WTO-Recht und Digitaler Handel: Kann die Joint Statement Initiative das Welthandelsrecht modernisieren?

von ROMAN KALIN

Die digitale Transformation der Weltwirtschaft wird in der Welthandelsorganisation (WTO) unter dem Schlagwort des globalen „E-Commerce“ seit geraumer Zeit diskutiert. Da die ambitionierte Agenda des im Jahr 1998 ins Leben gerufenen WTO Arbeitsprogramms zum E-Commerce kaum substanzielle Ergebnisse zu Tage förderte, haben sich Freihandelsabkommen zu Foren für die Governance der Digitalisierung grenzüberschreitender Handelsbeziehungen entwickelt. Angesichts eines zunehmenden Auseinanderdriftens verschiedener regionaler Templates zum sog. Digitalen Handel verhandelt die plurilaterale „Joint Statement Initiative“ (JSI) seit dem Frühjahr 2019 gemeinsame Regeln für den Handel in der Digitalökonomie.

Das WTO E-Commerce Arbeitsprogramm als Ausgangspunkt

In Anbetracht der „neuen Möglichkeiten“, die sich im schnell wachsenden Bereich des elektronischen Geschäftsverkehrs ergaben, verabschiedete die WTO-Ministerkonferenz im Jahr 1998 eine Erklärung zum globalen E-Commerce und forderte ein „umfassendes Arbeitsprogramm“, um alle handelsbezogenen Fragen im Zusammenhang mit dem globalen E-Commerce zu untersuchen (WTO, 20.05.1998, WT/MIN(98)/DEC/2). Gleichzeitig einigten sich die WTO-Mitglieder darauf, ihre Praxis vorerst beizubehalten, keine Zölle auf elektronische Übertragungen zu erheben (WTO Moratorium on Electronic Transmissions). Gemäß des ihm erteilten Mandats verabschiedete der Allgemeine Rat der WTO am 25. September 1998 ein umfassendes Arbeitsprogramm zum elektronischen Geschäftsverkehr (WTO, Work Programme on Electronic Commerce, WT/L/274). Dem Arbeitsprogramm lag dabei ein recht weit gefasster Begriff des E-Commerce zugrunde, der sich namentlich auf „Herstellung, Vertrieb, Marketing, Verkauf oder Lieferung von Waren und Dienstleistungen durch elektronische Mittel“ erstreckt (ibid., 1.3) und damit auch Aspekte des sog. Digitalen Handels erfasst.

…und alle Fragen offen

Die Aufgabenstellung des WTO-Arbeitsprogramms an den Rat für den Dienstleistungshandel (GATS-Rat), den Rat für den Warenhandel (GATT-Rat) und den Rat für die handelsbezogenen Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Rat) umfasst ein breites Spektrum an Themen, die den respektiven Umgang mit dem Querschnittsthema E-Commerce im WTO-Regelwerk betreffen. Neben den ursprünglich aufgeworfenen Fragen, wie der Klassifizierung elektronischer Übertragungen als Waren- oder Dienstleistungshandel oder den Marktzugangsverpflichtungen für die elektronische Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des GATS, befassten sich die explorativen Beratungen seit Beginn der letzten Dekade zunehmend mit Elementen der transnationalen digitalen Governance. Hierzu zählt maßgeblich die Regulierung grenzüberschreitender Datenströme angesichts der Ausbreitung potentieller Handelsbarrieren durch unilaterale Internet- und Datengovernance in nationalen Regulierungen betreffend etwa die Bereiche Cybersicherheit und Datenschutz. Zwar wurde die Bedeutung des E-Commerce anlässlich der WTO Ministerkonferenzen stets betont und auch das Zoll-Moratorium für elektronische Übertragungen turnusmäßig verlängert. Allgemein aber geriet die Arbeit unter dem Arbeitsprogramm recht schnell ins Stocken, substantielle Fortschritte wurden nicht erzielt und viele Probleme sind noch immer ungelöst.

Zur Entwicklung der plurilateralen Joint Statement Initiative

Unter den G20-Staaten herrscht ein breiter Konsens darüber, dass die WTO reformiert werden muss, um (unter anderem) den Herausforderungen des Handels in einer globalen Digitalwirtschaft gerecht zu werden (vgl. G20 Osaka Leaders’ Declaration, 8., 11.). Vor dem Hintergrund des offensichtlichen Scheiterns, zentrale Aspekte der Regulierung des Digitalen Handels im großen Rahmen zu lösen, bekundeten daher eine Reihe von WTO-Mitgliedern im Dezember 2017 ihre Absicht, Sondierungsarbeiten bezüglich künftiger E-Commerce Verhandlungen einzuleiten (WTO, Joint Statement on Electronic Commerce, 13.12.2017, WT/MIN(17)/60). In Anbetracht von „einzigartigen Möglichkeiten und Herausforderungen“ einigten sich schließlich 76 WTO-Mitglieder am Rande des Weltwirtschaftsgipfels 2019 in Davos auf plurilaterale Verhandlungen zum E-Commerce, um ein Ergebnis auf hohem Niveau zu erzielen, das auf bestehenden WTO-Vereinbarungen aufbaut und an dem möglichst viele WTO-Mitglieder beteiligt sind (WTO, Joint Statement on Electronic Commerce, 25.01.2019, WT/L/1056). Zwar kam es zu einer Reihe von Änderungen in der Teilnehmerschaft, dennoch vereinigt die Initiative mit insgesamt 86 Teilnehmern einen Großteil des internationalen Handelsvolumens und hat bereits mehrere Verhandlungsrunden unter der gemeinsamen Leitung von Australien, Singapur und Japan durchlaufen. Ein konsolidierter Textentwurf wurde im Dezember 2020 plangemäß in Umlauf gebracht.

