von TIMO SCHWANDER
Gleich zwei Karlsruher Gerichte haben sich in den vergangenen Wochen mit Detailfragen des Untersuchungsausschussrechts beschäftigt. Am 13. Oktober entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages keinen gegen die Bundesregierung gerichteten Anspruch auf Aushändigung der sogenannten Selektorenlisten hat. Vier Wochen später wiederum, am 11. November, entschied die Ermittlungsrichterin am Bundesgerichtshof, dass besagter Ausschuss auf Verlangen der Oppositionsmitglieder beschließen muss, die Bundesregierung zu ersuchen, die Voraussetzungen für eine Vorladung Edward Snowdens zu schaffen. Beide Entscheidungen haben bereits zu einem kontroversen Echo geführt (siehe hier, hier und hier). Ein Detail jedoch verdient weitere Aufmerksamkeit: Unter einem Viertel des Untersuchungsausschusses scheinen die beiden Gerichte etwas Unterschiedliches zu verstehen.
Das BVerfG und die NSA-Selektoren: Welches Viertel?
Die Opposition im Deutschen Bundestag stellt derzeit deutlich weniger als ein Viertel der Abgeordneten. Gemäß Art. 44 Abs. 1 GG kommt aber nur einer Viertelminderheit des Bundestages ein Recht auf Einsetzung einer Minderheitsenquête zu. Um dieses „schärfste Schwert der Opposition“ weiterhin aus der Scheide ziehen zu können, wurde § 126a Abs. 1 Nr. 1 in die Geschäftsordnung des Bundestags (GO BT) aufgenommen. Diese Norm verpflichtet den Bundestag, auch auf Antrag von nur 120 Mitgliedern einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Ferner bewirkt die Norm in Abkehr von der üblichen Spiegelbildlichkeit der Ausschüsse, dass die Opposition in einem Untersuchungsausschuss ein Viertel der Mitglieder stellt, obwohl ihr zahlenmäßig nur ein geringerer Anteil zustünde.
18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG gibt der Viertelminderheit eines Untersuchungsausschusses die Möglichkeit, gegen die Ablehnung der Bundesregierung bzw. eines Bundesministers, dem Ausschuss Beweismittel vorzulegen, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Es handelt sich dabei um eine Prozessstandschaft, da die Minderheit letztlich Rechte des Ausschusses bzw. des Bundestages selbst geltend macht.
Von dieser Prozessstandschaft wollte die Opposition nun Gebrauch machen: Eine der Antragstellerinnen im Selektoren-Verfahren vor dem BVerfG war die oppositionelle Viertelminderheit des Ausschusses – eine Viertelminderheit, hinter der aufgrund von § 126a Abs. 1 Nr. 1 S. 2 GO BT aber weniger als ein Viertel der Abgeordneten des gesamten Bundestages stehen. Aus diesem Grund verneinte das Bundesverfassungsgericht die Antragsbefugnis: Auf § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG könne sich nur eine Viertelminderheit im Untersuchungsausschuss stützen, die auch eine Viertelminderheit im Bundestag repräsentiere. Das PUAG sei ein „im Kern verfassungsinterpretatorisches und damit deklaratorisches Gesetz“ und könne daher nicht mehr Rechte gewähren, als dies das Grundgesetz selbst tue. Art. 44 Abs. 1 GG aber gewähre die Rechte der Minderheitenenquête eben nur einer Viertelminderheit im Plenum. Auch der Gesetzgeber habe die Viertelminderheit im Ausschuss in ihrer Rechtsstellung nicht von der sie gleichsam legitimierenden Viertelminderheit im gesamten Bundestag entkoppeln wollen.
„Gerettet“ wurde die Zulässigkeit des Antrags durch die anderen Antragsteller: Auch die beiden Oppositionsfraktionen waren am Verfahren beteiligt und konnten ihrerseits unabhängig von Viertelquoren und unabhängig von § 18 PUAG prozessstandschaftlich Rechte des Bundestages geltend machen, weshalb ungeachtet der fehlenden Antragsbefugnis der Viertelminderheit noch andere Antragsteller übrigblieben.
