von YANNIK KRAUSE
Mit Urteil vom 31. März 2025 ist die rechtsnationale Politikerin Marine Le Pen in der Affäre um die mögliche Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern im Europaparlament schuldig gesprochen worden. Der Schuldspruch umfasst neben zwei Jahren Haft mit Fußfessel auch die Strafe der befristeten Unwählbarkeit für politische Ämter für fünf Jahre. Zudem schlossen sich die Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf exécution provisoire (vorläufige Vollstreckung) an. In der Folge entfällt für etwaige Rechtsmittel Le Pens der Suspensiveffekt, was angesichts der ungewissen Verfahrensdauer zu einer Unwählbarkeit ihrer Person bei der französischen Präsidentschaftswahl 2027 führen dürfte.
National erregte der Fall des bayerischen Landtagsabgeordneten Daniel Halemba Aufsehen. Gegen diesen wurde wegen des dringenden Verdachts der Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen durch das Amtsgericht Würzburg ein Haftbefehl erlassen. Auch wenn dieser zwar nie in Vollzug gesetzt wurde, drängt sich sowohl im Fall von Le Pen als auch im Fall Halembas die Frage auf, ob und inwiefern die beiden Parlamentarier in Konsequenz einer Inhaftierung (Gefängnisstrafe oder Untersuchungshaft) ihre parlamentarischen Rechte als Abgeordnete weiter ausüben können.
Rechtslage
Im deutschen Recht findet sich in § 45 Abs. 1 StGB eine entsprechende gesetzliche Grundlage. So heißt es dort: „Wer wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird, verliert für die Dauer von fünf Jahren die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen.“ § 45 Abs. 4 StGB ergänzt: „Mit dem Verlust der Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, verliert der Verurteilte zugleich die entsprechenden Rechtsstellungen und Rechte, die er innehat, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.“ Sobald also eine Verurteilung wegen eines Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB, Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr) im Raum steht, droht der Entzug des passiven Wahlrechts (wie im Fall von Le Pen) und auch, soweit es sich um einen Abgeordneten handelt – der Verlust des Abgeordnetenmandats. Abweichend dazu hat die Verurteilung Le Pens keine Auswirkungen auf ihre gegenwärtige Stellung im französischen Parlament. Sie kann dort weiter sitzen und ihre parlamentarischen Rechte als Fraktionsvorsitzende ausüben.
Gänzlich geklärt ist daher, welche Rechtsfolgen bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens nach deutschem Recht drohen. Der aus § 45 Abs. 1 StGB resultierende Tenor des Strafurteils ist dabei aber gerade nicht automatisch vollstreckbar (self executing). § 45 Abs. 4 StGB beinhaltet mit „[…] soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.“ eine Formulierung, die den Einfall abweichender Regelungen gewährt. Demnach entscheidet über den Verlust der Mitgliedschaft abschließend gem. § 47 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG der Ältestenrat. Spannungen im Grundsatz der Gewaltenteilung könnten sich hier daraus ergeben, dass mit dem Ältestenrat ein Organ der Legislative und Exekutive Entscheidungen der Judikative illegitimieren kann.
Indes fällt nicht jede Straftat in die Kategorie eines Verbrechens. Auch Vergehen (§ 12 Abs. 2 StGB) können im Extremfall zu einer Freiheitsstrafe führen. Gänzlich unklar scheint daher zum einen die Frage, ob eine Person, die eine Gefängnisstrafe verbüßt, gewählt werden und zum anderen, inwiefern eine Person, die vor ihrer Verurteilung als Abgeordneter Mitglied des Bundes- oder eines Landesparlaments war, weiterhin ihre Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ausüben kann. Zweiteres gilt jedenfalls auch dann, wenn ein Abgeordneter sich wegen des dringenden Verdachts der Tatbegehung längere Zeit in Untersuchungshaft gemäß §§ 112 ff. StPO befindet. Auf Letzteres soll im Folgenden, auch mit Blick auf den Fall Halemba, näher eingegangen werden.
Abgeordnete in Haft und deren Rechte
Infolge einer Freiheitsentziehung dürften die Abgeordnetenrechte bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht ausübbar sein. Mangels Anwesenheit in Plenardebatten könnte der betroffene Abgeordnete nicht mehr an Entscheidungen des Parlaments teilnehmen und an Abstimmungen mitwirken. Zudem kann auch das Fragerecht als Ausfluss der parlamentarischen Kontrolle der Regierung nicht mehr ausgeübt werden.
Das freie Mandat und Art. 38 GG
Die wichtigste Bestimmung ist der Art. 38 Abs. 1 GG. Aus diesem ergeben sich mehrere zentrale Rechte für Abgeordnete. Neben dem Teilhaberecht an der parlamentarischen Arbeit garantiert Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch das freie Mandat. Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen und nicht an Weisungen oder Aufträge gebunden, wodurch gerade die Unabhängigkeit geschützt werden soll. Nach § 13 Abs. 2 Geschäftsordnung des Bundestags sind die Mitglieder des Bundestags verpflichtet, an den Arbeiten des Bundestags teilzunehmen. Art. 3 des Zusatzprotokolls zur EMRK ergänzt Art. 38 Abs. 1 GG auf einer internationalen Ebene.
