Deal oder „Deal“? – Das „Ofarim-Verfahren“ im Weitwinkel

von MAX KLARMANN

Verfahrensbeendende Entscheidungen durch Absprachen sind in Strafverfahren in unterschiedlichen Ausprägungen Bestandteil der Rechtspraxis. Hierbei lassen sich justizielle Tendenzen erkennen, informalisierte Formen der Verfahrensbeendigung zu priorisieren. Dies gilt insbesondere im (Miss-)Verhältnis von § 153a StPO zu § 257c StPO. Dieses Vorgehen steht gesetzgeberischen Intentionen entgegen und kann darüber hinaus Irritationen in der Außenwirkung hervorrufen. Die Maßstäbe für formale Voraussetzungen von Absprachen im Strafverfahren müssen daher von Gesetzgeber und Rechtsprechung neu austariert werden.

Der „Fall Ofarim“

Der Sänger und Schauspieler Gil Ofarim musste sich seit dem 07.10.23 u.a. dem Vorwurf der falschen Verdächtigung (§164 Abs. 1 StGB) vor dem Landgericht Leipzig stellen. Der Anklage lag ein von Ofarim am 05.10.2021 auf seinem Instagram-Profil geteiltes Video zugrunde. Darin beschuldigte er einen Hotelmanager, ihm aus antisemitischen Gründen den Zutritt zum Hotel verweigert oder erschwert zu haben. Später erstattete der Sänger auch Anzeige.

Der Angeklagte beharrte bis zum Prozessauftakt auf seiner Schilderung des Geschehens und äußerte sich zunächst in der Hauptverhandlung nicht zur Sache. Am sechsten Verhandlungstag gestand er den Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft durch kurze Bestätigung des Tatvorwurfs überraschend ein. Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagter stimmten einer Einstellung des Verfahrens gem. § 153a Abs. 2 StPO gegen Zahlung einer Geldauflage von 10.000 Euro zu. Die Entscheidung ist bisher nicht rechtskräftig, die Frist zur Erbringung der Auflage wurde zuletzt bis zum 28.08.24 verlängert. Das Gericht führte in seiner Begründung aus, die Beweiserhebung habe zu einer zuverlässigen Feststellung des wahren Sachverhalts geführt, das Geständnis von Ofarim sei glaubhaft. Der Verfahrensverlauf wurde von erheblicher Medienpräsenz begleitet, polarisierende Meinungen über den Verfahrensverlauf waren schnell zugegen.

Deal oder Verständigung?

Mit der Verständigung in Strafverfahren hat der Gesetzgeber seit 2009 rechtsstaatliche Kriterien für die Erledigung durch Konsens statuiert. Diese wurden 2013 durch das Bundesverfassungsgericht konkretisiert. Hintergrund der gesetzlichen Verankerung der Verständigung war die bestehende Praxis des „Deals“ der 1970er-Jahre als Form einer gesetzwidrigen informellen Abrede. Nunmehr ermöglicht die Verständigung eine verfahrensbeendende Entscheidung zwischen Gericht und Angeklagtem unter Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Kernstück der Verständigung ist das Geständnis, das „Bestandteil jeder Verständigung“ sein soll (§ 257c Abs. 2 S. 2) und auch rechtstatsächlich von elementarer Bedeutung erscheint. Durch das Verständigungsgesetz sowie die Rechtsprechung von BVerfG und BGH wird insbesondere die Notwendigkeit der Transparenz von Verständigungsbemühungen im Strafverfahren deutlich.

Ofarims Strafverteidiger Alexander Stevens teilte nach Abschluss der Hauptverhandlung explizit mit, eine solche Verständigung nach § 257c StPO habe nicht stattgefunden. Vielmehr handle es sich bei der Einstellung gem. § 153a StPO um eine „Art Deal“, die auf Initiative des Gerichts erfolgt sei. Dabei scheint die Verständigung im Sinne des § 257c StPO auf den ersten Blick dem Interesse der Beteiligten zu entsprechen. Die Verfahrensdauer und die weitere Beweisaufnahme konnten abgekürzt werden. Das Geständnis Ofarims scheint ausweislich des gerichtlichen Beschlusses für die Einstellungsentscheidung von zentraler Bedeutung gewesen zu sein.

