von MELINA LEHRIAN
Gestern, am 15.12.16, verkündete die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ihr Urteil im Fall „Khlaifia and Others v. Italy“. Das Urteil folgt einer entsprechenden Entscheidung der Kleinen Kammer vom September letzten Jahres, dem sogenannten „Lampedusa-Urteil“. In diesem bescheinigte der Gerichtshof Italien zum einen etliche Menschenrechtsverletzungen durch ihren Umgang mit Geflüchteten auf Lampedusa. Zum anderen betonte er die Krisenfestigkeit der Menschenrechte auch in Zeiten, in denen ein Land aufgrund der hohen Zahl neu ankommender Geflüchteter überlastet ist.
Was bisher geschah: Die Fakten des Falles
Den Urteilen liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Drei tunesische Staatsangehörige hatten im September 2011 im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ihr Heimatland auf dem Seeweg verlassen und waren so zur italienischen Küste gelangt. Von der Küstenwache abgefangen, wurden sie auf der Insel Lampedusa in einer überfüllten Erstaufnahmelager untergebracht, ohne Kontakt zur Außenwelt und unter ständiger polizeilicher Überwachung. Einige Tage später brachen Unruhen in der Unterkunft aus, infolgedessen diese fast vollständig ausbrannte. Die Kläger wurden zu einer Sportanlage auf Lampedusa verbracht, von wo es ihnen jedoch gelang, zu fliehen. Gemeinsam mit ca. 1800 weiteren Geflüchteten nahmen sie an einer Demonstration gegen die Zustände auf der Insel teil. Die italienische Polizei löste diese schließlich auf und flog die Kläger zwei Tage später nach Palermo. Dort wurden sie auf im Hafen liegenden Schiffen untergebracht. Ihren Angaben zufolge, mussten sie im Loungebereich auf dem Boden schlafen und etliche Stunden auf Zugang zu Sanitäranlagen warten. Sie sollen von den Sicherheitskräften beleidigt und wiederum keinerlei Informationen zu ihrem Aufenthaltsstatus oder den Gründen ihres Freiheitsentzuges erhalten haben. Nach mehreren Tagen wurden sie dem tunesischen Konsulat zur Identifikation vorgeführt und im Folgenden unter den erleichterten Voraussetzungen des italienisch-tunesischen Abkommens von 2011 zurück in ihr Heimatland geflogen.
Erste Runde „Khlaifia and Others v. Italien“
Die Kläger Khlaifia, Tabal und Sfar legten allerdings im März 2012 Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. In dem sogenannten „Lampedusa-Urteil“ vom 01.09.2015 befanden die Richterinnen und Richter Italien diverser Menschenrechtsverletzungen schuldig. Die Unterbringung der Kläger in geschlossenen Einrichtungen ohne Kontakt nach außen und ohne Informationen und effektiven Rechtsschutz verletze sie in ihrem Recht auf Freiheit (Art. 5 Abs. 1, 2 und 4 EMRK). Zumindest die Unterbringung im Aufnahmezentrum auf Lampedusa verstoße zudem gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK). Der Gerichtshof betonte an dieser Stelle insbesondere, dass das Recht auf menschenwürdige Behandlung absolut gelte und etwaige Verstöße nicht etwa damit gerechtfertigt werden könnten, dass Italien auf die hohe Anzahl neu ankommender Geflüchteter nicht vorbereitet gewesen sei. Krisen- oder Notstandsargumente könnten insbesondere in Hinblick auf Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht überzeugen. Die Richterinnen und Richter gingen zudem davon aus, dass es sich bei der Abschiebung der Kläger um eine unzulässige Kollektivausweisung handelte (Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 4). So waren die den Klägern ausgestellten Einreiseverweigerungen fast wortgleich und enthielten keinerlei Referenz zu ihrer persönlichen Situation. Im Übrigen stellte der Gerichtshof Verstöße gegen das Beschwerderecht der Kläger fest, da sie keine effektive Möglichkeit hatten, sich gegen die erfahrenen Rechtsverletzungen gerichtlich zur Wehr zu setzen (Art. 13 EMRK). Er sprach jedem Kläger für seinen immateriellen Schaden einen Betrag von 10.000 Euro zu sowie die Erstattung der Anwalts- und Gerichtskosten. Auf Antrag der italienischen Regierung wurde das Urteil allerdings im Dezember zur Großen Kammer des Gerichtshofes verwiesen.
