von TERESA WEBER
Unter dem Stichwort „Europäisierung“ lassen sich zwei für das Völkerrecht relevante Phänomene ausmachen: Einerseits besteht auf europäischer Ebene eine vermehrte völkerrechtliche Zusammenarbeit, was zur Herausbildung von territorialem „europäisiertem“ Völkerrecht führt. Eine andere Art der „Europäisierung“ des Völkerrechts hat jedoch weitreichendere Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung. Bei dieser „Unionalisierung“ geht es darum, dass gewisse Normen des Völkerrechts zugleich Teil des Unionsrechts sind. Die Rechtsordnungen der EU‑Mitgliedstaaten sind nämlich auch durch völkerrechtliches Handeln der EU selbst determiniert. Die völkerrechtlichen Akte der EU binden die Mitgliedstaaten aber nicht völkerrechtlich, sondern sind regelmäßig aufgrund der Bindung an das Unionsrecht zu beachten. Dies führt zu zahlreichen Fragen hinsichtlich des Verhältnisses des Unionsrechts zum Völkerrecht. Die folgenden Überlegungen können diese Fragen nicht abschließend beantworten, sondern sollen –passend zur 53. Assistententagung in Bern – einige zusätzliche Denkanstöße bieten.
Ausgangspunkt: Völkerrecht als integraler Bestandteil des Unionsrecht
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH bilden völkerrechtliche Übereinkommen der EU einen „integralen Bestandteil“ des EU-Rechts[1], soweit der in dem Übereinkommen geregelte Gegenstand in die Zuständigkeit der EU fällt. Als Bestandteil des EU-Rechts kommen völkerrechtlichen Verträgen der EU dieselben Wirkungen zu wie sonstigem Unionsrecht. Dies steigert die Durchsetzbarkeit der völkerrechtlichen Verpflichtungen und erhöht somit ihre Effektivität: Denn einerseits können die derart europäisierten völkerrechtlichen Vorschriften unter denselben Voraussetzungen wie sonstiges Unionsrecht vom Anwendungsvorrang profitieren. Andererseits kommen nicht nur die klassischen, völkerrechtlichen Sanktionen, sondern auch die „Einhaltungsmechanismen“ des Unionsrechts zum Tragen: So stellt ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen ein europäisiertes Übereinkommen gleichzeitig einen Verstoß gegen Unionsrecht dar, der (durch die EK) mittels Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH gerügt werden kann.
Zuständigkeit des EuGH im Verhältnis zu nationalen Gerichten
Fraglich ist nun aber, wer für die „endgültige“ Auslegung der damit angesprochenen „europäisierten“ völkerrechtlichen Verträge zuständig ist. Im Verhältnis zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten ist dies, soweit die Vorschriften in den Zuständigkeitsbereich der EU fallen und somit Teil des Unionsrechts sind, der EuGH. Ihm kommt im Verhältnis zu den mitgliedsstaatlichen Gerichten ein Auslegungsmonopol hinsichtlich des gesamten Unionsrechts zu. Fällt eine Bestimmung jedoch nicht in die Zuständigkeit der EU, sondern (auch) in den Kompetenzbereich der Mitgliedsstaaten, ist diese Bestimmung – so könnte man annehmen – nicht Bestandteil des Unionsrechts und der EuGH ist grundsätzlich auch nicht für ihre Auslegung zuständig. Weitgehend unabhängig von kompetenziellen Erwägungen erachtet sich der EuGH aber dennoch in mehreren Konstellationen als für die Auslegung von Bestimmungen in gemischten internationalen Übereinkommen zuständig:
So einerseits, wenn es sich bei einer auszulegenden Bestimmung um eine „kompetenzneutrale“[2] Vorschrift handelt, die gleichermaßen auf rein innerstaatliche wie auch auf unionsrechtlich determinierte Sachverhalte zur Anwendung kommt.[3]
Andererseits geht der EuGH aber auch dann von seiner Zuständigkeit aus, wenn die fragliche Vorschrift in einen „weitgehend vom Unionsrecht erfassten Bereich“ [4] fällt. Dies ist dann der Fall, wenn in einem Bereich bereits mehrere Sekundärrechtsakte erlassen wurden, auch wenn diese nicht unmittelbar der Umsetzung der auszulegenden Vorschrift dienen.
Zuständigkeit des EuGH im Verhältnis zu internationalen Spruchkörpern
Aber auch das Verhältnis zu internationalen „Gerichten“[5] gestaltet sich spannend. Abseits klassischer internationaler („Verfassungs-“)Gerichte, wie dem EGMR, finden sich im Völkerrecht zahlreiche Spruchkörper, deren Aufgabe die (z.T. verbindliche) Auslegung völkerrechtlicher Übereinkommen ist. Neben dem WTO Dispute Settlement Mechanism werden z.B. auch in multilateralen Umweltabkommen häufig Überwachungsgremien eingerichtet, welche die zugrundliegende Übereinkommen auslegen.[6]
Während der EuGH aus unionsrechtlicher Perspektive einen Vorrang seiner Zuständigkeit zur Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts postuliert[7], und dabei insbesondere das Primärrecht gegenüber dem Völkerrecht abgrenzt[8], fällt eine Beurteilung aus völkerrechtlicher Perspektive (abhängig von den Befugnissen und der institutionellen Ausgestaltung der fraglichen internationalen Instanz) möglicherweise anders aus. Das bestehende (Norm-)Konfliktpotential wird aber derzeit durch gegenseitige Rücksichtnahme und Dialog zwischen den Gerichten nur selten ausgereizt, auch wenn der EuGH bei der expliziten Bezugnahme auf die Spruchpraxis „externer“, völkerrechtlicher Instanzen (mit Ausnahme des EGMR) eher zurückhaltend agiert.
