Demokratie mit Sollbruchstelle? Der potenzielle Missbrauch von Art. 146 GG zur (vermeintlichen) Legitimation eines Verfassungswechsels

von MARKO KHRAPKO

Am Montag, dem 12. Mai 2025, hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt die Reichsbürger-Gruppierung „Königreich Deutschland“ verboten und dies damit begründet, dass Ziele und Aktivitäten des Vereins gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet seien und den Strafgesetzen zuwiderliefen. Die Gruppierung ist dafür bekannt, die Bundesrepublik nicht anzuerkennen und immer wieder Versuche zu unternehmen, diese zu delegitimieren. Im Vordergrund steht ihr selbsternannter König Peter Fitzek, der noch kürzlich in einem Spiegel-Panorama die Souveränität seines Königreiches mit Art. 146 GG begründete. Was aber hat es mit diesem letzten, vielen unbekannten Artikel des Grundgesetzes auf sich, der auf den ersten Blick nicht mehr als den Tag bestimmt, an dem das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert?

Längst kein Nischenthema

Diese Frage erlangt zunehmend an Bedeutung, da nicht nur die Reichsbürgerbewegung, sondern auch Teile der rasant politischen Einfluss gewinnenden AfD „Artikel 146 GG umsetzen, nicht streichen!“ fordern. So sprach sogar die Kanzlerkandidatin bei der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag und aktuelle Bundessprecherin der AfD, Alice Weidel, in einer früheren Bundestagsrede davon, dass der vermeintliche Auftrag des Art. 146 GG noch „nicht erfüllt“ worden sei. Dieser angebliche Auftrag einer neuen Verfassung scheint im direkten Widerspruch zu den Ewigkeitsgarantien des Grundgesetzes zu stehen, die Gegenstand einer jeden Staatsrechtsvorlesung sind. Handelt es sich hier um reine Reichsbürgerfantasien oder sollte die Existenz dieses Instruments wieder in das Bewusstsein der Gesellschaft und demokratischer Entscheidungsträger:innen gerufen werden?

Herkunft und Bedeutung der Ewigkeitsgarantien

Während nach Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung noch jegliche Verfassungsänderungen ohne Einschränkung möglich waren, erfolgte nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Machtergreifung eine sehr bewusste Abkehr von diesem Demokratieverständnis. Die noch 1932 von Hans Kelsen vertretene These, dass selbst eine auf die Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung zu dulden sei („Man muss seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt“ in Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, Nachdruck 2006, S. 237) wurde verworfen. Um zukünftig eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern, wurde stattdessen als zentrales Instrument der wehrhaften Demokratie die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG zur Beschränkung des Mehrheitsprinzips in das Grundgesetz aufgenommen. Geschützt werden insbesondere die Garantie der Menschenwürde i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GG als Identitätskern der Verfassung sowie die durch Art. 20 GG bestimmten Staatsstrukturprinzipien (Demokratie-/ Rechtsstaats-/ Sozialstaats-/ und Republikprinzip). Parteien könnten, selbst durch qualifizierte Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, diese Garantien und Prinzipien nicht durch eine Verfassungsänderung auf rechtlichem Wege „von oben“ abschaffen.

Art. 146 GG als Schlupfloch?

Gem. Art. 146 GG a.F. (1949-1990) verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Die Norm wurde ursprünglich in das Grundgesetz aufgenommen, um im Falle der ersehnten Wiedervereinigung eine Legalitätsbrücke zur Schaffung einer eigenen Verfassung zu errichten. Es sollte verdeutlicht werden, dass das aus der verwirrten staats- und völkerrechtlichen Lage entstandene Grundgesetz „nicht Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes“ sei (vgl. Haak, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 457). Dennoch wurde bei der Vollziehung der Wiedervereinigung durch den Beitritt der DDR im Jahr 1990 von Art. 146 GG a.F. weder Gebrauch gemacht noch der Artikel gestrichen. Vielmehr wurde Art. 146 GG gem. Art. 4 Ziff. 6 des Einigungsvertrages vom 31.08.1990 (BGBl. 1990 II, S.889) durch den Nebensatz ergänzt, dass das Grundgesetz „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“. Infolgedessen hat das Grundgesetz den Status als Provisorium verloren und endgültig das Qualitätsmerkmal einer Verfassung erreicht.

Zur Frage, ob Art. 79 Abs. 3 GG durch die Initiierung eines Verfassungswechsels ausgehebelt werden könnte, hat das BVerfG im Lissabon-Urteil (BVerfG, Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08), welches den Schutz der Verfassungsidentität i.S.d. Art. 79 Abs. 3 GG im Rahmen der europäischen Integration behandelte, – eher beiläufig – Stellung bezogen. Es konstatierte, dass für eine deutsche Integration mit den Ausmaßen, dass die Bundesrepublik in einem europäischen Bundesstaate aufgehe, die Befugnisse einer verfassungsgestaltenden Gewalt überschritten seien und für einen solchen Identitätswechsel eine neue Verfassungsgebung i.S.d. Art. 146 GG erforderlich wäre (Rn. 113).

Uneinigkeiten in der verfassungsrechtlichen Literatur

Zur Frage, ob und in welcher Weise Art. 146 GG anzuwenden ist, gehen die Literaturmeinungen jedoch deutlich auseinander. Teilweise wird die Anwendbarkeit bereits aufgrund des zeitlich begrenzten Charakters der Norm verneint: Art. 146 GG sei allein für den Einsatz im Zeitraum nach der Wiedervereinigung geschaffen worden. Ohne einen solchen Bezug, der aufgrund des zwischenzeitlichen Zeitablaufs auch gar nicht mehr hergestellt werden könne, handele es sich nur noch um ein historisches Überbleibsel (vgl. etwa Herbst, S. 35).

Andere argumentieren hingegen, dass gerade die Selbstverewigung des Grundgesetzes die Beibehaltung des Art. 146 GG notwendig machte, um die Möglichkeit eines zukünftigen Verfassungswechsels grundsätzlich offenzuhalten – und zwar völlig unabhängig sowohl von der Wiedervereinigung als auch von jeglichen normativen Bindungen (vgl. Dreier, S. 5).

Zutreffend wird jedoch darauf hingewiesen, dass die pouvoir constitué, also die verfassungsändernde Gewalt, bei der Ergänzung des Art. 146 GG a.F. in gleicher Weise wie bei sonstigen Änderungen des Grundgesetzes an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden war. Wäre durch die Verfassungsänderung die Möglichkeit geschaffen worden, die Ewigkeitsklausel zu umgehen, müsste es sich hierbei um „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ handeln (so Bartlsperger, S. 1299 f.). Diese Ansicht überzeugt, denn obwohl der Weg einer Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG a.F. offenstand, bewusst zugunsten der Beitrittslösung darauf verzichtet wurde, sodass die Erweiterung der Bundesrepublik im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen Ordnung erfolgte. Eine verfassungskonforme Anwendung des Art. 146 GG kann daher nur unter Achtung der Ewigkeitsgarantien erfolgen.

Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts

Nicht vergessen werden darf, dass eine Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten der pouvoir constituant, also der verfassungsgebenden Gewalt, nicht in gleicher Weise wie bei der pouvoir constitué möglich ist. Jedes Volk hat das Recht, die geltende Verfassung als Ganzes zur Disposition zu stellen und sich eine neue Verfassung zu geben, ohne an die alten Verfassungsvorgaben gebunden zu sein (vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 4 Rn. 69). Insoweit deklariert Art. 146 GG nach wie vor das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, welches diesem immanent ist, und zwar über die Grenzen des Grundgesetzes hinaus. Einer gesonderten Regelung im Grundgesetz hätte es also eigentlich gar nicht bedurft. 

Eine Partei könnte also zwar nicht unter Berufung auf Art. 146 GG eine Verfassung jenseits der Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG dem deutschen Volke zur Wahl stellen. Dies könnte jedoch sehr wohl durch einen revolutionären Akt – friedlich oder nicht – unter Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht erfolgen. Insoweit begründet Art. 146 GG als solches kein „Schlupfloch“, sondern macht deutlich, dass selbst die Ewigkeitsklausel letztlich im demokratischen Souverän ihre Grenze findet.

Art. 146 GG destabilisiert das Grundgesetz

Auch wenn Ex-Justizminister Marco Buschmann während seiner Amtszeit die Debatte um Art. 146 GG „für ein wenig theoretisch“ hielt, darf in Anbetracht dessen, dass 39% der AfD-Anhänger:innen einen Verfassungswechsel eher oder ganz befürworten (vgl. hier, S.15), die mögliche Wirkung des Art. 146 GG nicht unterschätzt werden. Der – nicht nur für den verfassungsrechtlichen Laien – vermittelte provisorische Charakter des Grundgesetzes, die fehlenden Verfahrensvorgaben und die in der Lehre vielfach umstrittene Frage zur Anwendbarkeit und Bedeutung des Art. 146 GG, sind Faktoren, welche zur Destabilisierung des Grundgesetzes beitragen. Es wird ein unnötiges Missbrauchspotential geschaffen, da die Norm einer verfassungsfeindlichen Partei oder Gruppierung verhelfen könnte, den Anschein verfassungsmäßigen Handelns im Rahmen eines illegalen Systemwechsels zu wahren. Ein revolutionärer Bruch mit dem Grundgesetz lässt sich zwar niemals allein durch Vorschriften verhindern, jedoch sollte der Weg dorthin mit möglichst hohen Hürden versehen werden.

Zur Stärkung der Wehrhaftigkeit bedarf es deshalb der Streichung des Art. 146 GG (so auch Kloepfer/Jessen). Hierdurch würde in nicht nur symbolischer Weise dem Ewigkeitsversprechen des Art. 79 Abs. 3 GG eine stärkere Glaubwürdigkeit verliehen werden. Schließlich ist der Bestand dieser wesentlichen Abwehrfunktion durch ein abschließendes Grundgesetz normativ zu festigen und sollte nicht nur verfassungstheoretischen und -geschichtlichen Interpretationen juristischer Fachliteratur oder – schlimmstenfalls – verfassungsfeindlichen Parteien überlassen werden.

Zitiervorschlag: Khrapko, Marko, Demokratie mit Sollbruchstelle? Der potenzielle Missbrauch von Art. 146 GG zur (vermeintlichen) Legitimation eines Verfassungswechsels, JuWissBlog Nr. 49/2025 v. 03.06.2025, https://www.juwiss.de/49-2025/.

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Vielen Dank erstmal für den Beitrag.

    Ich denke nicht, dass die Existenz von Art. 146 GG an sich das Problem ist, sondern seine Verfahrensoffenheit. Die Umgehungsgefahr rührt vom Verfahren her. Eine Abschaffung von Art. 146 GG halte ich deshalb auch nicht für zielführen, weil das Verfahrensproblem auch bei Nichtexistenz verbleibt. Nur eine Wortlautänderung ist wünschenswert:

    Art. 79 III GG hat nicht die primäre Funktion die Mehrheit der Wahlbevölkerung zu beschränken, sondern die parlamentarische (2/3-)Mehrheit zu beschränken. Insofern ist sein Ausdruck „Keine Abschaffung der folgenden Prinzipien durch den parlamentarischen verfassungsändernden Gesetzgeber (2/3)“. Es ist schon sehr weitgehend dem „nächsten“ verfassungsgebenden Gesetzgeber das Recht abzusprechen, entgegen Art. 79 III GG zu handeln (Stichwort: „Deutschland als ewiger Föderalstaat“), wenn dieser mit der gleichen Mehrheit (2/3) unmittelbar für etwas votiert. Das systematische Argument der Umgehungsgefahr greift im Übrigen materiell nicht durch, wenn das Volk unmittelbar eine neue Verfassung mit 2/3-Mehrheit beschließt: Für eine Verfassung unmittelbar mit 2/3-Mehrheit abzustimmen ist etwas anderes, als für jemanden zu stimmen der [regelmäßig u. a.] eine Verfassungsänderung ankündigt. Besonders weil sich hier durch die Verrechnungssysteme auch eine Divergenz zwischen Repräsentationskörper und Repräsentierten ergibt (vgl. Probleme, wenn – wie möglich – in Deutschland ein Mehrheitswahlsystem eingeführt wird).

    Rechtspraktisch: Wie soll da übrigens ein europäischer Integrationsprozess mit möglich sein? Auch geht man bei einem so unmittelbaren überwältigen Votum des Wahlvolkes für eine – ggf. gegen Grundsätze des Art. 79 III GG verstoßende – Verfassung (mit Kelsen gesprochen) als Jurist „mit wehenden Fahnen“ unter.

    Art. 146 GG mangelt es aber insofern, dass er den verfassungsgebenden Prozess in seinem Wortlaut nicht beschreibt (Nationalversammlung wie 1919?/Unmittelbare Abstimmung mit 2/3 [nach „Vorschlag“ durch Nationalversammlung]?). Hierrin besteht die eigentliche Umgehungsgefahr von Art. 79 III GG. Momentan ließe sich rein aus dem Wortlaut von Art. 146 GG sagen, dass das Volk – wie bei einem normalen Volksentscheid – mit einfacher Mehrheit für einen Verfassungswechsel stimmen kann oder das dies eine (ebenso wie Bundestag durch Wahl legitimierte) Nationalversammlung (mit einfacher Mehrheit?) tun kann. Ich würde deshalb vorschlagen Art. 146 GG im Lichte von Art. 79 III GG – nur im Bezug auf das Verfahren und nicht das Ergebnis – umgehungsverhindernd prozessual auszulegen (Volksabstimmung; 2/3-Mehrheit). Eine Wortlautänderung wäre aber wünschenswert.

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