Wer braucht schon Trump: US-amerikanischer Föderalismus als demokratische Sackgasse?

von SEBASTIAN RUNSCHKE

Trump ist abgewählt und vielen Menschen fällt ein Stein vom Herzen. Dabei hat die überstandene Präsidentschaftswahl einmal mehr gezeigt: Das politische System der USA – von Teilen der Welt lange als treibende demokratische Kraft gepriesen – steckt in einer Krise.

Ein Grund ist sicherlich die Kommerzialisierung des politischen Betriebs, bei der eine dreistellige Millionensummen zwar kein Erfolgsgarant ist, aber die notwendige Bedingung für die Teilnahme an einem Präsidentschaftswahlkampf zu sein scheint. Die erforderlichen finanziellen Ressourcen zu sammeln, ohne sich zumindest teilweise wirtschaftlichen Interessen auszuliefern, gleicht der Quadratur des Kreises.

Ein weiterer Grund ist der strukturelle Rassismus, der sich seit der Gründung der USA immer wieder als antidemokratisches Moment neu erfindet. So werden bspw. zu Haftstrafen verurteilte Personen zum Teil lebenslang vom Wahlrecht ausgeschlossen – eine Sanktion, die überproportional viele People of Color betrifft. In diesem Zusammenhang ist auch das manipulative gerrymandering zu nennen, bei dem die Erfolgsaussichten in einem Mehrheitswahlsystem dadurch maximiert werden, dass Wahlkreisgrenzen mit Blick auf die örtliche Verteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen zugeschnitten werden.

Es liegt aber auch an der spezifischen Ausgestaltung des US-amerikanischen Föderalismus, der das demokratische Gerüst auf Bundeseben gleich an mehreren Stellen erodiert. Der Föderalismus diente einst als Maschinenraum dazu, die in vieler Hinsicht vielversprechende US-amerikanische Idee von Demokratie auf dem nordamerikanischen Kontinent zu verbreiten. Schließlich ist die Anzahl der Bundesstaaten von ursprünglich 13 auf 50 angewachsen. Gleichzeitig hat eben dieser Föderalismus das demokratische System auf Bundesebene in eine Sackgasse manövriert, aus der es sich nicht befreien kann. Zumindest nicht mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln.

Auswirkungen des Föderalismus auf die demokratische Konstitution der Bundesebene

Die föderalismusbedingte Erosion demokratischer Institutionen findet sich auf Bundesebene in allen Gewalten wieder – mal in unmittelbarer, mal in mittelbarer Form.

Unmittelbar zeigt sie sich im Rahmen der Präsidentschaftswahl, bei der das föderal geprägte Electoral College den Popular Vote in Bezug auf das höchste Staatsamt marginalisiert. Grund ist, dass die Zahl der Einwohner pro Wahlperson in den bevölkerungsreichsten Bundestaaten bis zu dreimal höher ist als in den bevölkerungsärmsten Staaten. Abhängig von der geografischen Lage kann sich der Wert einer Stimme also um den Faktor Drei unterscheiden.

Sie zeigt sich unmittelbar auch in der Struktur des US-Senats, und zwar in der Kombination aus Mehrheitswahlsystem und dem Umstand, dass die Bevölkerungsanzahl eines Bundesstaates keine Auswirkungen auf die Anzahl seiner Senatssitze hat. So vertreten die US-Senator*innen von Wyoming 580.000 Menschen, während die US-Senator*innen von Kalifornien 39,5 Millionen Menschen vertreten.

Am Supreme Court zeigt sie sich mittelbar, was die Wahl von Amy Coney Barrett als Nachfolgerin der verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg verdeutlicht. So mag die Ernennung der Verfassungsrichter*innen auf Lebenszeit überholt wirken. Aus demokratischer Sicht problematisch wird sie erst durch den Föderalismus. Schließlich werden die Richter*innen von einem durch das Electoral College gewählten Staatsoberhaupt vorgeschlagen und durch die US-Senator*innen gewählt.

