Von TIMO SCHWANDER
Im April 2018 zog die AfD-Bundestagsfraktion mit markigen Worten nach Karlsruhe. Von einer Klage, die die Welt verändern werde, war die Rede. Der Antrag im Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung richtete sich im Wesentlichen auf die Feststellung, dass die Antragsgegnerin durch ihre Flüchtlingspolitik, namentlich die Unterlassung von Zurückweisungen an der Grenze, fortwährend die Verfassung verletze. Nun hat der Zweite Senat den Antrag als unzulässig verworfen: Die Antragstellerin wende sich nicht gegen die Verletzung ihrer durch die Verfassung garantierten Rechte und tue dies letztlich auch nicht prozessstandschaftlich für den Bundestag. Vielmehr versuche sie im Wege des Organstreits, die Beachtung objektiven Rechts gegenüber der Bundesregierung zu erzwingen, und schwinge sich damit zu einer Art Rechtsaufsicht auf. Der Organstreit diene aber der Durchsetzung subjektiver Rechte.
„Herrschaft des Unrechts?“
Im Folgenden soll es weder um die verfassungsprozessuale Richtigkeit dieser Begründung gehen, noch um die verfassungsrechtliche Einordnung der (Nicht-)Zurückweisung an der Grenze. Zu Letzterem haben viele an vielen Stellen vieles gesagt, und was Ersteres angeht: Der Entscheidung ist ein Platz in den künftigen Kommentierungen zu § 64 Abs. 1 BVerfGG wohl sicher. Hier soll aber zu einer anderen Frage Stellung bezogen werden: Schon kurz nach der Entscheidung machte sich vielerorts ein Unbehagen darüber breit, dass das Bundesverfassungsgericht zur hinter dem Antrag liegenden Frage, ob das Grundgesetz eine andere Flüchtlingspolitik gebiete, nichts gesagt hat. Mit dem Hinweis, der Organstreit diene nicht der Durchsetzung objektiven Rechts, bleibe das Seehofer-Diktum der „Herrschaft des Unrechts“ unwidersprochen und die AfD könne die Verfassung weiterhin auf ihrer Seite wähnen. Wäre es da nicht besser gewesen, man hätte bei der Zulässigkeit einmal fünfe gerade sein gelassen oder sich zumindest im Wege eines Obiter Dictum, also über das Entscheidungserhebliche hinaus, zur Begründetheit geäußert?
Zulässigkeit als flexibler Standard
Kaum jemand wird bestreiten, dass das Bundesverfassungsgericht die Hürde der Zulässigkeit geschickt handhabt und die Voraussetzungen mal strenger und mal laxer auslegt, um sich Entscheidungen entweder vom Hals zu halten oder aber sie an sich zu ziehen. Paradigmatisch dafür ist – neben der Entscheidung oder Nichtentscheidung von Verfassungsbeschwerden verstorbener Beschwerdeführer – der Umgang mit den Begründungserfordernissen des § 92 BVerfGG. Und in der Tat fällt auf, dass die offensichtliche Unzulässigkeit das Gericht in einer anderen Entscheidung nicht davon abgehalten hat, zu Sachfragen, die selbst über die Begründetheit des Antrags weit hinausgingen, ausführlich Stellung zu nehmen. Die Rede ist von einem Nichtannahmebeschluss der Zweiten Kammer – immerhin auch des Zweiten Senats – aus dem letzten Jahr zu einer Verfassungsbeschwerde, mit der der Beschwerdeführer sich gegen „das Unterlassen der Bundesregierung, die Rede des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim am 18. Februar 2017 in Oberhausen wegen Propaganda für eine nach unserer Verfassung demokratiefeindliche Staatsform zu verbieten und gegen weitere Auftritte türkischer Regierungsmitglieder in diesem Zusammenhang einzuschreiten“ wandte. Die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist dermaßen deutlich, dass eigentlich eine begründungslose Nichtannahme zu erwarten gewesen wäre – dieses Schicksal ereilt immerhin 86 % der beim Zweiten Senat anhängigen Beschwerden. Stattdessen nahm die Kammer knapp dazu Stellung, dass Auftritte ausländischer Regierungsmitglieder im Inland grundrechtlich nicht geschützt seien – und das, obwohl es auf diese Frage selbst im Rahmen der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde nicht ankam, da schon kein Schutzbereich eines Grundrechts des Beschwerdeführers eröffnet war.
Sehnsucht nach Autorität
Einmal abgesehen vom wesentlich größeren Umfang, den eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zur Flüchtlingspolitik haben müsste: Wäre das nicht die Blaupause? Seinerzeit hat das Bundesverfassungsgericht in eine erbitterte politische Debatte um Auftritte türkischer Regierungsmitglieder eingegriffen, während es diesmal von einer Intervention in einem Richtungsstreit absieht, der wohl seinesgleichen sucht. Doch schon die Frage ist falsch gestellt. Das damalige Obiter Dictum war ein Fehler, und nun erneut so vorzugehen, wäre ein noch größerer gewesen. Die Kritiker der Entscheidung verkennen, dass es weder Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, abstrakte Rechtsgutachten zu verfassen – diese Aufgabe wurde ihm 1956 genommen –, noch in politischer Intention in gesellschaftliche Debatten einzugreifen. Obiter Dicta haben mancherorts ihre Berechtigung, sind aber kein Instrument, um die Zulässigkeitsvoraussetzungen auszuhebeln, zumal diese dann ad absurdum geführt würden: Ziel des Organstreits ist primär eine Feststellung, sodass eine Entscheidung im Wege eines Obiter Dictum einer „normalen“ Entscheidung im Ergebnis fast gleichkommt: Festgestellt ist das Ergebnis in beiden Fällen, wenn auch in einem Fall ohne Auswirkungen auf den (aber ohnehin nicht vollstreckbaren) Tenor.
Der Wunsch nach einem klärenden Wort von der Richterbank mag verständlich sein, offenbart aber letztlich eine Autoritätssehnsucht, der der demokratische Verfassungsstaat mit guten Gründen nicht nachkommt. Noch dazu: Glaubt denn jemand ernsthaft, die erbitterte Debatte um die „Grenzöffnung“ würde mit einer solchen Entscheidung ein Ende finden – frei nach dem Motto „Karlsruhe locuta, causa finita“? Wahrscheinlicher ist, dass die AfD nunmehr nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern auch das Bundesverfassungsgericht des Verfassungsbruches zeihen würde – gegenüber der jetzigen Situation wäre damit auch nichts gewonnen. Besser, es bleibt dabei: Gerichte entscheiden Rechtsstreitigkeiten, während über die Auslegung der Verfassung im Übrigen Peter Häberles „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ wacht. Diese Gesellschaft kennt kein Machtwort – das nervt manchmal, ist aber letztlich gut so.
Zitiervorschlag: Schwander, Die Sehnsucht nach gerichtlicher Autorität – und warum Karlsruhe dennoch schweigt, JuWissBlog Nr. 101/2018 v. 19.12.2018, https://www.juwiss.de/101-2018/
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