Zweite Runde „Khlaifia and Others v. Italien“
Die Große Kammer bestätigte die Einschätzung der Richterinnen und Richter der Kleinen Kammer in Hinblick auf Verstöße gegen das Recht auf Freiheit (Art. 5 Abs. 1, 2 und 4 EMRK). Teilweise folgte sie der Kleinen Kammer in Hinblick auf fehlende Rechtsschutzmöglichkeiten (Art. 13 i.V.m. Artikel 3 EMRK).
Dass Art. 3 EMRK verletzt sei, konnte die Große Kammer nicht feststellen. So war ihrer Ansicht nach die Aufnahmeeinrichtung auf Lampedusa zwar nicht geeignet, dort Personen mehrere Tage lang unterzubringen. Sie brannte jedoch bereits wenige Tage nach Ankunft der Kläger infolge eines Aufstandes ab, infolgedessen die Kläger andernorts untergebracht werden mussten. Den italienischen Behörden könne diesbezüglich kein Verschulden vorgeworfen werden und auch die Unterbringungsbedingungen erreichten in Anbetracht des kurzen Aufenthalts der Kläger nicht die Härte einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung. Auch die Zustände auf den Schiffen vor Palermo begründeten keinen solchen Verstoß.
Ebenso wenig sahen die Richterinnen und Richter in der Abschiebung der Kläger eine unzulässige Kollektivausweisung (Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 4). Sie betonten, die Tatsache allein, dass eine Mehrzahl von Asylsuchenden ähnliche Bescheide erhalten habe, eine solche Annahme nicht begründete. Vielmehr hätte vorliegend jede einzelne Person die Gelegenheit erhalten, individuelle Gründe, die ihrer Abschiebung entgegenstehen, vorzubringen. Die Kläger seien zu Beginn ihres Aufenthalts angehört worden und hätten während ihrer Haft in der Aufnahmeunterkunft sowie auf den Schiffen ausreichende Möglichkeiten gehabt, die italienischen Behörden über etwaige persönliche Gründe zu informieren. Die Kammer betonte, dass die Vorschrift nicht garantiere, dass jede Person zu jeder Zeit ein Recht auf eine persönliche Anhörung habe.
Während es die Kleine Kammer als Rechtsverstoß wertete, dass der Rechtsbehelf gegen die Einreiseverweigerung keine aufschiebende Wirkung entfaltet – und somit die Abschiebung nicht für die Dauer des Rechtsschutzverfahrens ausgesetzt wird –, ist die Große Kammer anderer Ansicht. Da die Kläger nicht vorgebracht hätten, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Tunesien Menschenrechtsverletzungen oder lebensbedrohliche Gefahren drohten, sei den Vorgaben der Konvention in diesem Fall Genüge getan. Das Erfordernis nach aufschiebendem Rechtsschutz eines solchen Behelfs ergebe sich nicht zwingend aus der Konvention (Art. 13 EMRK). Es sei vielmehr ausreichend, dass den betroffenen Personen eine effiziente Möglichkeit zustehe, ihren Bescheid im Rahmen einer eingehenden Untersuchung ihrer Einwände gerichtlich überprüfen zu lassen.
Der Gerichtshof verpflichtete Italien, jedem der Kläger einen Beitrag von 2.500 Euro für ihren immateriellen Schaden zu zahlen sowie ihnen darüber hinaus ihre Ausgaben zu erstatten.
Fazit – und was ist eigentlich mit der Krisenfestigkeit der Menschenrechte?
Das Urteil der Großen Kammer mag in Hinblick auf die Stärkung der Rechte von Geflüchteten enttäuschen. Während der Gerichtshof Italien im „Lampedusa-Urteil“ vom September 2015 etlicher Menschenrechtsverletzungen schuldig sprach, hat er dies nun teilweise wieder revidiert. Was übrig bleibt sind Verstöße gegen das Recht auf Freiheit (Artikel 5 EMRK) sowie des Beschwerderechts der Kläger (Artikel 13 EMRK). Von der geradezu „gefeierten“ Krisenfestigkeit der Menschenrechte (etwa hier, hier und hier) ist – zumindest in der Pressemitteilung sowie der mündlichen Urteilsverkündung – nichts mehr zu vernehmen. Der Gerichtshof hat diese Frage gekonnt umgangen, indem er bereits eine Verletzung der Kläger in ihrem Recht auf unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ablehnt (Artikel 3 EMRK), sodass er sich der Rechtfertigungsproblematik gar nicht mehr stellen muss. Ob das schriftliche Urteil weitere Ausführungen dazu enthält, bleibt abzuwarten.
Dieser Beitrag ist zeitgleich auf dem Asylrechtsblog erschienen. Der JuWissBlog bedankt sich für die Kooperation!