von LAMIA AMHAOUACH
Corona hat uns mit Grundrechtseingriffen zuvor nicht gekannten Ausmaßes konfrontiert. Dass die Generalklausel des aktuellen § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG in einer so fortgeschrittenen Phase der Pandemie nicht mehr ausreicht, sehen nicht nur weite Teile der Rechtswissenschaft so, sondern nun auch das VG Hamburg. Um die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen mit einer stabilen Rechtsgrundlage auszustatten, soll nun ein § 28a IfSG-E geschaffen werden, der die bestehenden Probleme aber nicht löst.
In Hamburg wandte sich im Eilverfahren eine bekannte Fitnessstudiokette an das Verwaltungsgericht, um die einstweilige sanktionsfreie Duldung des Betriebs seiner Fitnessstudios zu erwirken. Der Betrieb von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr war zuvor durch § 4b Abs. 1 Nr. 28 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungs-VO untersagt worden. Die Antragstellerin sah sich durch die Vorschrift in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt. Dies nahm das VG Hamburg zum Anlass, die Vorschrift samt ihrer Verordnungsermächtigung (§ 32 IfSG mit Verweis auf die Maßnahmen gem. §§ 28-31 IfSG) verfassungsrechtlich zu beleuchten. Das Ergebnis: Im IfSG fehlt eine hinreichend konkrete Regelung, die eine derartige Inanspruchnahme von Nichtstörern zuließe.
Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz- „wesentliche Eingriffsmodalitäten sind zu regeln“
32 IfSG sieht eine Ermächtigung für die Landesregierungen vor, die Schutzmaßnahmen gem. §§ 28 bis 31 IfSG in landesrechtlichen Verordnungen zu regeln. Diese Verordnungen haben sich rechtlich im Rahmen der Maßnahmen der §§ 28 bis 31 IfSG zu bewegen. Jedoch sah das VG Hamburg in der einzig möglichen Rechtsgrundlage der Generalklausel § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG keine hinreichend konkrete und bestimmte Bestimmung, um Nichtstörer in Anspruch zu nehmen. Im Folgenden gab es dann auch keinen Anlass mehr, eine Folgenabwägung vorzunehmen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Gerichtsverfahren während der Corona-Epidemie, die bislang Erfolg hatten: Beherbergungsverbote und andere Maßnahmen wurden für rechtswidrig erklärt, weil sie nicht verhältnismäßig oder nicht gleichheitsgerecht ausgestaltet waren.
Das VG Hamburg bezieht nun eindeutig Stellung in einer Diskussion, die in den letzten Wochen wieder hochgekocht war: Verlangen Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz nicht eine Rechtsgrundlage, die mehr regelt, als dass die Behörden die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ ergreifen dürfen? Die Generalklausel des § 28 I 1 IfSG ist zu unbestimmt für derart schwerwiegende Grundrechtseingriffe, wie das VG Hamburg meint. Wäre eine gleichlautende Regelung noch vor wenigen Monaten rechtmäßig gewesen, so sei laut VG Hamburg die Frist, pandemiebekämpfende Maßnahmen (noch im 7. Monat!) auf eine solch unbestimmte Rechtsgrundlage zu stützen, nun eindeutig abgelaufen. Diese Argumentation überzeugt vor allem in Hinblick auf die seit März fortwährende Funktionsfähigkeit des Bundestages, die ihren Ausdruck auch in Änderungen des IfSG im März und Mai (Erstes und Zweites Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite) gefunden hat. Das Untätigbleiben des Gesetzgebers in Bezug auf die Konkretisierung der Maßnahmen ist also nicht etwa einer parlamentarischen Notlage geschuldet.
Der Wesentlichkeitsgrundsatz aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG bestimmt, dass Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz (hier also § 28 Abs. 1 IfSG) bestimmt werden müssen. Die schwerwiegenden Eingriffe bei gleichzeitiger Unbestimmtheit ihrer Voraussetzungen und fehlender Grundrechtsabwägung werden dem nicht gerecht. Die Inhalte einzelner Maßnahmen und deren übergeordneter, aber nicht konkreter Zweck werden allenfalls programmatisch in § 28 Abs. 1 S. 1 ersichtlich. Auch das Ausmaß der erteilten Ermächtigung wird nicht deutlich. Die erforderliche Abwägung wird somit den Landesregierungen bei Erlass der entsprechenden Verordnungen überlassen.
