Sondervermögen Infrastruktur: Investitionsschub ohne allgemeine Zweckbindung „Klimaneutralität“ – Replik auf Emmanuel Schlichter, JuWissBlog Nr. 38/2025

von CORRADO BECKER und TILL WALLRATH

In seinem Blogbeitrag vom 23.04.2025 legt Emmanuel Schlichter dar, warum Art. 143h GG eine generelle Zweckbindung „Klimaneutralität“ beinhalte. So seien laut Schlichter insgesamt nur solche Maßnahmen von Art. 143h GG umfasst, die klimaschützend seien oder sich klimaneutral verhielten; letzteres betrifft v.a. „reine“ Infrastrukturmaßnahmen gem. Art. 143h Abs. 1 Satz 1 Var. 1 GG. „Klimakontraproduktive“ Maßnahmen seien hingegen „kritisch zu sehen“. Der nachfolgende Beitrag zeigt demgegenüber auf, warum Art. 143h GG gerade keine allgemeine Zweckbindung „Klimaneutralität“ vorgibt.

Wortlaut – Notwendige „und“ hinreichende Bedingung

Art. 143h Abs. 1 Satz 1 GG besagt, dass der Bund „ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität“ einrichten kann. Schlichter meint, dass zwischen beiden Varianten („Infrastruktur“ und „Klimaneutralität“) nach dem „Verfassungswortlaut“ ein Wechselbezug bestehe.

Normstrukturell lassen sich Tatbestandsmerkmale in alternativ und kumulativ einteilen. Erstere sind für sich genommen notwendige und zugleich hinreichende Bedingung für das Auslösen der beabsichtigten Rechtsfolge. Zweitere müssen hierfür zusammen vorliegen – sind allein also notwendig, aber noch nicht hinreichend, um den Tatbestand einer Norm zu erfüllen. Art. 143h GG normiert in diesem Sinne wiederum alternativ, dass Investitionen sowohl in die Infrastruktur als auch zur Erreichung der Klimaneutralität erfolgen können. Der Tatbestand wird bereits durch eine der beiden Varianten erfüllt. Dies folgt aus der aufzählenden, deskriptiven Eigenschaft des zwei Mal genannten „für“. Art. 143h GG ermöglicht als Befugnisnorm dementsprechend („kann“), jeweils zu beiden Zwecken zusätzliche Investitionen vorzunehmen. Dazu beschreibt die Norm zwei separate „Erlaubnistatbestände“. Nach Art. 143h Abs. 1 Satz 6 GG bleibt die nähere Ausgestaltung der Mittelverwendung dem Gesetzgeber überlassen, was ebenfalls für eine alternative Flexibilität spricht (wie hier Spieth/Hellermann, NVwZ 2025, 558 (561)). Anhaltspunkte dafür, dass beide Varianten wiederum nur kumulativ die Rechtsfolge des Art. 143h GG auslösen sollen, bestehen im Wortlaut jedenfalls nicht.

Systematik – Rechtsoffenes Prinzip contra rechtssatzförmige Direktive

Laut Schlichter bestehe systematisch zwischen beiden Tatbestandsmerkmalen hingegen ein funktionales Verhältnis: Die Variante der „Erreichung der Klimaneutralität“ beschreibe das Ziel – „Investitionen in die Infrastruktur“ demgegenüber die Maßnahme; gleichsam als Subordinationsverhältnis. Eingedenk der vorgenannten Ausführungen ist es kreativ, aber keineswegs schlüssig, den Tatbestand einer Norm in Maßnahme und Ziel zu teilen.

Schlichter folgert im Weiteren, dass Investitionen, die der Infrastruktur dienen, den Klimaschutzzielen nicht zuwiderlaufen dürften.