Divergierende Templates zum Digitalen Handel

Tatsächlich zeigt bereits der hier nur sehr oberflächlich zu leistende Blick auf die zu Beginn der plurilateralen Verhandlungen veröffentlichten Kommunikationen der drei großen Handelsakteure USA, EU und China, dass die in den respektiven Freihandelsabkommen eingeschlagenen Herangehensweisen an die Regulierung des Digitalen Handels auch den plurilateralen Diskussionen als Grundlage dienen. Der regulatorisch geprägte EU-Vorschlag erstreckt sich auf eine breite Palette von Themen, die von Bestimmungen über elektronische Verträge, Authentifizierung und Signaturen über Verbraucherschutz und unaufgeforderte elektronische Nachrichten bis hin zur Weitergabe von oder den Zugang zu Quellcode, Fragen des grenzüberschreitenden Datenverkehrs und hier insbesondere den Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre reichen (Joint Statement on Electronic Commerce Initiative, Communication from the EU, 26.04.2019, INF/ECOM/22, 2). Während der US-Vorschlag ebenfalls eine breite Palette von Themen behandelt, fällt ins Auge, dass er sich weniger auf die traditionellen Aspekte des E-Commerce (d.h. elektronische Verträge, elektronische Signaturen u.ä.) konzentriert und stattdessen datenbezogene Regelungen wie die faire Behandlung digitaler Produkte und die digitale Sicherheit in den Mittelpunkt rückt (Joint Statement on Electronic Commerce Initiative, Communication from the United States, 12.04.2018, JOB/GC/178, 3., 5.). Im Einklang mit dem zentralen Narrativ der digitalen Handelspolitik der USA (sichtbar etwa im „E-Commerce“ Kapitel des letztlich ohne US Beteiligung geschlossenen CPTPP und dem weiterentwickelten „Digital Trade“ Kapitel des USMCA Abkommens) steht der freie Fluss von Informationen ganz oben auf der Verhandlungsliste (ibid., 1.). Die Verhandlungspositionen der Volksrepublik China spiegeln den reservierten Ansatz eines politischen Systems wider, das umfassende Vorbehalte gegenüber dem grenzüberschreitenden Datenverkehr in Stellung bringt. (Joint Statement on Electronic Commerce Initiative, Communication from China, 24.04.2019, INF/ECOM/19, 2.5, 4.2). Dies stimmt mit den sehr weitgehenden Einschränkungen unterworfenen diesbezüglichen Vorschriften im kürzlich geschlossenen RCEP Abkommen und der traditionell auf den elektronisch unterstützen Warenverkehr ausgerichteten chinesischen Perspektive hinsichtlich des E-Commerce überein.

Vorschriften zum Datenverkehr als Gretchenfrage

Ein kürzlich im Internet aufgetauchter Entwurf eines konsolidierten Verhandlungstextes scheint zu unterstreichen, dass insbesondere beim entscheidenden Thema der Regulierung grenzüberschreitender Datensströme eine Dichotomie zwischen den Ansätzen der USA und der Volksrepublik China ausgemacht werden muss, während die Verhandlungsposition der EU sich zwischen diesen beiden Extrempositionen platziert (ibid., B.2.). Im Spannungsfeld zwischen freiem Datenverkehr und diesbezüglichen Vorbehalten nationaler Datenschutzregulierungen treffen erwartungsgemäß insbesondere die Positionen der USA und der EU deutlich aufeinander (ibid., C.2.3). Während demnach über die technischen Vorschriften des elektronischen Geschäftsverkehrs mutmaßlich zügig Einvernehmen hergestellt werden kann, bleibt spannend, wie sich ein für die 12. WTO Ministerkonferenz in diesem Jahr in Aussicht gestellter Fortschritt der Verhandlungen tatsächlich darstellt.

 

Zitiervorschlag: Roman Kalin, WTO-Recht und Digitaler Handel: Kann die Joint Statement Initiative das Welthandelsrecht modernisieren?, JuWissBlog Nr. 19/2021 v. 23.02.2021, https://www.juwiss.de/19-2021/.

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Digitaler Handel, Digitalisierung, E-Commerce, Joint Statement Initiative, Roman Kalin, WTO
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