Mehr Geld für Häftlinge! Warum echte Resozialisierung eine bessere Bezahlung von Gefangenen erfordert

von JOEL SADEK BELLA

Dass Arbeit im Kapitalismus stets Ausbeutung bedeutet, wusste bereits Karl Marx. Dass aber knapp 150 Jahre nach seinem Tod in einem demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland weiterhin Arbeitsentgelte gezahlt werden, die nicht einmal für die Bewältigung des Alltags ausreichen, und das auch noch vom Staat, hätte selbst Marx wohl nicht für möglich gehalten.

Genau das hat nun aber das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urt. v. 20. Juni 2023 – 2 BvR 166/16) für die Vergütung von Häftlingen in Bayern und NRW festgestellt. Nachdem zwei Häftlinge aus den genannten Bundesländern die Höhe ihrer Vergütung (­knapp 2€/Stunde) für die in Haft verpflichtend zu verrichtende Arbeit gerügt hatten, stimmt das höchste Gericht Deutschlands ihnen zu. Dabei stellt es nicht darauf ab, dass die Vergütung keinen hinreichenden Ausgleich für die erbrachte Arbeit darstelle (das sei nämlich nicht Zweck der Vergütung [Rn. 170]), sondern stützt sich vorrangig auf die Tatsache, dass der Lohn bei realistischer Betrachtung nicht zur Erfüllung der bestehenden Pflichten ausreiche (Rn. 210).

Im Grundsatz ist diese Entscheidung zu begrüßen. Denn entgegen lauter werdender Stimme in der Öffentlichkeit ist es von Verfassungs wegen unstreitig und daher kaum erwähnenswert, dass auch Häftlinge, unabhängig von der Schwere ihrer Straftat, von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) erfasst sind und damit nicht zu (Arbeits-)Objekten staatlichen Handelns degradiert werden dürfen (vgl. Rn. 174; Sondervotum Kruis, BVerfGE 98, 169 [217]).

Dennoch muss bedauert werden, dass das BVerfG seiner jüngsten Rechtsprechung folgend abermals einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Bemessung einer adäquaten Vergütung be- und somit eine eigene Konkretisierung unterlässt.

Ziel dieses Beitrages soll es sein, anhand der vom BVerfG benannten Kriterien zur Bestimmung der Höhe einer Vergütung, eine solche Konkretisierung vorzunehmen Schließlich wird auch der Gesetzgeber sich die Frage stellen müssen, auf welcher Grundlage die bis 2025 geforderte Gesetzesänderung vollzogen werden soll.

Resozialisierungsgebot – keine unmittelbare Pflicht zur finanziellen Vergütung

Grundlage dafür, dass Häftlingen überhaupt eine Gegenleistung für erbrachte Arbeit zusteht, ist das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG. Dabei folge aus der Verfassung jedoch nicht, dass es sich zwingend um eine monetäre Vergütung handeln muss (Rn.170). Vielmehr verpflichte das Resozialisierungsgebot den Gesetzgeber primär, „ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen“ (BVerfGE 98, 169 [201]). Die Verpflichtung zur Arbeit könne aber nur dann wirksamer Bestandteil dieses Konzept sein, wenn die Häftlinge eine Anerkennung erhalten, die geeignet ist, ihnen den Wert von Arbeit für ihr künftiges Leben zu verdeutlichen (Rn. 170). Besonders geeignet ist dafür aus Sicht des BVerfG die finanzielle Entlohnung der arbeitenden Häftlinge (Rn. 171; BVerfGE 98, 169 [202]). Weil Anerkennung nach Meinung der (gutbezahlten) Richter des BVerfG allerdings kein „monetäres Konzept“ (Rn.171) ist, könnten auch andere Gegenleistungen wie etwa die Einbindung in das Sozialversicherungssystem eine ausreichende Anerkennung ausdrücken. Ein Anspruch des Häftlings auf eine finanzielle Vergütung entstehe dabei erst, wenn ihm gleichzeitig monetäre Pflichten auferlegt werden (Rn. 208ff., insb. 210)

Kriterien zur Bestimmung der Höhe der Vergütung

Die Höhe der finanziellen Vergütung muss dabei so bemessen sein, dass sie ausreicht, um die im Resozialisierungskonzept vorgesehenen Verpflichtungen und Zwecke zu erfüllen (Rn. 225).

