Luxemburger Rechtsfortbildungspause: Das AMS-Urteil des EuGH

von HANNES RATHKE

Hannes-RathkeIm vergangenen Jahr hat der EuGH die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes in denkwürdigen Entscheidungen vorangetrieben. Nach den Entscheidungen Melloni und Åkerberg Fransson ließen die Schlussanträge des Generalanwalt Cruz Villalón in der Rechtssache C-176/12 (AMS) den nächsten Coup erwarten: die Feststellung einer horizontalen Wirkung der Rechte und Grundsätze der EU-Grundrechtecharta (GRCh). Nach Ansicht des Generalanwalts ist ein durch die Charta garantiertes und durch Sekundärrecht konkretisiertes Recht ein zulässiger Beurteilungsmaßstab für einen Rechtsstreit zwischen Privaten. Die Verneinung einer Wirkung von Grundrechten zwischen Privaten sei lediglich Resultat einer irrtümlichen Auslegung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, die Anerkennung einer horizontalen Wirkung hingegen logische Folge der Entwicklung der europäischen Grundrechte. Doch obwohl der Generalanwalt den Boden bereitet hat für eine überaus dynamische Weiterentwicklung der europäischen Grundrechtsdogmatik: Der EuGH verweigerte seinem Generalanwalt im AMS-Urteil vom 15. Januar die Gefolgschaft – ungewohnt zurückhaltende Grundrechtsevolution statt dynamischer Grundrechtsrevolution.

Die Vorlagefragen

Im Ausgangsfall ging es um die Frage, wie in Frankreich die Zahl der Arbeitnehmer in einem Unternehmen für die Einsetzung eines Gewerkschaftsvertreters zu berechnen ist. Nach nationalem Recht können Gewerkschaften in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten sogenannte Gewerkschaftssektionen mit besonderen Rechten einrichten. Die Berechnung der für die Beschäftigtenzahl notwendigen Schwellenwerte erfolgt differenziert nach Art der Beschäftigung. Zudem nimmt Art. L. 1111-3 Code du travail (Cdt) bestimmte Beschäftigungsgruppen wie bspw. Personen mit einem Vertrag zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt generell von der Berechnung aus.

Die Association de médiation sociale (AMS) beschäftigte über 100 Personen mit derartigen Verträgen. Lediglich 11 der bei ASM tätigen Personen unterfielen nicht dem Ausnahmetatbestand des Art. L 1111-3 Cdt. Gleichwohl bestellte eine Gewerkschaft einen Vertreter für die Gewerkschaftssektion bei AMS, wogegen diese mit Verweis auf Art. L 1111-3 Cdt vorging. Nach der einschlägigen unionsrechtlichen Regelung (Art. 3 Richtlinie 2002/14/EG) können die Mitgliedstaaten zwar über die Methode zur Berechnung der Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl bestimmen, die Richtlinie selbst sieht jedoch keinen Ausnahmetatbestand vor. Deshalb stellte die Cour de cassation dem EuGH die Vorlagefragen, ob das in Art. 27 GRCh anerkannte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14/EG konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer einen zulässigen Beurteilungsmaßstab in einem Rechtsstreit zwischen Privaten sein kann und ob Art. L 1111-3 Cdt in dem Fall, ggf. in unionsrechtskonform Auslegung, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Ein Urteil in „ständiger Rechtsprechung“

Ausgehend von der Unionsrechtswidrigkeit des Art. L 1111-3 Cdt verneint der EuGH sowohl eine unmittelbare horizontale Wirkung der Richtlinie 2002/14/EG als auch die Möglichkeit einer richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Bestimmung: Zwar dürfe der mitgliedstaatliche Spielraum bei der Richtlinienumsetzung nicht zur Aushöhlung von Unionsrecht führen. Demnach dürfen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Richtlinie 2002/14/EG zwar darüber entscheiden, wie sie Arbeitnehmer bei der Berechnung der Schwellenwerte berücksichtigen, nicht aber, dass Arbeitnehmer unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend sei Art. L 1111-3 Cdt unionsrechtswidrig. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Pflicht zur Berücksichtigung aller Arbeitnehmer sei die Richtlinie auch hinreichend bestimmt und unbedingt und könne damit grundsätzlich unmittelbare Wirkung entfalten – dies aber nicht zwischen Privaten. Zwar müssten nationale Gerichte auch im Rechtsstreit zwischen Privaten nationales Recht soweit wie möglich anhand des Wortlautes und des Zwecks der Richtlinie auslegen. Dieser Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts dürfe jedoch nicht zu einer Auslegung contra legem führen.

Infolge der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im Streit zwischen der Gewerkschaft und AMS stellte sich die Frage, ob nicht – nach dem Vorbild der Entscheidung Kücükdeveci – eine unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 27 GRCh im Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um eine Anwendung der nicht richtlinienkonformen nationalen Bestimmung auszuschließen. Den Ausgangspunkt der Erwägungen des EuGH bildet seine „ständige Rechtsprechung“ [!] in der Rechtssache Åkerberg Fransson, wonach die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlichen Fallgestaltungen anwendbar sind. Jedoch finde diese Anwendbarkeit ihre Grenzen im Rechtsstreit zwischen Privaten: Im Gegensatz zu dem Verbot der Altersdiskriminierung in der Entscheidung Kücükdeveci enthalte Art. 27 GRCh ohne weitere Konkretisierung durch Unionsrecht oder nationales Recht keine unmittelbar anwendbare Rechtsnorm, woran auch eine Zusammenschau mit der Richtlinie 2002/14/EG nichts ändere. So bleibe dem durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht Geschädigten lediglich der Weg in die unionsrechtlich ausgeformte Staatshaftung.