Vorzüge des informellen Kommunikationsraums

Wenngleich die von Stevens gewählte Terminologie vor dem Spiegel der Ursprünge des Verständigungsgesetzes zur Verwunderung anregen kann, tut es das Vorgehen der Verfahrensbeteiligten mit Blick auf die Voraussetzungen des § 153a StPO kaum: Durch die Einstellungsentscheidung gegen Auflagen erfolgt keine positive Feststellung der Schuld und keine Widerlegung der Unschuldsvermutung. Neben der Zustimmung von Gericht, Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem bedarf es für die Anwendung von § 153a StPO eines Vergehens (iSd § 12 Abs. 2 StGB), einer Beseitigung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung und keine entgegenstehende Schwere der Schuld. Die einzelnen Merkmale bleiben dabei aber derart vage, dass den Beteiligten ein weitreichender Beurteilungsspielraum zukommt. Eine Begründung der Entscheidung ist nicht erforderlich. Kein notwendiges Merkmal der Einstellung nach § 153a StPO ist ein Geständnis des Angeklagten. Eine entsprechende Forderung durch die Staatsanwaltschaft erscheint in der Praxis gleichwohl nicht ungewöhnlich.

Dies führt mitunter zu paradoxen Konstellationen, wenn eine geständige Einlassung im Verfahren nachträglich nicht als Geständnis im eigentlichen Sinne anerkannt, sondern lediglich als prozesstaktisches Vorgehen deklariert wird. Beruft sich der Angeklagte nach Verfahrensabschluss auf seine Unschuld, wird er trotz seines Geständnisses im Verfahren formell durch die gerichtliche Entscheidung bestätigt. Auch Stevens lies nach Verfahrensende über soziale Medien verlautbaren, die juristische und tatsächliche Wahrheit seien nicht immer deckungsgleich, denn auch die „Angst vor einer ungerechtfertigten Verurteilung“ könne ein Motiv für die Unterwerfung unter die gerichtliche Entscheidung sein.  

Die Suche nach „der“ Wahrheit bleibt im Strafverfahren ohnehin auf eine „prozessual-forensische“ Form von Wahrheit beschränkt. Das Strafverfahren unterliegt einer Vielzahl von erkenntnistheoretischen und erkenntnispraktischen Einschränkungen. Besonders deutlich tritt dies in Bezug auf die eingeschränkte Wahrnehmbarkeit von Zeugen und die Unerreichbarkeit von Beweismitteln hervor. Hinzu kommen gesetzliche Schranken der Sachverhaltsermittlung und Beweisverwertung, die im Zielkonflikt zwischen staatlichen und individualschützenden Interessen eines adäquaten Ausgleichs bedürfen – beispielweise dürften nur wenige für die Androhung von Folter im Strafverfahren plädieren, selbst wenn sie der Suche nach einer historischen Wahrheit in konkreten Kontext dienlich erscheint. Die Einstellung nach § 153a StPO schränkt die Suche nach einer historischen Wahrheit bereits konzeptionell weiter ein. Sie stellt in Aussicht, das Interesse an weiterführender Aufklärung werde durch die Erfüllung der Auflage beseitigt. Das Geständnis kann im Rahmen der Einstellungsentscheidung nach § 153a StPO jedoch einen Widerspruch zwischen verfahrensinterner und verfahrensexterner Perspektive erzeugen, bei der beide in ein Alternativverhältnis treten. Das gilt insbesondere dann, wenn sich das Geständnis lediglich in der Bestätigung des Tatvorwurfs erschöpft und zum Geständnis führende Verfahrensdynamik nicht transparent wird.  Irritationen in der öffentlichen Wahrnehmung und eine Distanzierung zu den Verfahrensvorgängen erscheinen als nachvollziehbare Konsequenz.