Wegfall der dem Föderalismus zugrundliegenden Prämissen

Dabei basiert der US-amerikanische Föderalismus auf einer einleuchtenden Idee. Die Souveränität eines einzelnen Bundesstaates soll dadurch gesichert werden, dass kein Bundesstaat auf Bundesebene zu viel Einfluss ausüben kann. Aus diesem Grund wurden beide Teile der Zweikammern-Legislative föderal strukturiert, wobei sich das Repräsentantenhaus durch eine bevölkerungsabhängige Sitzverteilung auszeichnet. Im Senat hingegen wird den Bundesstaaten unabhängig von der Bevölkerungsanzahl dasselbe Stimmrecht eingeräumt. Dies war ein realpolitischer Kompromiss in Form eines Zugeständnisses an bevölkerungsärmere Bundesstaaten, die ansonsten die Verfassung nicht ratifiziert hätten (vgl. Madison, Federalist Nr. 62 III).

Der sich im Senat widerspiegelnde Föderalismus war jedoch auch vor dem Hintergrund wichtig, dass noch nicht absehbar war, aus wie vielen Staaten die USA einmal bestehen würden und wie sich die Bevölkerung innerhalb der Staaten verteilen würde. Durch die föderale Machtbalance konnte weitestgehend verhindert werden, dass einzelne Bundesstaaten untereinander um die Vorherrschaft über das noch unbekannte Territorium kämpften, was letztlich dem Erstarken der Republik diente. Selbst das bislang einzige Beispiel für das (temporäre) Totalversagen der föderalen Strukturen – die Abspaltung der Konföderation und der hieraus resultierende Bürgerkrieg – war kein Kampf um Territorium, sondern um die landesweite Abschaffung der Sklaverei.

Die Prämissen, auf denen die föderalen Strukturen aufbauen, haben sich mittlerweile verändert. Die zuvor noch unbekannten Variablen stehen fest. So ist die territoriale Ausbreitung der USA abgeschlossen und die Grenzen der existierenden Bundesstaaten sind festgelegt. An der Zahl der Bundestaaten wird sich nicht mehr viel ändern. Mittelfristig könnten alleine Puerto Rico und der District of Columbia als weitere Bundesstaaten hinzukommen, was zu einer Erhöhung der Sitze im Senat um lediglich 4 % führte.

Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich, wobei sich die Bevölkerung zurzeit vor allem in den Ballungsgebieten entlang der gesamten Atlantikküste, der südlichen Pazifikküste, dem Südwesten sowie der Region südlich der Großen Seen konzentriert. Aufgrund der voranschreitenden Urbanisierung wird die Bevölkerungskonzentration in den bereits existierenden Ballungsräumen weiter zunehmen, was die ungleiche regionale Bevölkerungsentwicklung weiter verstärkt.

Wenn aber die Geschichte über die territoriale Entwicklung der Bundesstaaten auserzählt und die weitere demografische Entwicklung regional besser abschätzbar ist, steht die bevölkerungsunabhängige Machtverteilung innerhalb des Senats unter einem immer größer werdenden Rechtfertigungsdruck. Mit voranschreitender Urbanisierung wird sie sich immer weniger rechtfertigen lassen, was den weiteren Verlust demokratischer Legitimation zur Folge hat.

Föderale Strukturen als gesellschaftspolitische Reformhürden

Auf einige der institutionellen Folgen dieser schwindenden Legitimation wurde oben hingewiesen. Auch die Wahl Trumps vor vier Jahren und die Zitterpartie vor ein paar Tagen sind ein Resultat dieser Entwicklung. Dass seine Präsidentschaft beendet ist, bedeutet nicht, dass das System geheilt ist. Ohne eine Anpassung des Föderalismus wird dies nicht zu realisieren sein. Aber wie soll sich ein so zerstrittenes Land wie die USA auf die überfällige Reform seiner föderalen Struktur einigen?

Das Electoral College ist in der US-Verfassung in Art. 2 Abschnitt 1 Absatz 2 und die Konstruktion des Senats in Art. 1 Abschnitt 3 Absatz 1 festgeschrieben. Will man das föderale System auf Verfassungsebene reformieren, bräuchte es also eine Verfassungsänderung. Diese müsste u.a. mit einer 2/3-Mehrheit im Senat verabschiedet werden.