Das kann, wie oben bereits erwähnt, zu Beginn einer Pandemie – mangels Vorbereitungszeit und wissenschaftlichem Kenntnisstand – statthaft sein. Allerdings hat der Gesetzgeber mit zunehmender „Erwartbarkeit“ der Pandemielage die gesetzlichen Grundlagen rechtssicher zu konkretisieren, so auch das VG Hamburg. Nach 7 Monaten Leben in einer Pandemie und in den Medien auch durch Wissenschaftler*innen angekündigter „Zweiter Welle“ war der aktuelle „Lockdown Light“ laut VG Hamburg für den Bundesgesetzgeber erwartbar.
Der Verletzung des Wesentlichkeitserfordernis mag man entgegenhalten, dass der Gesetzgeber nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG bloß programmatisch die Ziele der Verordnungen festlegen müsse. In der aktuellen Pandemielage, mit beispiellosen Grundrechtseingriffen durch Verordnungen und denkbar unbestimmten Voraussetzungen im Bundesgesetz, greift dieses Argument jedoch nicht. Das Herstellen praktischer Konkordanz im Falle einer Pandemie sei laut VG Hamburg dem Gesetzgeber überlassen.
Entschädigungsregelungen
Die vorgenannten Feststellungen müssen umso mehr Beachtung finden, wenn – wie im vorliegenden Fall – Nichtstörer in Anspruch genommen werden. Auch das Inaussichtstehen einer sog. „Coronahilfe“ vermag die pauschalen, auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel gestützten, Schließungen nicht zu rechtfertigen. Eine ausnahmsweise Fortgeltung des § 4b Abs. 1 Nr. 28 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungs-VO ist laut VG Hamburg auch deswegen zu verneinen, da diese „Coronahilfen“ nur politische Versprechungen ohne rechtliche Verankerung darstellen. Die Betroffenen können also nicht mit letzter Sicherheit auf eine Entschädigung vertrauen, diese müsste gesetzlich geregelt werden.
Ausblick auf den Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite
Der gesetzgeberische Ausbesserungsbedarf wurde auch im aktuellen Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD zum dritten Bevölkerungsschutzgesetz gesehen; mit einem neu geschaffenen § 28a IfSG-E soll Rechtssicherheit geschaffen werden. Dieser soll „besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus Sars-Cov-2“ normieren. Dabei werden nicht abschließend einige Maßnahmen enumeriert, die inhaltlich höchstens grob umrissen sind. Diese Regelung, die bezwecken soll, eine solide und hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage für infektionsschutzrechtliche Maßnahmen – auch im Verordnungswege – zu schaffen, wird jetzt schon kritisch gesehen. Die Vorschrift des geplanten § 28a IfSG-E verkennt ein weiteres Mal die Bedeutung von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot. Die geplante Neuregelung wird höchstwahrscheinlich an der Rechtsauffassung des VG Hamburg nichts ändern, sodass nicht von einer Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO und einer nachträglichen Abänderung des Beschlusses wegen wesentlich geänderter Gesetzeslage auszugehen ist.
Fazit
Ob in Hamburg durch dieses historische Urteil eine Klagewelle eintritt, bleibt, so wie auch der künftige Umgang der Verwaltungsgerichte mit den Corona-Schutzverordnungen der Länder, abzuwarten. Fest steht: Der unstreitig schützenswerte Zweck – hier der Gesundheitsschutz der Bevölkerung – gibt keine Blankettermächtigung zu abwägungslosen Grundrechtseinschränkungen und heilt dazu keineswegs alle Mittel.
Zitiervorschlag: Lamia Amhaouach, Sind alle Corona-Schutzmaßnahmen in Hamburg rechtswidrig? – Das VG Hamburg zu § 28 IfSG, JuWissBlog Nr. 129/2020 v. 14.11.2020, https://www.juwiss.de/129-2020/.
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke für diesen informativen, klar formulierten Artikel, der mich als Rechtsanwältin im Ruhestand über eine zumindest noch funktionierende Justiz freuen lässt.
Die Rechtswissenschaft ist KEINE exakte Wissenschaft. Das sieht man im Umgang mit den Regelungen in Covis-Zeiten. Bleibt nur zu hoffen, dass unser förderaler und Rechtsstaat diesen Herausforderungen gewachsen ist.