Verpflichtungen der Häftlinge (am Beispiel NRWs)

Zunächst gilt es daher, sich die (finanziellen) Verpflichtungen der Häftlinge während ihrer Haftzeit genauer anzusehen. Die wohl plakativste und am ehesten bekannte ist der in § 39 I StVollzG NRW normierte Haftkostenbeitrag, der von den Gefangenen zur Abgeltung der durch die Vollstreckung entstanden Kosten erbracht werden muss. Daneben können den Gefangenen die Kosten für administrative Vorgänge auferlegt werden. Dazu zählen neben den Kosten für die Vernichtung unerlaubt eingebrachter Gegenstände (§ 15 Abs. 3 StVollzG NRW) auch die Aufwendungen zum Zwecke der Überlassung, Überprüfung und des Betriebs von Hörfunk- und Fernsehgeräten (§ 51 Abs. 3). Nichts anderes gilt für Leistungen, die primär im Interesse der Gefangenen liegen, wie etwa der Schrift- und Paketverkehr sowie die Telekommunikation (§ 18 Abs. 3). Zuletzt können Gefangene sowohl an den Kosten für Suchtmitteltest (§ 65 Abs. 3) als auch – mangels Krankenversicherung – an denjenigen für notwendige Gesundheitsuntersuchungen beteiligt werden (§ 45 Abs. 3). Nur eine Vergütung, die ausreicht, um diese Kosten zu decken, kann überhaupt verfassungskonform sein.

Zwecke der Vergütung

Um die Höhe einer angemessenen Vergütung noch genauer zu bestimmen, muss zusätzlich auf die Zwecke der Vergütung geschaut werden. Nach Ansicht des BVerfG können diese dem StVollzG NRW nicht nachvollziehbar entnommen werden, was ein Grund für die Verfassungswidrigkeit der Vergütung ist (Rn. 219) und dafür, dass das Gericht die nachfolgenden Überlegungen nicht anstellen musste. Allerdings lassen sich aus dem Resozialisierungsgebot jedenfalls diejenigen Zwecke ableiten, die der Gesetzgeber vorsehen muss und darf.

Demnach geht es bei der Haft darum, dem Täter eine Perspektive auf ein geordnetes Leben nach der Haft zu eröffnen. Soweit dazu auch gehört, das Risiko erneuter Straffälligkeit zu verringern, verbietet das Resozialisierungsgebot eine Bezahlung, die unterhalb der Armutsgrenze liegt. Denn die Sozialforschung ist nicht erst in den letzten Jahren unzweideutig zu dem Ergebnis gelangt, dass Armut und prekäre Lebenssituationen Kriminalisierung begünstigen (vgl. nur Neubacher/Bögelein, MschrKrim 2021, 107 [108ff]. Zahlt der Staat Häftlingen – wie momentan ­– keinen armutsfesten Lohn, perpetuiert er die prekären Verhältnisse, die Kriminalität erneut fördern. Oder deutlicher: Der Staat sperrt Straftäter ein, um erneute Straffälligkeit zu vermeiden, aber verpflichtet sie dort, unter Bedingungen zu arbeiten, die erneute Straffälligkeit begünstigen. Solch ein evident gegen die eigenen Ziele gerichtetes Handeln darf durchaus als ineffizient, wenn nicht gar widersprüchlich bezeichnet werden. Verhindert der Staat nicht auf andere Weise Armut unter Gefangenen, kann der Zweck der Vergütung nach hier vertretener Auffassung also nur dann hinreichend erfüllt werden, wenn eine Vergütung oberhalb der Armutsgrenze gezahlt wird. Konkret gilt es also die Bezahlung auf 60% des mittleren Einkommens anzuheben.

