Der Digitalcourage Verein hat vor Kurzem eine Petition gestartet, in der er beabsichtigt, den Gleichheitssatz des Art. 3 GG um ein Verbot zu ergänzen. Dadurch will der Verein verhindern, dass Personen bei Fragen der Grundversorgung benachteiligt werden, wenn sie keine digitale Infrastruktur nutzen möchten oder mangels technischen Verständnisses bzw. mangels Ausstattung diese nicht nutzen können. Eine solche Idee ist kein Novum – auf EU-Ebene wird bereits seit 2016 eine Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union diskutiert, die in ihrem Art. 3 ebenfalls ein ähnliches Gebot vorsieht. In Art. 14 Abs. 2 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein fand dieser Gedanke sogar bereits Umsetzung. Dennoch überzeugt die Idee einer Grundgesetzänderung nicht – die deutsche Verfassung bietet außerdem bereits ausreichend Schutz.
Was ist Digitalzwang?
Laut dem Digitalcourage e.V. liege Digitalzwang vor, sofern nur eine digitale Möglichkeit bestünde, an ein Produkt oder eine Dienstleistung zu gelangen, obwohl der analoge Weg umsetzbar wäre. Dabei solle zwischen der Intensität von Digitalzwang unterschieden werden. Das reiche vom Zwang zur Abgabe von Daten über den Zwang, sich ein Konto zu erstellen oder sogar eine App zu installieren bis zum absoluten Ausschluss einer analogen Vorgehensweise. Letzteres stelle die stärkste Form des Digitalzwangs dar. Als Beispiele für die verschiedenen Formen nennt der Verein die Notwendigkeit der Nutzung von Cookies auf Websites als Datenabgabezwang, den Zwang zur Erstellung eines Kontos auf Bewerbungsplattformen oder zum Kauf eines Bahntickets und – als völligen Ausschluss einer analogen Alternative – den Erwerb von Konzertkarten.
Wie könnte eine Änderung des Art. 3 GG aussehen?
Der Verein hat nicht spezifiziert wie der Art. 3 GG konkret geändert werden soll. Systematisch macht das Einfügen des neuen Verbots allerdings nur im dritten Absatz Sinn. Denn Art. 3 Abs. 1 GG enthält den gezielt allgemein gehaltenen Gleichheitssatz, während Art. 3 Abs. 2 und 3 GG spezielle Gleichheitssätze aufstellen. Eine Ergänzung des Grundgesetzes hinsichtlich der Ungleichbehandlung durch Digitalzwang wäre eine spezifische Regelung, die schon systematisch nur in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG Platz finden kann, wo sich eben spezielle Gleichheitssätze befinden. Der Art. 3 Abs. 2 GG befasst sich dabei mit der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. Dieses Thema ist der Frage nach Digitalzwang fremd, sodass dazu nur der Art. 3 Abs. 3 GG für eine Änderung bleibt.
Wie uns das Grundgesetz vor Ungleichbehandlungen schützt
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. So bestimmt Art. 3 Abs. 1 GG den allgemeinen Gleichheitssatz. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert in ständiger Rechtsprechung, dass diese Grundrechtsvorschrift vorschreibe, dass wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden müsse. Wenn der Staat davon abweicht, muss er gerechtfertigt sein. Wie streng die dazu nötige Verhältnismäßigkeit beurteilt werden muss und ob es nicht schon ausreicht, dass der Staat nur nicht willkürlich handelt, richtet sich nach dem Gegenstand der Regelung und den Merkmalen, wegen welchen differenziert wird. Insofern muss zwischen diversen Fallstellungen differenziert werden.
