr. 100/2018 v. 18.12.2018, https://www.juwiss.de/100-2018/