Zwischen Kunduz und Karlsruhe

Felix Würkertvon FELIX WÜRKERT

Vor über 10 Jahren, am 4. September 2009, starben in einem Flussbett in der Nähe des afghanischen Kunduz eine bis heute nicht eindeutig zu beziffernde Anzahl an Menschen, jedenfalls aber über 90 Personen. Sie starben, nachdem zwei amerikanische Kampfflugzeuge auf Befehl des deutschen Oberst Klein einen Tanklaster bombardierten, der zuvor von Kämpfern der Taliban entführt worden war. Mit ihrem Nichtannahmebeschluss hat die zweite Kammer des zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht den Versuch, eines Teils der Opfer hierfür Genugtuung vor deutschen Gerichten zu finden, nun vorerst beendet.

Gute und schlechte Nachrichten

Im Rahmen schriftlicher Textdarbietung ist es leider Sache der Verfasser:in für die Leser:in zu entscheiden, ob sie zuerst die schlechte oder die gute Nachricht lesen wird. Den Verfasser:innen von Gerichtsentscheidungen wird diese Wahl hingegen durch den Urteilsstil abgenommen. Die Entscheidung der Kammer enthält sowohl gute als auch schlechte Nachrichten.

Die schlechte Nachricht: Der Tenor

Die schlechte Nachricht liegt darin, dass dieser Text sich in seinem Entschluss, mit der schlechten Nachricht zu beginnen, nicht von der Entscheidung der Kammer unterscheidet. Will heißen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die angegriffenen Entscheidungen des BGH (hier und hier) sowie des OLG Köln und des LG Bonn, die allesamt die Klage gegen die Bundesrepublik zurückgewiesen hatten, haben weiterhin Bestand.

Dieses Ergebnis stellt indes – leider – keine allzu große Überraschung dar. Kann doch vor deutschen Gerichten für Fälle individueller Ansprüche wegen militärischer Gewalt – ganz gleich welchen Jahrhunderts – die Prognoseregel ausgegeben werden: Der Staat hat Recht. Und der deutsche Staat, ganz gleich wer ihn gerade regiert, sieht sich in diesen Fällen fast nie als Schuldner eines berechtigten Anspruchs, sondern vielmehr als humanitärer Gönner, der jenen freiwillig gibt, denen er doch nichts schuldet. 90 Familien der Opfer des Bombardements erhielten so je 5000 €. Zudem gab die Bundeswehr 135.000 € für ein Winterhilfeprogramm in der betroffenen Gegend aus (hier).

Auch keine gute Nachricht: Kein unmittelbarer völkerrechtlicher Anspruch

Der Nichtannahmebeschluss beruht darauf, dass die Kammer in den angegriffenen Entscheidungen keine Grundrechtsverletzungen erkennen kann. Die Verfassungsbeschwerde ist also offensichtlich unbegründet.

Keinen Grundrechtsverstoß will die Kammer darin sehen, dass in den angegriffenen Entscheidungen ein unmittelbarer völkerrechtlicher Anspruch der Opfer gegen den deutschen Staat verneint wird, da es an einer Anspruchsgrundlage fehle. Und in der Tat scheint diese Feststellung der Kammer für sich genommen durchaus vertretbar. Wir erinnern uns: „keine Superrevisionsinstanz“. Doch bleibt von eben diesem zurückgenommenen Überprüfungsmaßstab wenig sichtbar, wenn die Begründung, warum darin kein Grundrechtsverstoß zu sehen ist, lautet: „Solche allgemeinen Regeln des Völkerrechts haben aber trotz voranschreitender Subjektivierung des Völkerrechts bisher nicht zu individuellen Ansprüchen geführt[.]“ (Rn. 17). In kurz: kein Grundrechtsverstoß, weil richtig.

Unterlegt wird diese Feststellung mit einer Anzahl an Belegen (Rn. 18 f.), die bei der sonst eher spärlichen Zitierpraxis des Gerichtes in der Kategorie schweres Gerät zu verorten sein dürften. Die Beschwerdeführer:innen wissen also jetzt: Es nützt nichts, die gesamte Literatur steht unserer Position entgegen. An der Stelle hatten wir schlicht unrecht. Das müssen wir wohl akzeptieren. Nur, dass diese Belege – bei allem Verständnis der Unterschiede in der Funktion gerichtlicher und wissenschaftlicher Zitation – irritieren. Die Frage, ob eine völkergewohnheitsrechtliche Norm existiert und wie sie ggf. zu ermitteln, ist folgt aus Art. 38 IGH-Statut:

b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung;

c) […]

d) […] die gerichtlichen Entscheidungen und die Lehren der anerkanntesten Autoren der verschiedenen Völker als Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen.

Bei allem nötigen Respekt genügt es weder für die Feststellung einer durch Rechtsüberzeugung getragenen internationalen Praxis, noch für die dabei zu Hilfe zu ziehenden Autor:innen verschiedener Völker (!), wenn an dieser Stelle der Entscheidung die Kammer das BVerfG selbst zitiert sowie eine Ansammlung fast gänzlich deutschsprachiger Autor:innen.