Ruhe auf dem Kirchberg

Nach der geradezu atemberaubenden richterlichen Rechtsfortbildung in Grundrechtsfragen der vergangenen Jahre nun also: richterliche Zurückhaltung auf dem Luxemburger Kirchberg.

Die Ablehnung einer oft propagierten unmittelbaren horizontalen Anwendbarkeit der Richtlinie 2002/14/EG in einer Situation, in der es nicht um die Ersetzung einer nationalen Vorschrift durch Richtlinienbestimmungen geht, sondern um deren bloße Nichtanwendbarkeit im Einzelfall, ist folgerichtig. Die – in einer tatsächlich gefestigten Rechtsprechung ausbuchstabierten – Hürden des Art. 288 Abs. 2 AEUV (Unionsbefugnis der EU für unmittelbar den Bürger belastende Maßnahmen nur mittels Verordnung) und des Art. 288 Abs. 3 AEUV (Verbindlichkeit von Richtlinien nur gegenüber den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet sind) lassen sich schwerlich umschiffen.

Konsequent ist auch die Ablehnung einer unmittelbaren Anwendung von Art. 27 GRCh zwischen Privaten. Abgesehen davon, dass es Art. 27 GRCh an hinreichender Bestimmtheit und Unbedingtheit mangelt als Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts: Der Adressatenkreis der Charta wird durch die Art. 51 Abs. 1, 52 Abs. 2 GRCh explizit auf die Union und ihre Mitgliedstaaten beschränkt entsprechend dem Willen der Mitgliedstaaten, Grundrechtschutz primär durch Schutzpflichten zu gewährleisten – und damit auch der Funktion von Grundrechten, öffentliche Gewalt zu bändigen. Eine unmittelbare horizontale Anwendbarkeit erschiene zudem angesichts des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts des Art. 52 Abs. 1 GRCh systeminkohärent, wonach eine zulässige Grundrechtsbeschränkung jedenfalls einer gesetzlichen Grundlage bedarf.

Zustimmung verdient schließlich auch die Feststellung, dass sich eine unmittelbare horizontale Anwendbarkeit weder von Art. 27 GRCh noch der Richtlinie 2002/14/EG aus einer Kombination beider Elemente ergibt. Das vom Generalanwalt vorgeschlagene „Hineinlesen“ der konkretisierenden Richtlinienbestimmung in ein Grundrecht, um diesem so unmittelbare (horizontale) Wirkung zu verleihen, hätte letztlich den Effekt, den Anwendungsbereich der Charta-Gewährleistungen dem jeweiligen Unionsgesetzgeber zu überlassen. Zudem führte ein solches Hineinlesen zu einer unzulässigen Vermengung von Primär- und Sekundärrecht mit der Folge, dass der normative Gehalt des jeweiligen Sekundärrechts grundrechtlich zementiert und so dem Zugriff des Unionsgesetzgebers entzogen würde.

Dialogwahrende Grundrechtsevolution

Auf die generalanwaltlichen Revolutionspläne folgt ein richterliches Urteilsbiedermeier – ein Urteil der notwendigen Klarstellungen und der verpassten Chancen: Das Urteil lässt darauf schließen, dass die AMS-Entscheidung die Urteile Mangold und Kücükdeveci zur Ausdehnung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht auf Horizontalverhältnisse nicht verallgemeinerbare, vielmehr der spezifischen Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes geschuldete Ausnahmeentscheidungen sind. Eine objektive Kontrolle der Rechtmäßigkeit von nationalen Rechtsakten durch „wesentliche und unmittelbare Konkretisierungen der Bestimmungen der Charta“ wird nicht zur Regel erhoben. Leider nimmt der EuGH nicht die Bälle seines Generalanwalts auf zur Bestimmung der Wirkkraft der Charta-Grundsätze, zur Definition von Rechten, die „ihrem Inhalt oder ihrem Wesen nah Rechte und ihrer Funktionsweise nach Grundsätze“ sind und über wesentliche und unmittelbare Konkretisierungen des Inhalts eines Grundsatzes unmittelbar horizontale Wirkungen entfalten – und damit letztlich auch Art. 52 Abs. 5 GRCh operabel machen.

Gleichwohl: Es dürfte dem vielzitierten europäischen Dialog der Gerichte nicht schaden, dass der EuGH die kühnen Ideen seines Generalanwalts nicht aufgreift, keinen Grundstein für eine „ständige Rechtsprechung“ der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gewährleistungen der GRCh für Streitigkeiten zwischen Privaten gelegt hat. Vielleicht sind auch schlicht die erteilten und drohenden Karlsruher Rechtshinweise zur „verständigen“ Auslegung des Unionsrechts nicht ungehört auf dem Kirchberg verklungen…

Drittwirkung, EuGH, Generalanwalt, Grundrechte, Grundrechte-Charta, Hannes Rathke, Rechtsgrundsätze
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