Mit Beschluss vom 17. September 2019 hat das BVerfG einen Organstreitverfahrensantrag der Fraktion „DIE LINKE“ als unzulässig verworfen. Ihm lag der Bundestagsbeschluss vom 4. Dezember 2015 zugrunde, mit dem der Einsatz der Bundeswehr in Syrien und im Nordirak gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ eingeleitet wurde. Teil 1 dieses Beitrags befasste sich mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt und der Argumentation der Beteiligten, Teil 2 nun mit den verfassungs-, völker- und europarechtlichen Folgen.
Verfassungsrecht: Kompetenzverteilung zum auswärtigen Handeln
Wenn die Bundesrepublik Deutschland in ihren auswärtigen Beziehungen auf das Instrument völkerrechtlicher Verträge zurückgreift, hat dies erhebliche Auswirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung im Zusammenhang mit solchen Verträgen. Während die Verbandskompetenz zum auswärtigen Handeln eindeutig ist (Art. 32 Abs. 1 GG: „Sache des Bundes“), muss bei der Organkompetenz genauer hingesehen werden. Regelmäßig kommt es dabei nämlich zu einem Wechselspiel zwischen Exekutive (hier: Bundesregierung) und Legislative (vor allem: Bundestag). Grundsätzlich kommt die Exekutive zum Zuge (Art. 59 Abs. 1 GG: der Bundespräsident, de facto: die Bundesregierung), soweit nicht besondere Rechte der Legislative vorrangig sind.
Dies ist immer dann der Fall, wenn es um den Abschluss und die innerstaatliche Umsetzung völkerrechtlicher Verträge geht, die nach den Vorgaben von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nur durch Zustimmungsgesetz erfolgen kann. Werden durch einen völkerrechtlichen Vertrag zudem Hoheitsrechte „übertragen“ (Art. 24 Abs. 1 GG) oder gehen mit ihm Hoheitsrechtsbeschränkungen im Rahmen von Systemen gegenseitiger kollektiver einher (Art. 24 Abs. 2 GG), kann auch dies nur durch Gesetz veranlasst werden (vgl. zu alldem Schiffbauer, AöR 141 [2016], S. 551). Damit werden die verfassungsmäßigen Rechte der Legislative umfassend gewahrt (vgl. Rn. 31 ff.), insbesondere weil der Bundestag dann maßgeblichen Einfluss auf „das Programm, vor allem den Zweck und den Anwendungsbereich dieses Systems“ ausüben kann; er gibt damit zugleich den Rahmen zum „weiteren Vertragsvollzug“ vor (Rn. 33).
Sodann jedoch schlägt wieder die Stunde der Exekutive, denn „die konkrete Ausfüllung und Entwicklung des mit [dem Vertrag] niedergelegten Programms [ist] Aufgabe der Bundesregierung“. Dazu gehört namentlich „diesen Vertrag in den Formen des Völkerrechts fortzuentwickeln“ sowie das System „an sich wandelnde weltpolitische Rahmenbedingungen und damit einhergehende veränderte sicherheitspolitische Gefährdungslagen“ anzupassen. Bei alldem billigt das BVerfG der Bundesregierung einen „weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ zu (jeweils Rn. 34).
Die Legislative kommt erst dann wieder zum Zuge, wenn ein (dann wieder ratifizierungsbedürftiger) Änderungsvertrag geschlossen wurde oder „die Fortentwicklung des Systems das vertragliche Integrationsprogramm verlässt“ (Rn. 35). Einen solchen Vorgang bezeichnet das BVerfG in nicht nur terminologischer Anlehnung an seine Rechtsprechung zum Integrationsprogramm der EU als „ultra vires“. Voraussetzung dafür seien entweder „[w]esentliche Abweichungen von der Vertragsgrundlage“ oder „die Identität des Vertrags betreffende Änderungen“ (Rn. 36). Ebenfalls parallel zur unionsrechtlichen Integrationsrechtsprechung wird dafür aber nicht jeder Vertragsbruch als ausreichend betrachtet, sondern ein Verstoß „gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertragswerks“ verlangt (Rn. 38). Mit anderen Worten beschränkt sich das BVerfG auf eine Evidenzkontrolle.
Aus all dem lässt sich ableiten, dass zur innerstaatlichen Kompetenzverteilung ein Vorrang der Exekutive zu vermuten ist. Dies ist zum einen ein pragmatischer Ansatz mit Blick auf die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, die letztlich auch im Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes angelegt ist. Zum anderen wird damit eine erkennbare Parallele zur Rechtsprechung im Rahmen des EU-Integrationsprozesses gezogen. Dies schafft eine einheitliche und verlässliche Rechtsprechung in vergleichbaren Sachverhalten, die auch sachgemäß erscheint. Denn in Bezug auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung unterscheiden sich Art. 23 GG und Art. 24 GG strukturell allenfalls marginal.
Doch was bedeutet diese außenverfassungsrechtliche Justierung nun für die Antragsbefugnis der Antragstellerin? Zunächst stellt der Senat vor dem Hintergrund seines ausführlich aufgestellten außenverfassungsrechtlichen Maßstabs schonungslos ein Darlegungsdefizit der Antragstellerin fest (Rn. 42): Nur, weil der Bundestag zur Gesetzgebung befugt ist und im vorliegenden Fall kein Gesetz erlassen wurde, folge daraus noch nicht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung. Zukünftige vergleichbare Anträge werden einen erheblichen Begründungsaufwand leisten müssen, um einen Ultra-vires-Akt in Bezug auf Art. 24 Abs. 2 GG plausibel darlegen zu können, zumal das BVerfG einer sachlichen Ausweitung des Organstreitverfahrens zugleich eine klare Absage erteilt (Rn. 44). Im Übrigen laufen auch völker- und europarechtliche Einwände der Antragstellerin ins Leere.