Nur so lässt sich der entstandene Eindruck erklären, die Frage individueller Ansprüche im Völkergewohnheitsrecht sei eindeutig und abschlägig geklärt. Dort, wo der Staat nicht stets lediglich mit der Abwehr derartiger Ansprüche beschäftigt ist, existieren durchaus andere Ansichten. So hat Italien in einem Verfahren gegen Deutschland auf der Existenz individueller Ansprüche beharrt (hier, S. 10). Der IGH selbst hat die Existenz derartiger Anspruchsgrundlagen gerade nicht verneint, sondern explizit offen gelassen (hier, Rn. 108). Der brasilianische IGH Richter und ehemalige Richter des Interamerikanischen Gerichtshofs Cançado Trindade bestand in seinem abweichenden Votum vehement auf der Existenz derartiger Anspruchsgrundlagen (hier, Rn. 240 ff.).

Die gute Nachricht: Amtshaftungsansprüche für militärische Auslandssachverhalte

Die gute Nachricht findet sich dort, wo die Kammer in einem Abschnitt, der als obiter dictum bezeichnet werden kann, verdeutlicht, dass der BGH zu Unrecht die Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs auf militärische Zusammenhänge im Ausland abgelehnt hat. Um dies zu begründen, verweist die Kammer auf die umfassende Geltung der Grundrechte und das Wesen des Amtshaftungsanspruchs als deren Kehrseite (Rn. 23 ff.). Das ist nach der BND-Entscheidung, welche die extraterritoriale Geltung der Grundrechte herausstellte (Rn. 87 ff.), nur konsequent.

Bemerkenswert ist indes, dass die Kammer diese grundrechtliche Bindung explizit für militärische Zusammenhänge im Ausland formuliert und auch den Amtshaftungsanspruch so weit reichen lässt. Noch in der mündlichen Verhandlung des BND-Verfahrens, war eben diese vermeintlich einengende Anwendung durch die Prozessvertreter:innen der Bundesregierung als Konsequenz und Schreckensgespenst einer grundrechtlichen Bindung des BND im Ausland beschworen worden. Dass die Kammer dem in der vorliegenden Entscheidung deutlich entgegentritt und dies auch dem BGH mitgibt, der für seine Ablehnung auch auf die vermeintlichen Folgen für die Bündnisfähigkeit etc. hingewiesen hatte (vgl. Rn. 32), stimmt ein wenig hoffnungsvoll. Es drängt das Narrativ von bewaffneten Konflikten als rechtlichen Ausnahmezuständen zurück. Zudem es auch ein Schritt weg von der klassischen (post-)kolonialen Praxis ist, grund- und menschenrechtliche Errungenschaften im Zentrum bzw. der Metropole anzuwenden, aber in der Peripherie zu versagen, zu verkürzen oder zu instrumentalisieren (hier und hier).

Unklar bleibt angesichts dieser umfassenden, grundrechtlich motivierten Anwendung des Amtshaftungsanspruchs, wieso es zur Rechtfertigung der beschränkten Anwendung des enteignungsgleichem Eingriffs und der Aufopferung genügen soll, auf dessen richter:innenrechtliche und vorkonstitutionellen Grundlage zu verweisen. Vermittelt der Teil zum Amtshaftungsanspruch doch den Eindruck: „The times they are a-changin‘“. Aber mehr, als dass die angegriffenen Entscheidungen hier nicht zu beanstanden sei, ist der Entscheidung der Kammer dazu letztlich nicht zu entnehmen (Rn. 21 f.).

Und doch: nichts falsch gemacht

Die Begründung, wieso die angegriffenen Entscheidungen trotz ihrer Verkennung der Reichweite des Amtshaftungsanspruchs nichts falsch gemacht haben, folgt am Ende der Kammerentscheidung: Auch Oberst Klein hat nichts falsch gemacht. Oder vielmehr: Die Kammer hat in der Annahme des BGH, die Amtspflichtverletzung sei durch die Kläger:innen nicht bewiesen worden, keine Verletzung von Grundrechten erkennen können (Rn. 33 ff.).

Das ist – in einem sehr weiten Sinne – nur konsequent. Hatte die dritte Kammer des zweiten Senats des BVerfG 2015 doch, nachdem das Strafverfahren gegen Oberst Klein eingestellt worden war, die diesbezügliche Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Auch innerhalb der Bundeswehr scheint Mensch die Einschätzung des BGH und der Strafverfolgungsbehörden zu teilen. Oberst Klein ist mittlerweile Brigadegeneral Klein.

Dass Mensch all das auch anders sehen kann, zeigen der Bericht des Untersuchungsausschusses zum Geschehen in Kunduz sowie der Umstand, dass die beiden amerikanischen Piloten, die nach mehrmaliger kritischer Rückfrage den Befehl ausgeführt hatten, disziplinarische Konsequenzen zu tragen hatten. Die Entscheidung des EGMR zum Vorgehen der deutschen Strafverfolgungsbehörden steht seit der mündlichen Verhandlung der Großen Kammer im Februar diesen Jahres noch aus. Es bleibt abzuwarten, ob und ggf. wie der EGMR sich zur Frage der Entschädigung äußern wird.

Zitiervorschlag: Felix Würkert, Zwischen Kunduz und Karlsruhe, JuWissBlog Nr. 145/2020 v. 18.12.2020, https://www.juwiss.de/145-2020/

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BGH, Bundeswehr, BVerfG, Felix Würkert, Kunduz, Staatshaftungsrecht
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