Abwägungsaspekte im Einzelfall
Vor den Gerichten stand bereits der Fall, dass Corona-Soforthilfen für freischaffende Künstler nur online beantragt werden konnten (VG Würzburg, Urteil v. 18.01.2021 – W 8 K 20.814, BayVGH, Beschl. v. 05.08.2020 – 6 CE 20.1677). Das VG Würzburg entschied, dass kein Anspruch auf analoge Antragsstellung bestünde, da das Künstlerhilfsprogramm ein Massenverfahren sei und die Prozessökonomie im Interesse aller anderen Antragsstellenden dies gebiete. Dem ist zuzustimmen. Sofern ein Massenverfahren angebracht ist, um möglichst vielen Personen möglichst schnell dringend benötigte Hilfe zukommen zu lassen, würden analoge Anträge die Verfahrensgeschwindigkeit insgesamt bremsen. Sie müssten nämlich mit mehr Aufwand bearbeitet werden und somit kämen Behörden schneller an ihre Arbeitskapazitätsgrenzen. In Konsequenz erhalten dann alle Antragsstellenden existenzentscheidende Hilfszahlungen erst mit Verzögerung – ggf. zu spät. Dem ist auch nicht entgegenzuhalten, dass Personen keine hinreichende technische Ausstattung für das Internet hätten. Denn es gibt diverse öffentlich zugängliche Internetanbindungen und Geräte.
Schließt der Staat allerdings Bürgerinnen und Bürger von wesentlicheren Fragen der Grundversorgung durch Digitalzwang aus – beispielsweise von analoger gesundheitlicher Versorgung, so ist es untragbar, die Differenzierung zwischen digitaler und analoger Vorgehensweise bloß damit zu rechtfertigen, dass die digitale Alternative weniger umständlich und schneller funktioniert. Neben solchen Fällen und existenzsichernden Massenverfahren gibt es allerdings auch eine Reihe an Konstellationen, in denen nur unwesentliche Versorgungsaspekte betroffen sind. Das dürfte vor allem die Frage nach dem „Wie“ und nicht nach dem „Ob“ des Erhalts der Grundversorgung umfassen. Insbesondere muss in Kauf genommen werden, dass bei einem analogen Vorgehen längere Bearbeitungs- und Wartezeiten entstehen oder dieses verhältnismäßig teurer ist, da beispielsweise zusätzliche Kosten für Papier entstehen. Im Ergebnis steht fest: Der bereits bestehende allgemeine Gleichheitssatz schützt hinreichend gegen Ungleichbehandlungen wegen Digitalzwang und gibt Gerichten auch Raum zur Entscheidung im Einzelfall.
Geschlecht, Abstammung … Digitalzwang?
Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz befindet sich in Art. 3 Abs. 3 GG ein strengerer spezieller Gleichheitssatz. Er verbietet es grundsätzlich, die aufgelisteten Merkmale als „Anknüpfungspunkt und zur Rechtfertigung für rechtliche Ungleichbehandlungen“ zu nutzen. Dann ist eine Rechtfertigung nur in Ausnahmefällen möglich. Der Art. 3 Abs. 3 GG zählt dabei ausdrücklich Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben und religiöse und politische Anschauungen auf. Alle diese Merkmale sind höchst schützenswert und von bedeutendstem Rang. Ein explizit genanntes Recht auf ein analoges Leben im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 GG würde nicht nur aus der Reihe tanzen, sondern die symbolische Schutzwirkung dieses besonderen Gleichheitssatzes im Gesamten absenken. Es wäre ein falsches Zeichen, den Digitalzwang grundgesetzlich auf eine Ebene mit den bereits genannten Merkmalen zu setzen. Für einen in dieser Weise besonderen Schutz vor Ungleichbehandlung wegen Digitalzwang besteht auch kein weiteres Bedürfnis, da der allgemeine Gleichheitssatz die Menschen bereits hinreichend absichert.
Fazit und Ausblick
Digitalzwang ist sicherlich ein Thema, das die Rechtsprechung in der Zukunft mehr beschäftigen wird. Der Aspekt des Rechts auf ein analoges Leben ist jedoch keinesfalls vergleichbar mit den bereits aufgelisteten Merkmalen des speziellen Gleichheitssatzes, sodass eine explizite Aufnahme in das Grundgesetz nicht überzeugt. Dafür besteht auch kein Bedürfnis, denn der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG schützt bereits hinreichend vor Ungleichbehandlungen.
Zitiervorschlag: Schüpferling, Philipp, Ungleichbehandlung durch Digitalzwang, JuWissBlog Nr. 46/2024 v. 23.07.2024, https://www.juwiss.de/46-2024/.
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