Völkerrecht: Friedenssicherungsrecht
Die Ausführungen der Antragstellerin zum völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht deutet der Senat zumindest auch als Ultra-vires-Rüge in Bezug auf die UN-Charta und das zugehörige deutsche Zustimmungsgesetz (Rn. 45). Diese Rüge dringt indes nicht durch, weil sich die Auffassung der Bundesregierung zumindest im Rahmen des völkerrechtlich Vertretbaren bewege, ohne dass das BVerfG dies im Einzelnen bewertet hätte (Rn. 46). Der Senat legt sich aber zumindest – und zu Recht – darauf fest, dass die Vereinten Nationen keine Neuausrichtung als kollektives Sicherheitssystem vorgenommen haben (Rn. 47 ff.). Implizit bestätigt das BVerfG damit erneut, dass auch die UN tatbestandlich unter Art. 24 Abs. 2 GG zu subsumieren sind. Überdies stellt es klar, dass auch der Kampf gegen den internationalen Terrorismus vom Ziel der internationalen Friedenssicherung umfasst ist. Dies trifft insbesondere unter teleologischen Gesichtspunkten auch zu, weil vernünftigerweise ein reiner Staatsbezug des Völkerrechts ohnehin nie existiert hat. Nur, weil 1945 die internationalen Angelegenheiten rein staatliche waren, folgt daraus nicht die Norm, dass das seitdem geschaffene Völkerrecht darauf beschränkt wäre. Aus einem Sein kann auch im Völkerrecht kein unmittelbares Sollen folgen.
Weiterhin werden umstrittene Aspekte des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts aufgerufen. Insbesondere der (inzwischen kaum mehr vertretenen) Ansicht der Antragstellerin, Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure sei per se unzulässig, tritt der Senat mit Blick auf den Wortlaut von Art. 51 UN-Charta wie auch ein paralleles völkergewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht unter Rückgriff auf zahlreiche Literturmeinungen und Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs entgegen (Rn. 49 ff.). Dabei enthält es sich zwar einer eigenen Stellungnahme, jedoch kennzeichnet es zu Recht die gegenteilige Ansicht der Bundesregierung als jedenfalls vertretbar. Dies genügt, um mit Verweis auf den vorgenannten Spielraum der Bundesregierung eine Rechtsverletzung von vornherein auszuschließen. Unabhängig davon erstaunt es, dass es die Antragstellerin überhaupt versucht hat, die Karte über nichtstaatliche Akteure im Völkerrecht auszuspielen. Denn nimmt man ihr Argument ernst, bedeutete dies, dass das Völkerrecht Selbstverteidigung gegen Staaten zwar gestatte, terroristische Anschläge jedoch hinzunehmen seien. Dies ist auch politisch eine schwer zu vermittelnde Botschaft.
Europarecht: EU-Beistandsfall
Mit den Erwägungen zum EU-Beistandsfall schließt sich der Kreis. Die erstmalige, insbesondere politisch viel beachtete Aktivierung von Art. 42 Abs. 7 EUV dürfte einen entscheidenden Beitrag zum verfahrensmitgegenständlichen Bundeswehreinsatz geleistet haben. Aus rechtlicher Perspektive ist er nicht minder von Bedeutung. Zwar vermag nach dem Vorgesagten der Verweis des Senats, dass die Aktivierung von Art. 42 Abs. 7 EUV sich auch mit dem im Übrigen völkerrechtlich Vertretbaren deckt (Rn. 53 f.), nicht weiter zu überraschen. Jedoch nutzt der Senat diesen Themenkomplex außerdem und vor allem für eine Klarstellung seiner bisherigen Rechtsprechung. Im Lissabon-Urteil hieß es noch vor zehn Jahren: „Auch wenn die Europäische Union zu einem friedenserhaltenden regionalen System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG ausgebaut würde, ist in diesem Bereich wegen des – der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG insoweit vorgehenden – Friedens- und Demokratiegebots eine Supranationalisierung mit Anwendungsvorrang im Hinblick auf den konkreten Einsatz deutscher Streitkräfte nicht zulässig“ (Rn. 255). Dem entgegnet der vorliegende Beschluss, dass „die Europäische Union zumindest vertretbar als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit angesehen werden“ könne (Rn. 52). Dem stünde das Lissabon-Urteil nicht entgegen, was das BVerfG jedoch nur insoweit näher ausführt, als damit die unbedingte Wahrung des Parlamentsvorbehalts auch in unionsrechtlich begründeten Streitkräfteeinsätzen gemeint gewesen sei.
Dies hinterlässt Ratlosigkeit. Am ehesten ließe sich diese Passage wohl so deuten, dass die GSVP der EU zwar als System kollektiver Sicherheit betrachtet werden kann, dies jedoch außerhalb des supranationalen Besitzstands des Unionsrechts. Dies käme jedoch einem Rückschritt in die Vor-Lissabon-Ära mit ihrem Drei-Säulen-Modell gleich, das mit den gegenwärtigen Verträgen eigentlich überwunden wurde. Verfassungsgerichtliche Klarstellungen zu diesem Aspekt sind dringend erforderlich und werden hoffentlich in zukünftigen Entscheidungen an geeigneter Stelle vorgelegt. Fortsetzung folgt?
Zitiervorschlag: Schiffbauer, Komprimiertes Außenverfassungsrecht und eine überraschende Schlusspointe: Das BVerfG zum Bundeswehreinsatz gegen den IS nach den Terroranschlägen von Paris (Teil 2), JuWissBlog Nr. 92/2019 v. 11.10.2019, https://www.juwiss.de/92-2019/.
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