Fazit
Das Verhältnis des Völkerrechts zum Unionsrecht gestaltet sich ambivalent. Betrachtet man die diesbezügliche Rsp. des EuGH, so lässt sich feststellen, dass der Gerichtshof bei der Annahme seiner eigenen Auslegungszuständigkeit äußerst großzügig vorgeht. Im Verhältnis zum mitgliedsstaatlichen Recht führt die „Europäisierung“ u.U. – abhängig von der Stellung des Völkerrechts in der nationalen Rechtsordnung – zu einer Wirksamkeitssteigerung des Völkerrechts. Auch in Hinblick auf das Verhältnis zum Völkerrecht kommt es u.U. zu einer Effektivitätssteigerung, insb. dann, wenn sich im Völkerrecht selbst keine effektiven Sanktionsmechanismen finden. Ist dies aber der Fall – so z.B., wenn ein völkerrechtliches Übereinkommen eigene Instanzen zur Überwachung der Einhaltung des Übereinkommens vorsieht – ist das Verhältnis des „europäisierten“ Völkerrechts zum Unions(primär)recht von weitaus mehr Spannungen gekennzeichnet, die sich nicht zuletzt aus der besonderen Rolle, die der EuGH sich bei der Wahrung des Unionsrechts zuschreibt, ergeben. Fraglich ist, wer in diesem Verhältnis „das letzte Wort“ hat und wie der EuGH sich verhält, sollte es zu einem Konflikt zwischen seiner Auslegungspraxis und der Spruchpraxis einer internationalen Instanz kommen.
[1] Z.B. EuGH 30.04.1974, Rs 181/73 (Haegeman) Rn. 2/6; aus der aktuelleren Rsp. z.B. EuGH 08.03.2011, Rs C-240/09 (Lesoochranárske zoskupenie VLK) Rn. 30; EuGH 21.12.2012, Rs C-366/10 (Air Transport Association of America) Rn. 73.
[2] Marcus Klamert, Dark Matter – Competence, Jurisdiction and „the Area Largely Covered by EU Law“: Comment on Lesoochranárske, European Law Review 2012, 340 (344).
[4] EuGH 08.03.2011, Rs C-240/09 (Lesoochranárske zoskupenie VLK) Rn. 36; noch zum Gemeinschaftsrecht EuGH 07.10.2004, Rs C-239/03 (Étang de Berre) Rn. 28.
[5] Der Begriff „Gericht“ wird hier weit verstanden, s. dazu z.B. Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, Beyond Dispute: International Judicial Institutions as Lawmakers, German Law Journal 2011, 979 ff.
[6] Z.B. das Aarhus Convention Compliance Committee der Aarhus-Konvention über Umweltinformation, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz im Umweltrecht, das in quasi-gerichtlichen Verfahren über die Einhaltung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien befindet, < http://www.unece.org/env/pp/cc.html>; auf die Spruchpraxis des Compliance Committees wurde erst kürzlich von GAin Kokott Bezug genommen, SA Kokott 18.10.2012, Rs C-260/11 (Edwards) Rn 23, 36, 44 f.
[8] Z.B. EuGH 03.09.2008, Rs C-402/05 P (Kadi) Rn 282 ff.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Der Beitrag stellt die interessante Frage, wie eine differierende Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen einem hierzu eingerichteten Spruchkörper einerseits und dem EuGH andererseits zu lösen wäre. Auch wenn mir momentan eine handhabbare Lösung nicht einfällt, so ist mir folgendes aufgefallen:
Um die Ausgangsfrage zu erfassen, bedarf es der Klärung der wichtigen Vorfrage, ob es überhaupt zu einer solchen „Konkurrenz der Gerichte“ kommen kann. Daran könnte gezweifelt werden, weil der EuGH nur Europarecht auslegen kann. Auch wenn die EU ihrerseits Partei eines völkerrechtlichen Vertrages wird, so werden die sich aus dem völkerrechtlichen Vertrag ergebenen Regeln Unionsrecht, die lediglich ihren historischen Ursprung im Völkerrecht haben. Aus Sicht des EuGH und der EU-Mitgliedstaaten handelt es sich bei den völkervertraglichen Regeln aber nicht (mehr) um Völkerrecht, sondern um reines Europarecht. Genau genommen ist also die durch den EuGH und den eingerichteten Spruchkörper auszulegende Norm nicht identisch, da der Spruchkörper Völkerrecht auslegt und der EuGH Europarecht. Zu einer differierenden Auslegung kann es daher in dieser Konstellation gar nicht kommen.
Es kann sich jedoch eine „Konkurrenzsituation“ für einen EU-Mitgliedstaat entwickeln, wenn einerseits die EU Partei eines völkerrechtlichen Vertrages ist und andererseits der EU-Staat, der sich zudem auch den verbindlichen Entscheidungen des Spruchkörper unterworfen hat. Die Konkurrenzsituation tritt dann auf, wenn ein und derselbe Sachverhalt von EuGH und Spruchkörper rechtlich bewertet wird und beide Institutionen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Der EU-Staat fände sich „zwischen den Stühlen“ wieder: Einerseits hat der EU-Staat der Entscheidung des Spruchkörpers zu folgen, andererseits hat er die Entscheidung des EuGH zu befolgen.