Richtigerweise kommt Art. 143h GG indes kein solch sklavischer Charakter zu. Dies folgt gerade aus einer Gesamtschau mit Art. 20a GG. So konstituiert Art. 20a GG, welcher neben dem Umweltschutz auch den Klimaschutz beinhaltet (BVerfGE 155, 238 Rn. 100), nämlich eine Zielsetzung. Der Norm fehlt es als Prinzip also an einem Finalprogramm. Sie hat vielmehr Appellcharakter und enthält ein Optimierungsgebot (vgl. Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 510). Dementsprechend ist Art. 20a GG einer Abwägung mit anderen Verfassungswerten nicht nur zugänglich, sondern gerade immanent. Zielkonflikte werden über die Grundsätze der Prinzipienkollision gelöst (Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20a GG Rn. 31). Auch das BVerfG anerkennt in seinem Klimaschutz-Beschluss keinen absoluten Vorrang. Es führt aus: „Verhaltensweisen, die direkt oder indirekt mit CO2-Emissionen verbunden sind, [dürfen] (…) zugelassen werden, soweit sich die entsprechenden Grundrechte in der Abwägung mit dem Klimaschutz durchsetzen können.“ (BVerfGE 157, 30 Rn. 185). Dass eine Gesamtschau mit Art. 20a GG für eine allgemeine Zweckbindung „Klimaneutralität“ nicht trägt, bestätigt auch eine Kontrollüberlegung ad absurdum: Muss man etwa Art. 12 GG im Zusammenhang mit Art. 20a GG lesen mit dem Ergebnis, dass nur noch klimaneutrale Berufe ausgeübt werden dürften? Oder Art. 14 GG mit der Folge, dass nur noch „klimaneutrales Eigentum“ von der Verfassung gewährleistet wäre? Auf welches Tertium Comparationis Schlichter seine Gesamtschau von 143h GG mit Art. 20a GG zurückführt, bleibt unklar.

Soweit Schlichter unter „Einheit der Verfassung“ bilanziert, dass Sondervermögen a priori nur dann verfassungsrechtlich zulässig wären, wenn sie zugleich der Erreichung von Klimaschutzzielen dienlich wären, verkennt dies ferner ganz allgemein verfassungsdogmatische Grundprinzipien. Denn ist das Grundgesetz generell eher eine „spannungsreiche Zusammenfügung als [ein] monolithischer Block“ (Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 119). Daher hat es einen zurückgenommenen Regelungsanspruch (ebd.). Es ist ihm gerade eigen, dass von vornherein keine innere Einheit besteht (Reimer, Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 330). Insofern gibt es kein automatisch „verfassungswidriges Verfassungsrecht“. Vielmehr müssen die widerstreitenden Verfassungswerte jeweils in Einklang gebracht werden. Dies folgt nicht zuletzt e contrario aus Art. 79 Abs. 3 GG (vgl. instruktiv Klein/Shirvani, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 91e Rn. 13).

Historie – Verteidigungspolitische Stoßrichtung

Darüber hinaus erwuchs Art. 143h GG aus verteidigungspolitischen Motiven heraus. Hiervon ausgehend wurden primär Investitionen in die Infrastruktur als Zweckbestimmung aufgenommen. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf formulierte:

„Die tatsächliche Fähigkeit, ein deutlich gesteigertes Verteidigungspotenzial auch zur Wirkung zu bringen, setzt die Verfügbarkeit einer ausgebauten, funktionstüchtigen und modernen Infrastruktur […] voraus.“ (BT-Drs. 20/15096, S. 2). An anderer Stelle werden der Klimawandel und die damit entstehenden Kosten vom Gesetzgeber nur als ein Faktor unter mehreren aufgezählt (ebd.). Erst im endgültigen Gesetzentwurf wurde zusätzlich die Zweckbestimmung „für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ hinzugefügt (BT-Drs. 20/15117, S. 2 f.). Im Ausschussbericht heißt es: „Dazu braucht es vor allem auch eine deutliche Verbesserung der Infrastruktur sowie weiterer Investitionen und Ausgaben in den Klimaschutz zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045.“ (BT-Drs. 20/15117, S. 17). Die Zweckbestimmungen stehen nebeneinander („sowie“). Der Gesetzgeber ging mithin davon aus, dass die Investitionen aus dem Sondervermögen für den Klimaschutz verwendet werden können, aber nicht müssen.