Und hier kommen die gesellschaftspolitischen Realitäten des Zwei-Parteiensystems ins Spiel: Eine solche Mehrheit ist in absehbarer Zeit nicht realistisch, selbst wenn Puerto Rico und der District of Columbia als weitere Bundesstaaten hinzukämen. Bevölkerungsärmere Staaten haben aus sich heraus bereits keinerlei Anreiz, ihren überproportional hohen Einfluss im Senat aufzugeben. Nimmt man die parteipolitische Spaltung mit in den Blick, verdüstert sich die Prognose weiter. Die überproportional repräsentierten Staaten sind traditionell republikanisch dominiert, wobei die republikanische Partei ihre Wählerschaft vor allem aus der nicht-hispanischen weißen Bevölkerung generiert. Diese Wählergruppe bildet zurzeit die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung. Zwar wird sie voraussichtlich in 25 Jahren unter 50 % sinken, aber nicht in den bevölkerungsärmeren Staaten. Es liegt weder im Interesse der republikanischen Partei noch dieser Bevölkerungsgruppe, den Senat als womöglich am längsten währende Bastion ihres politischen Einflusses auf Bundesebene aufzugeben.

In Bezug auf die Präsidentschaftswahl versuchen einige Bundesstaaten, das Electoral College auf Länderebene durch den National Popular Vote Interstate Compact (NPVIC) zu reformieren, um so die hohen Hürden einer Verfassungsänderung zu umgehen. Demnach soll das Abstimmungsverhalten der Wahlfrauen/-männer eines Bundesstaates innerhalb des Electoral College vom Popular Vote abhängig gemacht werden.

Da der Compact jedoch erst in Kraft tritt, wenn die ihm beigetretenen Bundesstaaten die Stimmmehrheit im Electoral College auf sich vereinen, sind die Erfolgsaussichten – zumindest in absehbarer Zeit – gering. So müssten sich auch tendenziell republikanisch dominierte Staaten anschließen, was einem politischen Eigentor gleichkäme: Seit 1992 führen die Demokraten im Popular Vote mit 7:1.

Zudem dienen solche und andere Bestrebungen, wie bspw. die nuclear option (Abschaffung des filibuster im Senat) oder packing the court, allenfalls der Symptombekämpfung. Sie sind nicht geeignet, die föderalen Strukturen zu reformieren und somit die Ursache schwindender Legitimation nachhaltig zu beseitigen.

Notwendige Anpassung föderaler Strukturen zur Verlängerung der konstitutionellen Halbwertszeit

In dem Zusammentreffen regionaler Bevölkerungsentwicklung, parteipolitischer Spaltung und struktureller Defizite offenbart sich das Potenzial einer ernsthaften Verfassungskrise. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass genau diese Verfassung dazu geführt hat, dass es sich bei den USA um die längste aktive Demokratie der Welt handelt. Als mit der 1849 gescheiterten Paulskirchenverfassung der erste politische Versuch unternommen wurde, in Deutschland bundesstaatliche und demokratische Strukturen zu implementieren, war die US-Verfassung fast genauso alt wie das Grundgesetz heute.

Dass sie seit über 230 Jahren als staatliches Fundament dient, ist Ausdruck ihrer Stärke. Dies kann jedoch nicht davon ablenken, dass auch sie eine Halbwertszeit besitzt. Die demokratische Legitimation bspw. durch eine notwendige Reform des Senats zu erhöhen und hierdurch ihre Halbwertszeit zu verlängern, bedeutet einen politischen Kraftakt, bei dem auch ohne Trump alles andere als klar ist, ob er jemals gestemmt werden kann.

 

Zitiervorschlag: Sebastian Runschke, Wer braucht schon Trump: US-amerikanischer Föderalismus als demokratische Sackgasse?, JuWissBlog Nr. 130/2020 v. 17.11.2020, https://www.juwiss.de/130-2020/.

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