Der BGH und Edward Snowden: Viertel ist Viertel
Ein ähnliches Instrument bietet § 17 Abs. 4 PUAG: Eine Viertelminderheit im Untersuchungsausschuss hat demnach die Möglichkeit, gegen die Ablehnung eines Beweisantrags durch den Ausschuss vor den Ermittlungsrichter beim BGH zu ziehen. Von diesem Recht wiederum machten die Antragsteller im erwähnten Snowden-Verfahren Gebrauch, und auch bei ihnen handelte es sich um eine Ausschuss-Viertelminderheit, die keine Viertelminderheit im Plenum repräsentiert. Die Konsequenz scheint, nun vorgezeichnet zu sein. Doch der Bundesgerichtshof stellte schlicht fest, auf die Regelung des § 17 Abs. 4 PUAG könne sich jede Viertelminderheit im Ausschuss stützen, ungeachtet der Mehrheitsverhältnisse im Plenum.
Besteht hier ein Widerspruch zwischen den beiden Karlsruher Gerichten? Ihre Argumentation, der Gesetzgeber sei im Rahmen von § 17 Abs. 4 PUAG über die Anforderungen des Art. 44 Abs. 1 GG hinausgegangen, untermauert die Ermittlungsrichterin damit, eben aus diesem Grund führe der Rechtsweg zum Bundesgerichtshof und sei mangels verfassungsrechtlichem Unterbau nicht vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzbar. § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG gewähre einen verfassungsrechtlichen Rechtsbehelf und könne daher – so argumentiert in der Tat auch das Bundesverfassungsgericht im Selektoren-Beschluss – einen über das Grundgesetz hinausgehenden Rechtsstandard nicht absichern. § 17 Abs. 4 PUAG hingegen ermögliche einen fachgerichtlichen Rechtsbehelf, der ohne weiteres mehr gewähren könne, als das Grundgesetz selbst es tut.
Konsequent oder widersprüchlich?
Also doch kein Widerspruch? Dies wäre voreilig, denn ob diese Unterscheidung wirklich tragfähig ist, lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Zugegeben sei, dass das in § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG vorgesehene Verfahren – jedenfalls in der durch die Ausschussmehrheit initiierten Konstellation – als gewöhnlicher Organstreit gesehen wird, der in dieser Ausprägung auch schon vor Inkrafttreten des PUAG anerkannt war. Für einen solchen bedarf es einer behaupteten Verletzung eines im Grundgesetz, nicht nur einfachgesetzlich, geschaffenen Rechts (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Kann aber § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG nicht auch ohne „für den Verfassungsorganstreit erforderliche Verfassungsqualität“ ein vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzbares, aber eben einfachgesetzliches Recht geschaffen haben? Das Grundgesetz determiniert die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht abschließend, sondern ermöglicht grundsätzlich in Art. 93 Abs. 3 GG die Eröffnung weiterer Rechtsbehelfe durch einfaches Bundesgesetz. In der Form des Minderheitenantrags könnte § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG davon Gebrauch gemacht haben.
Allerdings wird gefordert, diese weiteren Verfahren müssten im Kern verfassungsrechtlicher Natur sein. Ein solches Verständnis ist aber keineswegs zwingend. Auch in anderen, vom Grundgesetz selbst statuierten Verfahren wendet das Bundesverfassungsgericht Prüfungsmaßstäbe des einfachen Rechts an, so etwa bei der konkreten Normenkontrolle in der Spielart des Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG oder im Rahmen der Präsidentenanklage nach Art. 61 Abs. 1 GG.