Zu den Zwecken der Vergütung zählt ferner, den Stellenwert von Arbeit und gewissenhafter Pflichterfüllung zu verdeutlichen, was wiederum nur sinnvoll geschehen kann, wenn der Häftling für die geleistete Arbeit eine als angemessen empfundene Gegenleistung erhält. Was im Einzelfall als angemessen angesehen wird und ausreicht, um dem Häftling den Sinn von Arbeit vor Augen zu führen, kann sich stark unterscheiden. Jedenfalls wird man sagen können, dass Lohn für Arbeit, also dasjenige, was der Einzelne im Regelfall zur Sicherung seines Lebensunterhaltes tut, dann nicht als angemessen empfunden wird, wenn es nicht ausreicht, um die bestehenden Verpflichtungen zu erfüllen. Damit sind nicht lediglich die oben angesprochenen, dem Haftverhältnis immanenten Verpflichtungen gemeint, sondern auch und vor allem die abseits dessen bestehenden, zur Führung eines straffreien Lebens gehörenden Pflichten, wie etwa Unterhaltszahlungen an Kinder und Partner „draußen“ (Schwartzer, NZA, 2022, 963 [966]). Dass die Erfüllung von Unterhaltspflichten auch aus dem Gefängnis heraus im Sinne der Resozialisierung wünschenswert ist, belegt § 4 Abs. 2 StVollzG NRW, wonach die Gefangenen sogar dazu angehalten werden sollen. Eine genauere Konkretisierung des Lohnes anhand dieses Zweckes verbietet sich aufgrund der Unterschiedlichkeit der bestehenden Pflichten. Allerdings dürfte es dem Gesetzgeber erlaubt sein, insoweit Gebrauch von seinem Einschätzungsspielraum zu machen und davon auszugehen, dass eine Bezahlung oberhalb der Armutsgrenze (die sowieso notwendig ist), im Regelfall ausreicht, um bestehende Pflichten zu erfüllen, sodass eine darüberhinausgehende Erhöhung nicht zu begründen sein wird.

Fazit

20 Jahre nach der letzten Entscheidung zur Gefangenenvergütung hat das BVerfG endlich die niedrige Vergütung von Gefangenen in Deutschland für verfassungswidrig erklärt. Damit ist eine große Ungerechtigkeit zumindest einmal benannt worden. Ob und wie schnell sie von den Ländern beendet wird, bleibt abzuwarten. Da das BVerfG das Resozialisierungskonzept Bayerns und NRWs insgesamt als widersprüchlich gerügt hat (Rn. 206/219), ist damit zu rechnen, dass beide Bundesländer dieses grundlegend überarbeiten und nicht lediglich die Höhe der Vergütung an das bestehende Konzept anpassen werden. Schwer vorstellbar, aber noch mit dem BVerfG-Urteil vereinbar und daher der Vollständigkeit halber zu erwähnen, ist die Möglichkeit, überhaupt keine Vergütung zu zahlen, sofern gleichzeitig alle finanziellen Pflichten erlassen und der Armut auf andere Weise vorgebeugt würde.

Weil dieser Fall allerdings nicht besonders wahrscheinlich ist, kann dem Gesetzgeber nur zu einer signifikanten Erhöhung der aktuellen Vergütung geraten werden. Insbesondere der belegte Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität sollte dem Gesetzgeber deutlich machen, dass sich eine zu geringe Bezahlung am Ende nicht rechnet.

 

Zitiervorschlag: Bella, Joel Sadek, Mehr Geld für Häftlinge! Warum echte Resozialisierung eine bessere Bezahlung von Gefangenen erfordert, JuWissBlog Nr. 38/2023 v. 29.06.2023, https://www.juwiss.de/38-2023/

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Arbeit, BVerfG, Joel Sadek Bella, Resozialisierung, Strafgefangene, Vergütung
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