Des Weiteren bestimmt das Grundgesetz, dass das Mandat jedenfalls dann endet, wenn ein neuer Bundestag nach einer Wahl zusammentritt (vgl. Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG). Weitere Auflösungsgründe finden sich im Grundgesetz nicht. Weitere Verlustgründe finden sich in § 46 Abs. 1 BWahlG (Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft, Neufeststellung des Wahlergebnisses, Wegfall einer Wählbarkeitsvoraussetzung, Mandatsverzicht oder Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei, der der Abgeordnete angehört, durch das Bundesverfassungsgericht). Selbstredend endet das Mandat auch mit dem Tod des Abgeordneten.
Zudem geht das Grundgesetz davon aus, dass Abgeordnete festgenommen und verhaftet werden können (Umkehrschluss aus Art. 46 Abs. 2 GG). Es stellt sich also die Frage, ob das Gesetz den faktischen Verlust der Fähigkeit, die Abgeordnetenrechte auszuüben, im Falle einer Verurteilung oder einer anderen Verhaftung akzeptiert, oder ob es alternative Lösungsansätze gibt.
Freiheitsentziehung stets unverhältnismäßig?
Die fehlenden Regelungen legen die Vermutung nahe, dass eine freiheitsentziehende Maßnahme außerhalb der Verurteilung wegen eines Verbrechens stets unverhältnismäßig und deshalb rechtswidrig sein könnte. Dagegen spricht jedoch, dass Art. 46 Abs. 2 Alt. 2 GG die Aufhebung der Immunität für den Fall vorsieht, dass ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung verhaftet wird. Daraus ergibt sich, dass ein Abgeordneter jedenfalls in Untersuchungshaft genommen werden kann und eine solche Maßnahme damit nicht per se unverhältnismäßig wäre. Im Fall Halemba hat das Bayerische Landesparlament dessen Immunität aufgehoben.
Abgeordnetenfreundliche Ausgestaltung der Freiheitsentziehung
In Betracht käme jedoch, dass die freiheitsentziehende Maßnahme zugunsten des Abgeordneten besonders ausgestaltet werden muss. Es ließe sich zum Beispiel an eine umfassende Überwachung während Sitzungen des Parlaments oder eine Teilnahme via Videoübertragung denken. Eine solche besondere Vollziehung ist der Rechtsordnung nicht fremd; man denke etwa an die Unterscheidung zwischen Erwachsenen- und Jugendvollzugsrecht.
Stets zulässig?
Gegen eine solche Ausgestaltung spricht jedoch der Art. 46 Abs. 2 Alt. 2 GG. Wenn das Grundgesetz die Verhaftung eines Abgeordneten unter den „Schutzschirm“ der Aufhebung der Immunität durch die übrigen Abgeordneten stellt, dann scheint es davon auszugehen, dass der Abgeordnete bei einer Verhaftung seine Abgeordnetenrechte nicht mehr ausüben kann. Die Diskrepanz zu § 45 Abs. 4 StGB (zur Erinnerung: „Mit dem Verlust der Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, verliert der Verurteilte zugleich die entsprechenden Rechtsstellungen und Rechte, die er innehat, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.“) welcher nur auf Verbrechen Anwendung findet, kann nur damit erklärt werden, dass eine Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr nicht zwangsläufig eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen muss. Zwar verlangt die Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 1 S. 1 StGB eine Freiheitsentziehung von nicht mehr als einem Jahr, indes kann nach § 56 Abs. 2 S. 1 StGB auch die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung ausgesetzt werden. Im Falle einer Bewährungsstrafe könnten dann Abgeordnetenrechte problemlos wahrgenommen werden. Dasselbe gilt auch für den Fall, dass die Gefängnisstrafe verbüßt wird, die Legislaturperiode aber noch nicht abgelaufen ist. Auch in diesem Fall soll der Abgeordnete sein Mandat nicht weiter ausüben dürfen.
Fazit
Anders als es auf den ersten Blick erscheint, folgt aus § 45 StGB nicht im Umkehrschluss, dass einem Abgeordneten, der lediglich wegen eines Vergehens verurteilt wurde oder sich in Untersuchungshaft befindet, weiterhin die Ausübung seiner Abgeordnetenrechte gewährt werden muss. § 45 StGB ermöglicht der Judikative vielmehr, die Abgeordnetenrechte auch dann zu entziehen, wenn die Haftstrafe schon wieder verbüßt oder lediglich zur Bewährung ausgesetzt wird. Das Grundgesetz stellt mit dem Konzept der Immunität des Abgeordneten klar, dass die Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG im Falle einer Inhaftierung nicht mehr ausgeübt werden können. Ein Sondervollzugsrecht für Abgeordnete verbietet sich daher nicht nur vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG.
Zitiervorschlag: Krause, Yannik, Der inhaftierte Abgeordnete außerhalb des Anwendungsbereichs des § 45 StGB, JuWissBlog Nr. 34/2025 v. 03.04.2025, https://www.juwiss.de/34-2025/
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