Telos – Kompensationsgedanke

Für diesen Befund streitet auch das Anliegen der Norm. So sollen klimakontraproduktive Infrastrukturmaßnahmen gerade durch klimaschützende Maßnahmen kompensiert werden können. Dies ist nur möglich, wenn beide Zwecke nebeneinander gleichrangig sind. Art. 143h Abs. 1 Satz 6 GG stellt dies dem Gesetzgeber anheim. Dies folgt auch aus Art. 20a GG: Die Verfassung setzt „die Existenz der Industriegesellschaft voraus und damit auch ein gewisses Maß an Umweltbelastungen, ohne dass diese Gesellschaftsstruktur und die mit ihr verbundene Lebensform nicht möglich ist“ (Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 20a Rn. 42). Hiermit geht die o.g. Notwendigkeit einer praktischen Konkordanz einher. Nur so schließlich kann ein sachgerechter Interessensausgleich durch den Gesetzgeber stattfinden.

Ergebnis – Keine Zweckbindung „Klimaneutralität“

Endlich folgen also aus Wortlaut, Systematik, Historie und Telos, dass Art. 143h GG keine allgemeine Zweckbindung dergestalt innewohnt, dass beide Investitions-Varianten dem Klimaschutz dienlich sein müssten. Umfasst sind von Art. 143h GG jedenfalls dem Grunde nach auch solche Investitionen in die Infrastruktur, welche sich klimaschädlich auswirken. Hierfür kann der Gesetzgeber wiederum ausgleichende Maßnahmen treffen.

Zitiervorschlag: Becker, Corrado und Wallrath, Till, Sondervermögen Infrastruktur: Investitionsschub ohne allgemeine Zweckbindung „Klimaneutralität“ – Replik auf Emmanuel Schlichter, JuWissBlog Nr. 40/2025, JuWissBlog Nr. 40/2025 v. 08.05.2025, https://www.juwiss.de/40-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

Grundgesetz, Klimaneutralität, Schuldenbremse, Sondervermögen, Verfassung
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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Patricia L.
    8. Mai 2025 22:33

    Schade, dass JuWiss einen großen Fehler aus der Vergangenheit wiederholt und erneut die Plattform für rein parteipolitische Auseinandersetzungen bietet. Wenn ich mich übrigens rauf und runter lateinischer Formulierungen bedienen würde, würde ich zumindest sicherstellen, dass ich die Basics der Grammatik auch beherrsche. Fremdschäm-Alarm.

    Antworten
    • JuWiss Redaktion
      9. Mai 2025 12:12

      Wir verstehen uns als unabhängiges, überparteiliches Veröffentlichungsmedium für wissenschaftliche Beiträge junger Wissenschaftler*innen aus allen Bereichen des Öffentlichen Rechts. Wir betreuen den JuWiss-Blog redaktionell, ohne uns die Inhalte der veröffentlichten Texte zu eigen zu machen.

      Das Fundament unseres Engagements ist die freiheitliche demokratische Grundordnung. Wir teilen die Werte des Grundgesetzes, insbesondere die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Wir lehnen jede Form von Extremismus ab. Wir verurteilen Diskriminierung und Rassismus. Die Beiträge, die auf dem JuWiss-Blog veröffentlicht werden, sollen inhaltlich und sprachlich zu einem von Toleranz geprägten, respektvollen und anspruchsvollen wissenschaftlichen Diskurs beitragen.

      Antworten
    • Es mag zwar stimmen, dass die beiden Positionen parteipolitische Zuordnungen haben, jedoch versperrt dies doch keine Debatte über die Themen. Evident besteht sonst die Gefahr der Selbstzensur. Oder sollen demnächst keine Beiträge mehr zu kontroversen (juristischen) Themen veröffentlicht werden? Rechtswissenschaftliche Debatte lebt gerade von Rede und Gegenrede, begründete These und Replik. Auch wenn ich den Stil der Verfasser z. T. ein wenig zu scharf und hochgestochen finde, überschreitet er noch keine Stilgrenzen. Auch beim Verfassungsblog finde ich es gerade spannend, wenn auf einen Beitrag scharfe Kritik erfolgt. Es ist ein Blog und keine Fachzeitschrift.

      Und zu dem Grammatik-Aspekt: Fair. Ist allerdings auch kein wirklich inhaltliches Argument.

      Antworten
    • Was soll den grammatikalisch eigentlich falsch sein? Sind die im Text verwendeten Phrasen nicht alles stehende Wendungen? Zumal „Basics der Grammatik“ und „Fremdschäm-Alarm“ ja besonders scharfe Kritik ist.

      Antworten

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