Können Unionsbürger*innen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden?

von KEVIN FREDY HINTERBERGER

Autorenfoto HinterbergerDer österreichische Außenminister Sebastian Kurz ließ in der vergangenen Woche mit einer Forderung aufhorchen: Ginge es nach ihm, so würde er Unionsbürger*innen Sozialleistungen innerhalb der ersten fünf Jahre nach Zuzug streichen. Diese Forderung ist unter anderem im größeren Kontext zu den Reformplänen der Kommission im Hinblick auf die Koordinierung der Sozialsysteme zu sehen. Auch in anderen EU-Staaten werden die Sozialleistungen für Unionsbürger*innen seit einiger Zeit diskutiert. So hat beispielsweise Deutschland im vergangenen Jahr den Bezug von Sozialleistungen in den ersten fünf Jahren des Aufenthalts deutlich eingeschränkt. So weit wie Kurz, der einen pauschalen Ausschluss von allen Leistungen für alle Unionsbürger*innen während der ersten fünf Jahre will, ging aber bislang noch niemand. Dafür wurde er auch vehement kritisiert. Es stellt sich die Frage, ob die Forderung rechtlich überhaupt umsetzbar wäre? Wäre sie mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar?

Wie lauten die derzeitigen rechtlichen Regelungen?

Im Unionsrecht wird als Sozialleistung jede existenzsichernde, öffentliche Unterstützungsleistung verstanden, die unter den in Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie festgelegten Begriff der „Sozialhilfe“ zu subsumieren ist (siehe EuGH, Rs. 67/14 (Alimanovic), Rn. 44-46). Das allgemeine Recht auf Freizügigkeit von Unionsbürger*innen will Kurz nach eigener Aussage nicht angreifen. Es gehe ihm vielmehr darum zu unterstreichen, dass man sich in der EU nicht „das beste Sozialsystem aussuchen“ könne. Nur wer zuerst (etwas) einbezahlt hat, soll dann auch aus dem Leistungstopf schöpfen können. Er bezieht sich bei seinem Vorschlag explizit nur auf beitragsunabhängige Sozialleistungen, da er selbst zu bedenken gibt, dass Versicherungsleistungen – wie in Österreich bspw die Notstandshilfe – nicht gestrichen werden könnten.

Die zentralen rechtlichen Grundlagen des Anspruchs auf Sozialleistungen von Unionsbürger*innen ergeben sich aus dem komplexen Zusammenspiel von Aufenthaltsrecht und sozialer Gleichbehandlung. Um dieses möglichst anschaulich darzulegen, wird Kurz‘ Vorschlag anhand von vier Fallkonstellationen beleuchtet. Im Ergebnis kann bereits vorweggenommen werden, dass der Vorschlag des österreichischen Außenministers mit dem geltenden Unionsrecht unvereinbar ist, weil hierzu eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie nötig wäre. Überdies ist er rechtspolitisch verfehlt, da er die Grundidee der inklusiven Unionsbürger*innenschaft und des Freizügigkeitsrechts unterminiert.

Nicht erwerbstätigte Unionsbürger*innen, die maximal drei Monate zu Besuch bleiben

Unionsbürger*innen sind zu einem kurzfristigen Aufenthalt bis zu drei Monate in jedem Mitgliedstaat berechtigt (Art. 6 Freizügigkeitsrichtlinie). Dieses dreimonatige Aufenthaltsrecht besteht, solange Unionsbürger*innen und ihre Familienangehörigen die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen (Art. 14 Abs. 1 Freizügigkeitsrichtlinie; zur Kritik an EuGH, Rs. C-299/14 (García-Nieto) siehe hier und hier). Vereinfacht ausgedrückt, dürfen die Mitgliedstaaten nicht erwerbstätigten Unionsbürger*innen Sozialleistungen innerhalb der ersten drei Monate versagen.

Erwerbstätige Unionsbürger*innen

Erwerbstätige Unionsbürger*innen kommt ab einem längerfristigen Aufenthalt von mehr als drei Monaten ein Aufenthaltsrecht zu (Art. 7 Freizügigkeitsrichtlinie). Gleichzeitig haben sie ab Beginn der Erwerbstätigkeit – aufgrund des Aufenthaltsrechts – Anspruch auf sozialrechtliche Gleichbehandlung (Art. 4 Verordnung (EG) 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 Verordnung (EU) 492/2011, siehe auch hier). Dieser Anspruch besteht jedenfalls während der gesamten Dauer der Erwerbstätigkeit und zumindest sechs Monate nach dem Ende ihrer letzten Beschäftigung. Das heißt, dass erwerbstätigte – im Gegensatz zu nicht erwerbstätigen – Unionsbürger*innen ab dem ersten Tag ihrer Erwerbstätigeneigenschaft Anspruch auf beitragsunabhängige Sozialleistungen haben.

Nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen

Unionsbürger*innen, die die Erwerbstätigeneigenschaft nicht besitzen, müssen die Voraussetzungen gem. Art. 7 Freizügigkeitsrichtlinie erfüllen, um ein Aufenthaltsrecht erwerben zu können. Hierbei handelt es sich um ausreichende Existenzmittel und eine Krankenversicherung. Aus dem Aufenthaltsrecht lässt sich dann ein Anspruch auf Sozialleistungen ableiten. Unstrittig ist, dass das längerfristige Aufenthaltsrecht solange besteht, wie die ökonomischen Voraussetzungen vorliegen.