Das Verhältnis von § 153a Abs. 2 StPO zu § 257c StPO liegt de lege lata in der Verantwortung der Rechtsanwender. Dabei kann auch eine Einstellung nach § 153a StPO grundsätzlich Inhalt einer Verständigung sein, unterliegt dann aber deren formellen Voraussetzungen. Verfahrensökonomische Motive laden daher dazu ein, den geringfügig formalisierten und weniger „fehleranfälligen“ Raum des § 153a Abs. 2 StPO zu betreten und damit einhergehende Transparenz und Dokumentationspflichten zu vernachlässigen. Es findet eine „Flucht in die Opportunität“ statt (vgl. Jahn, in Barton/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, 2015, S. 48 mwN). Gleichsam ist der Einstellungsbeschluss gem. § 153a Abs. 2 S. 4 StPO nicht anfechtbar und entzieht sich damit auch einer nachträglichen Rationalisierung durch eine Rechtsmittelinstanz.

Zwar wird die Einstellungsentscheidung gem. § 153a Abs. 2 StPO aufgrund gesetzlicher Grundlage nicht in die gesetzeswidrige Geheimsphäre des „Deals“ der 1970er Jahre zurückgedrängt. Durch den Mangel an Formalbedingungen entsteht jedoch ein informeller Kommunikationsraum, der sich mit präventiven Erwägungen und Partikularinteressen der Verfahrensbeteiligten füllen lässt. Effizienzerwägungen und Entscheidungssymbolik erlangen einen besonderen Stellenwert. Kommt es in diesem Kontext zu einem Geständnis, sind die Einwirkungen auf und die Interessen des Angeklagten von besonderem Interesse. Dies entspricht auch dem gesetzgeberischen und höchstrichterlichen Anliegen nach Transparenz bei Absprachen im Strafverfahren. Bezugspunkte hierfür bilden das Verfahren selbst und die nachträgliche Rationalisierungsmöglichkeit einer Kontrollinstanz. Beide sind der Entscheidung gem. § 153a StPO nicht zugänglich.

(Irr-)Wege konsensorientierter Verfahrensbeendigung

Die übermäßige Formalisierung der Verständigung in ihrer durch das BVerfG manifestierten Ausgestaltung begünstigt die Verschiebungen in andere auf Absprachen basierende Verfahrensmodelle. Gleichsam hat sich § 153a StPO zu einem schwerlich begrenzbaren Verfahrenstypus entwickelt, der weite Räume der Vergehenskriminalität einer weiterführenden, strafverfahrensrechtlichen Sachverhaltsaufklärung intransparent entziehen kann.  

Mag man diesen Befund nicht als wissenschaftliches Neuland betrachten, so scheint er bisher jedenfalls nicht ausreichend beachtet. Das Ofarim-Verfahren bietet Anlass dazu, das strukturelle Missverhältnis zwischen § 153a StPO und § 257c StPO erneut zu benennen. Darüber hinaus sollten übergeordnete Maßstäbe für das notwendige Maß an Formalität von Absprachen im Strafverfahren formuliert werden. Dabei können die Voraussetzungen an die jeweilige unterschiedliche Entscheidungsform durchaus abweichen, bedürfen aber einer Harmonisierung in Hinblick auf ihre Anwendungspraxis, um einseitige Verschiebungen zu Lasten von Transparenz im Verfahren zu vermeiden. Zur Konkretisierung dieser Maßstäbe muss die qualitative Forschung zu § 153a StPO gestärkt werden, um die Dynamiken und Beweggründe der Einstellungspraxis genauer noch in den Blick zu nehmen. Diese könnten eine wertvolle Grundlage bilden, um Formalität und Informalität in ein rechtsstaatliches und gleichsam praktikables Gleichgewicht zu bringen.

Zitiervorschlag: Klarmann, Max, Deal oder „Deal“? – Das „Ofarim-Verfahren“ im Weitwinkel, JuWissBlog Nr. 47/2024 v. 25.07.2024, https://www.juwiss.de/47-2024/.

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