Skurrile Konsequenzen
Auch wirft diese Differenzierung zwischen verfassungsprozessualer und gewöhnlicher Viertelminderheit Folgeprobleme auf: Wie sieht es denn etwa mit dem Antrag nach § 18 Abs. 3 Hs. 2 PUAG aus, der es einer Viertelminderheit ermöglicht, gegen die Einstufung von Akten den Rechtsweg zum Ermittlungsrichter am BGH zu beschreiten? Da die Norm den Rechtsweg zum Bundesgerichtshof eröffnet, liegt hier wieder ein weites Verständnis, nach welchem jede Viertelminderheit im Ausschuss genügt, nahe. Dann aber würde das Wort „Viertel“ in ein und demselben Satz zwei verschiedene Quoren bezeichnen. Dieselbe Frage stellt sich im Hinblick auf § 18 Abs. 4 S. 2 PUAG, der bei abgelehnter Amtshilfe ebenfalls diesen Rechtsweg eröffnet. Kann also eine „Nur-Ausschuss-Viertelminderheit“ nicht gegen die Bundesregierung prozessieren (§ 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG!), wohl aber gegen eine Landesbehörde (§ 18 Abs. 4 S. 1 PUAG!)? Kann sie gegen die Einstufung einer Akte als Verschlusssache vorgehen (§ 18 Abs. 3 Hs. 2 PUAG!), nicht aber gegen die schlichte Weigerung, die Akte herauszugeben (wieder § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG!)? Kohärenz sieht anders aus.
Eine „unechte Viertelminderheit“ hätte somit die Möglichkeit, einen Beweisantrag, der sich an die Bundesregierung richtet, im Ausschuss zu erzwingen, könnte aber gegen die Weigerung der Adressatin dieses Antrags, ihm nachzukommen, nichts unternehmen, da diese in den Bereich des § 18 PUAG fällt. Dass zugleich die Fraktionen prozessstandschaftlich zur Hilfe eilen können, nimmt diesem Problem zwar einen Teil der ihm inhärenten Gefahr, stößt § 18 Abs. 3 Hs. 1 PUAG jedoch in die Bedeutungslosigkeit.
Ein sinnvollerer Ansatz
Ein kohärenteres Verständnis der Viertelminderheit sollte bei der Erkenntnis ansetzen, dass der Gesetzgeber ohne weiteres über Art. 44 GG hinausgehende Minderheitenrechte schaffen und zu deren Durchsetzung auch den Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht eröffnen kann. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er dies in § 18 Abs. 3 PUAG nicht tat – im Gegenteil liegt die im Karlsruher Duett entstehende gespaltene Auslegung des Viertels eher fern. Wie das Bundesverfassungsgericht selbst zugibt, handelt es sich beim Antragsrecht der Viertelminderheit um ein „einfachrechtliches Antragsrecht, das sich aus einem einfachrechtlichen Rechtsverhältnis ergibt.“ Es wäre daher nur konsequent, auch vor dem BVerfG die Rechte der Viertelminderheit nicht von einer dahinterstehenden Minderheit des Bundestages abhängig zu machen.
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Nachtrag: Der BGH hat auf die Beschwerde des Antragsgegners hin den Beschluss der Ermittlungsrichterin aufgehoben (Beschl. v. 23.02.17, Az 3 ARs 20/17). Er ist ebenfalls der Meinung, dass das „Viertel“ in beiden Fällen gleich auszulegen ist – schließt sich daher aber der BVerfG-Interpretation an und verlangt ebenfalls eine „doppelte“ Viertelminderheit: „Es entspricht dem aus der Entstehungsgeschichte des Untersuchungsausschussgesetzes ersichtlichen Willen des Gesetzgebers und dem von diesem verfolgten Zweck, die (qualifizierten) Minderheitenrechte nur nach Maßgabe des Art.
44 Abs. 1 Satz 1 GG einzuräumen, der als entsprechendes Quorum auf ein Viertel der Mitglieder des Bundestages abstellt“ (aaO, Rn. 21).