Nicht erwerbstätigte Unionsbürger*innen haben aber gleichzeitig keinen Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu Sozialleistungen, wenn sie die ökonomischen Voraussetzungen und die Erwerbstätigeneigenschaft nicht erfüllen, da sie dann nicht im Besitz eines Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Freizügigkeitsrichtlinie sind. Sie könnten lediglich ein Aufenthaltsrecht nach Art. 14 Abs. 4 lit. b Freizügigkeitsrichtlinie vorweisen, wenn sie mit begründeter Aussicht auf Einstellung arbeitsuchend sind. Ganz grundsätzlich bedeutet dies, dass Unionsbürger*innen in einer gewissen Art und Weise „ökonomisch abgesichert“ sein müssen, um ihr Freizügigkeitsrecht ausüben zu können. Ökonomisch schlecht gestellte Personen werden so zunehmend von den Freizügigkeitsrechten ausgeschlossen, die doch eigentlich zum „grundlegenden Status“ (EuGH, Rs 184/99 (Grzelczyk),Rn. 31) aller Unionsbürger*innen gehören sollten. Zumindest geht aus Freizügigkeitsrichtlinie klar hervor, dass die Mitgliedstaaten nicht systematisch überprüfen dürfen, ob ausreichend Existenzmittel vorliegen. Vielmehr darf eine solche Überprüfung nur aus gegebenem Anlass erfolgen, wie etwa aufgrund der Stellung eines Sozialleistungsantrages. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Aufnahmemitgliedstaat darf weiters nicht automatisch zu einer Ausweisung führen (Art. 14 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie). Der EuGH hat schon mehrfach bestätigt, dass es bei längerfristigen Aufenthaltsrechten nach Art. 7 Freizügigkeitsrichtlinie immer einer konkreten, einzelfallabhängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung hinsichtlich des Wegfalls des Aufenthaltsrechts bedarf.

Arbeitssuchende Unionsbürger*innen

Anders verhält es sich für arbeitssuchende Personen. Sie kommen zwar in den Genuss eines Aufenthaltsrechts, wenn sie mit begründeter Aussicht auf Arbeitssuche sind. Der EuGH hat aber im Fall Alimanovic (zur Kritik an EuGH, Rs. 67/14 (Alimanovic) siehe hier) festgestellt, dass arbeitssuchende Unionsbürger*innen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können (Rn. 56-58). In diesem Zusammenhang ist Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie einschlägig. Zumindest während der ersten sechs Monate nach dem Ende der letzten Erwerbstätigkeit ist eine sozialrechtliche Gleichbehandlung geboten (Rn. 53-54). Nach diesem Zeitraum besteht kein Anspruch auf Sozialleistungen für arbeitssuchende Unionsbürger*innen. Trotzdem ist auch gegenüber arbeitssuchenden Personen eine Ausweisung unzulässig, insofern sie weiterhin eine Arbeit mit begründeter Aussicht auf Einstellung suchen (Rn. 56).

Fazit

Was bedeutet dies nun konkret in Bezug auf den Vorschlag von Sebastian Kurz, die Sozialleistungen für alle Unionsbürger*innen innerhalb der ersten fünf Jahre nach Zuzug zu streichen?

Nach der derzeitigen Fassung der Freizügigkeitsrichtlinie steht ein pauschaler Ausschluss aller Unionsbürger*innen im direkten Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben und wäre daher rechtswidrig. Lediglich für Unionsbürger*innen, die nicht mehr als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat verweilen und nicht erwerbstätig sind (Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie), ist der Ausschluss von Sozialleistungen derzeit mit dem Unionsrecht vereinbar. Dies geht aus dem García-Nieto-Urteil des EuGH (Rs. C-299/14, zur Kritik siehe hier und hier) hervor. Im Hinblick auf Erwerbstätige wäre der Ausschluss jedenfalls rechtswidrig. Arbeitssuchende dürften innerhalb der ersten sechs Monate nach Enden der Erwerbstätigkeit ebenfalls nicht von Sozialleistungen ausgeschlossen werden, danach aber sehr wohl.

Sollte also der Vorschlag in der geforderten Form für alle Unionsbürger*innen umgesetzt werden, wäre hierfür eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat erforderlich. Die Fragen, ob diese sodann den primärrechtlichen Anforderungen, speziell Art. 18 und 21 AEUV, genügen und welche Spielräume der Unionsgesetzgeber bei der Festlegung der Bedingungen und Grenzen der Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) besitzt sollen an dieser Stelle nicht im Detail beantwortet werden.

Jedenfalls ist die Forderung aber auch aus rechtspolitischer Sicht abzulehnen, denn sie geht zulasten der Idee der inklusiven Unionsbürger*innenschaft und dem Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger*innen, dass teilweise jetzt schon nur mehr ökonomisch abgesicherten Personen zukommt. Es braucht vielmehr eine soziale europäische Ebene und keinen Rückzug in nationalistisch-protektionistische Politiken, um die Grundwerte der EU sinnvoll erhalten zu können. Unionsbürger*innen sollten in dem Sinne nicht nur Rechte eingeräumt, sondern auch Verpflichtungen – wie bspw. schon bisher das ernsthafte Suchen nach einer Arbeit, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts zu kommen – auferlegt werden (können). Gerade aber bei Sozialleistungen anzusetzen und diese pauschal zu streichen scheint hier nicht der richtige Weg zu sein, da dies doch vor allem ökonomisch schlechter gestellte Personen am härtesten trifft.


 

Der Beitrag ist zuerst erschienen auf blog.arbeit-wirtschaft.at

Europa, Europarecht, Freizügigkeit, Kevin Fredy Hinterberger, Sozialleistungen, Sozialpolitik, Unionsbürger*innen, Verteilungs-Gerechtigkeit
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