von FREDERIK FERREAU
Wetzlar ist eine wunderschöne, idyllisch an der Lahn gelegene Stadt. Und als ehemaliger Sitz des Reichskammergerichts des Heiligen Römischen Reiches, an dem unter anderem Goethe – mehr schlecht als recht – seine juristische Ausbildung vorantrieb, verfügt Wetzlar über eine bedeutende gerichtliche Tradition, welche die Stadt auch gerne hegt und pflegt. Eine Stadt des Rechts, könnte man meinen. Doch nun hat sich Wetzlar einen neuen, weniger ehrenhaften Titel erworben: Die Stadt des Rechtsbruchs.
Wie kommt der Autor zu diesem harschen Urteil? Der Hintergrund ist schnell erzählt: Die NPD wollte in der Stadthalle zu Wetzlar eine Wahlkampfveranstaltung durchführen. Die Stadt Wetzlar verweigerte den Abschluss eines darauf gerichteten Mietvertrags. Die NPD begehrte gegen die Weigerung der Stadt gerichtlichen Eilrechtsschutz und hatte damit vor dem VG Gießen Erfolg. Doch die Stadt weigerte sich immer noch und berief sich dabei auf fehlende Vertragsvoraussetzungen wie den Nachweis einer Veranstalter-Haftpflichtversicherung. Auf Antrag der Partei drohte das VG Gießen der Stadt ein Zwangsgeld für den Fall der Nichtbeachtung seines Beschlusses in Höhe von 7.500 € an. Die dagegen von der Stadt erhobene Beschwerde wies der VGH Kassel zurück. Einen Mietvertrag über die Nutzung der Stadthalle wurde anschließend aber immer noch nicht abgeschlossen. Deshalb rief die NPD das BVerfG an – und dieses gab der Stadt per einstweiliger Anordnung auf, der Partei die Stadthalle zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr und die NPD-Veranstaltung wurde in einem Ausweichquartier abgehalten.
Der immer wiederkehrende Klassiker
Die rechtsextreme Partei und die Stadthalle – Generationen von Jurastudenten kennen diese Fallkonstellation aus Lehrbüchern und Klausuren, was auch daran liegt, dass die praktische Relevanz dieses „Klassikers“ nicht abebben will. Dies allein ist schon ein bemerkenswerter Befund, muss doch die Rechtsprechung zu der Frage, ob eine Stadt (oder in beliebter Fallabwandlung: eine von dieser beherrschte Betreibergesellschaft) einer als rechtsextrem eingestuften politischen Partei ihre Stadthalle für Veranstaltung überlassen muss, inzwischen nicht nur als gefestigt, sondern als geradezu „einbetoniert“ bezeichnet werden: Das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde zu betonten, dass eine Partei nicht durch staatliche Maßnahmen benachteiligt werden darf, solange sie nicht gemäß Art. 21 Abs. 2 GG als verfassungswidrig eingestuft und verboten worden ist: „Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei rechtlich geltend machen“ (ebd, Rn. 35).
Dass der Klassiker dennoch immer wieder vor den Gerichten landet, liegt daran, dass Kommunen oftmals – wohl aufgrund des (verspürten) Drucks aus der Bevölkerung – lieber eine gerichtliche Niederlage einschließlich dadurch anfallender Gerichtskosten zu Lasten der Stadtkasse in Kauf nehmen, als die Überlassung der Stadthalle gegenüber der Öffentlichkeit mit Verweis auf die eindeutige Rechtslage zu begründen und zu rechtfertigen: Offenbar wollen sich die Vertreter der Kommunen nicht den (insoweit völlig unberechtigten) Vorwurf einhandeln, nicht alles denkbar Mögliche im „Kampf gegen rechts“ unternommen zu haben.
Ein Klassiker-Update durch das NPD-Urteil?
Wollen die Kommunen mit Verweis auf das NPD-Urteil die Benachteiligung einer Partei rechtfertigen, so werden sie damit scheitern: Denn bekanntlich hat das BVerfG darin – wenngleich mit durchaus kritikwürdiger Begründung, wie Sebastian Piecha auf dem JuWissBlog gezeigt hat – die NPD gerade nicht als verfassungswidrig eingestuft und verboten, sondern ihr („lediglich“) die Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele ohne das Potential einer ernsthaften Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung attestiert. Entsprechend hatte etwa die NPD mit einem Antrag gegen eine in Reaktion auf das NPD-Urteil erfolgte Satzungsänderung in der unweit von Wetzlar gelegenen Stadt Büdingen Erfolg, mit der die Stadt Entschädigungszahlungen für Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung streichen wollte, die eine „erkennbar verfassungsfeindliche Partei“ vertreten.
Sind damit Benachteiligungen von „verfassungsfeindlichen Parteien“ gänzlich ausgeschlossen? Nein, aber sie bedürfen einer verfassungsrechtlichen Grundlage. So hat der verfassungsändernde Gesetzgeber inzwischen die entsprechenden Hinweise des BVerfG im NPD-Urteil (ebd, Rn. 625) aufgegriffen und Art. 21 GG dahingehend geändert, dass verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden können. Die Entscheidung über die Verfassungsfeindlichkeit obliegt wiederum dem BVerfG. In weitergehender Umsetzung dieser Hinweise wäre es auch denkbar, an die Erfüllung des Tatbestands der Verfassungsfeindlichkeit weitere Rechtsfolgen zu knüpfen und entsprechende Parteien zusätzlich auch von der Nutzung öffentlicher Einrichtungen auszuschließen. Zwar wurde dagegen (etwa von Morlok in ZRP 2017, 67 f.) eingewandt, dadurch werde die Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt; indes benachteiligt auch ein Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung eine Partei (und zwar ganz erheblich) gegenüber ihren Konkurrenten im Wahlwettbewerb. