von MARCO MEYER
…laut Carl Schmitt, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Abseits von Schmitt‘s Lust an der Letztentscheidung und der Person, die sie in seinen Augen zu treffen habe, hat sich der Begriff „Ausnahmezustand“ auch außerhalb der klassischen Domäne des sog. Staatsrechts als eine Kategorie etabliert, die in Kürze der Satz beschreibt: „Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“ Aber auch durch außergewöhnliche Kompetenzverschiebungen? Dürfte beispielsweise die Bundeswehr einem Bundesland zu Hilfe kommen, in dem Straßenkämpfe zwischen Polizei und Gipfelgegnern eskalieren? Sagen wir… in Hamburg? Was sagt eigentlich das Grundgesetz dazu?
Einleitung
Auf den G20-Gipfel am vergangenen Wochenende wurde mit den üblichen Demonstrationen und Kundgebungen reagiert. Das Tauziehen um die verwaltungs- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit verschiedener Protestformen wurde von Kollegen hier wie anderenorts bereits aufgearbeitet.
Als ebenfalls häufiges Phänomen derartiger Großveranstaltungen blieben leider auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Mitgliedern des sog. „schwarzen Blocks“ nicht aus. Diese waren leider so heftig, dass am Freitagvormittag, zusätzliche (zusätzlich zu jenen bereits in Hamburg verfügbaren tausenden Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet) Polizeikräfte des Bundes und der Länder angefordert werden mussten. In unmittelbarer zeitlicher Nähe tauchte in den sozialen Medien ein Bild auf, das Anlass zu diesem Beitrag gab: drei Radpanzer der Bundeswehr auf ihrem Weg durch Osdorf nach Altona.Die zwischenzeitliche Befürchtung, die Streitkräfte sollten dort die Krawalle beenden, wurde kurz darauf ausgeräumt. Doch selbst wenn sich dies wie gesagt als ein „Fake“ entpuppte, stellt sich die Frage: Dürften sie das überhaupt?
Damit sind wir zum einen wieder bei der ursprünglichen Frage: Was ist eigentlich der Ausnahmezustand unter dem Grundgesetz? Und welche Rolle spielt die Bundeswehr dabei?
Rechtlicher Rahmen
Das Grundgesetz beantwortet beide Fragen mehr oder weniger ausführlich. Obwohl es den Terminus „Ausnahmezustand“ (ebenso wie die Weimarer Reichsverfassung) nicht kennt (und überhaupt erst seit 1968 über ein eigenes Notstandsverfassungsrecht verfügt), führt es zum Einsatz der Bundeswehr im Innern in Art. 87a Abs. 2 aus: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“
Die Norm verweist damit auf die folgenden Fälle:
Der Verteidigungsfall
Der Verteidigungsfall liegt ausweislich Art. 115a Abs. 1 S. 1 GG vor, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht. Er wird im Grundsatz festgestellt durch Entscheidung von Bundestag und Bundesrat. Art. 115a GG behandelt dabei, ausschließlich den externen Angriff auf die Bundesrepublik. Liegt dieser Fall vor, sind den Streitkräften Aufgaben des Objektschutzes und der Verkehrsregelung übertragen, allerdings bloß soweit die Erfüllung des eigentlichen Verteidigungsauftrags gegen den Aggressor dies verlangt.
Der Spannungsfall
Eine vom Grundgesetz nicht selbst definierte, aber unterhalb des Verteidigungsfalls anzusiedelnde eigenständige Kategorie bildet der Spannungsfall. Der weitgehende Gleichlauf der Befugnisse der Streitkräfte im Inneren im Verteidigungs- wie im Spannungsfall, sowie deren gemeinsame Nennung in Art. 87a Abs. 3 GG legen nahe, dass es sich bei letzterem um eine Vorstufe zu ersterem handelt, bei dem ein Angriff von außen zu erwarten ist und der bereits zu diesem Zeitpunkt eine Mobilmachung erfordert. Ob der Spannungsfall vorliegt, entscheidet grundsätzlich der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit.
Der innere Notstand
Im Gegensatz zu den vorgenannten Fällen handelt es sich bei der Notstandsregelung in Art. 87a Abs. 4 GG um eine bereits tatbestandlich nach innen gerichtete Norm. Die Regelung ist sehr voraussetzungsvoll und erlaubt auch bei Vorliegen der einzelnen Elemente den Einsatz der Bundeswehr ausschließlich zum Objektschutz und zur Bekämpfung organisierter und militärisch [sic] bewaffneter Aufständischer.
Voraussetzung für diese Befugnis ist eine drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, die sich allein mit (Landes- und Bundes-) Polizeikräften nicht bewältigen lässt. Darüber hinaus verweist die Norm in Art. 91 Abs. 2 GG. Dieser setzt aber voraus, dass das betroffene Land selbst nicht mehr zur Gefahrenabwehr in der Lage ist. Es handelt sich also um eine subsidiäre Zuständigkeit.
Die Befugnisse nach Art. 87a Abs. 4 GG stehen nicht unter parlamentarischem Zustimmungsvorbehalt, ihre Ausübung ist aber auf Verlangen von Bundestag oder –rat zu beenden.
Mag man auch bei verschiedenen Bildern vom G20-Wochenende den Eindruck gewonnen haben, der Vandalismus und die Konfrontation zwischen Einsatzkräften und den Mitgliedern des schwarzen Blocks nähere sich angesichts schwerer Verletzungen der öffentlichen Sicherheit aufstandsähnlichen Verhältnissen, doch waren jedenfalls weder der Bestand noch die freiheitlich-demokratische Grundordnung in der Freien und Hansestadt Hamburg zu irgendeinem Zeitpunkt gefährdet.
Regionale (Abs. 2 S. 2) und überregionale (Abs. 3) Unglücks- und Katastrophenfälle i.S.d. Art. 35 GG
Unproblematisch bestimmbar sind zunächst die Naturkatastrophen, die sich wie Epping formuliert als von „Naturgewalten ausgelöste Schadensereignisse“ darstellen. Demgegenüber stellen die übrigen Unglücksfälle die Folge menschlichen Fehlverhaltens oder technischen Versagens dar, wie etwa Unfälle in Kernkraftwerken. Damit wird auch das erforderliche Ausmaß deutlich, wenn das GG von schweren Unglücken spricht: Es geht um Situationen, die in ihren Auswirkungen einer Naturkatastrophe vergleichbar sind. Mag man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Situationen, die von Menschen vorsätzlich herbeigeführt werden als von der Norm erfasst betrachten, doch fallen jedenfalls Straßenkämpfe mit Randalierern bzw. innere Unruhen nicht in den Anwendungsbereich der Norm. Nicht umsonst können Streitkräfte ausweislich des Wortlauts bloß in den Fällen des Satzes 2 angefordert werden, nicht aber zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit nach Satz 1. Situationen dieser Art wurden in Art. 87a Abs. 4 GG berücksichtigt, unterhalb der dort genannten Schwelle bleibt die Gefahrenabwehr Aufgabe der Polizei, sollte die jeweilige Landespolizei auch auf Anforderung nach Art. 35 Abs. 2 S. 1 GG verstärkt werden müssen. Nach Ansicht des BVerfG besteht hier sogar eine Sperrwirkung des inneren Notstands für derartige Situationen. Nichts Anderes gilt für überregionale Katastrophen nach Abs. 3, die ein Weisungsrecht der Bundesregierung nach sich ziehen.
Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG
Damit bleibt zu untersuchen, inwieweit ein Einsatz der Streitkräfte im Innern aufgrund der allgemeinen Amtshilfeverpflichtung von Bund und Ländern in Art. 35 Abs. 1 GG möglich ist. Unproblematisch zu bejahen ist zunächst, dass es sich bei der Bundeswehr um eine zur Amtshilfe berechtigte und verpflichtete („[…] leisten sich […] Amtshilfe.“) Stelle handelt. Die Grenze der Amtshilfe i.S.d. Art. 35 Abs. 1 GG „nach oben“ wird durch das Bundesverfassungsgericht anhand des Wortlauts von Art. 87a Abs. 2 GG gezogen: Amtshilfe endet dort, wo „Einsatz“ beginnt. Das wirft freilich die Frage auf, wo denn die „Einsatz“-Schwelle liegt. Für diese Grenzziehung böten sich zum einen die Maßstäbe an, die angelegt werden, wenn zu klären ist, ob für einen auswärtigen Einsatz die Zustimmung des Parlaments erforderlich ist d.h. im Rahmen von Missionen, bei denen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten ist. Demgegenüber geht das Bundesverfassungsgericht aber davon aus, dass die Einsatzschwelle nach innen bereits dann überschritten wird, „wenn personelle oder sachliche Mittel der Streitkräfte in ihrem Droh- oder Einschüchterungspotenzial genutzt werden“. Das bedeutet, dass ein Einsatz jedenfalls dann vorliegt, wenn es tatsächlich zur Anwendung von (militärischer) Gewalt kommen soll, darüber hinaus aber auch dann, wenn spezifisch militärische Fähigkeiten nicht bloß für technische oder personelle Unterstützungsleistungen (z.B. der Einsatz von Ausrüstung und Personal der Streitkräfte zur Rettung und Versorgung von Überschwemmungsopfern bei Hochwasser) genutzt werden, sondern in dem Vorgehen zugleich die Demonstration militärischer Mittel als potenzielle Zwangsmittel zu sehen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es beispielsweise fraglich, ob das seinerzeitige Überfliegen von Demonstranten am Rande des G8-Gipfels in Heiligendamm mit (wenn auch unbewaffneten) Mehrzweckkampfflugzeugen vom Typ Tornado in geringer Flughöhe nicht im Sinne eines „Show of Force“ bereits oberhalb der Einsatzschwelle lag. Dem Bundesverfassungsgericht blieb eine Entscheidung damals aus prozessualen Gründen erspart.
Fazit
Wie gesehen liegen die Hürden eines Einsatzes der Bundeswehr gegen (bewaffnete) Aufständische vergleichsweise hoch. Dies erklärt sich zum einen aus der relativ geringen Schwelle, ab der der Reichspräsident ausweislich des Wortlauts des Art. 48 WRV die Reichswehr zu Aufgaben der Gefahrenabwehr einsetzen durfte, zum anderen aus der ebenfalls historisch begründbaren strikten Trennung von polizeilicher Gefahrenabwehr und militärischer Verteidigung im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge des Grundgesetzes. Möchte man den eingangs bemühten (nun verrechtlichten und somit für den Juristen m.E. einzig relevanten) Ausnahmezustand unter dem Grundgesetz nun als Situation begreifen, in der Integrität oder demokratisches System durch Aufstände bedroht sind, bleibt es nach Art. 87a Abs. 4 GG selbst in dieser Situation bei dem Primat der polizeilichen Gefahrenabwehr. Dass eine solche Situation im Zuge von von vorneherein räumlich wie zeitlich begrenzten Protestaktionen bei Gelegenheit z.B. internationaler Gipfeltreffen eintreten könnte, erscheint mithin abwegig.
Wie die Bundeswehr noch am gleichen Tag bekanntgab, handelte es sich bei der Panzerkolonne übrigens um eine Verlegungsfahrt aus rein logistischen Gründen zum „denkbar ungünstigsten Zeitpunkt“.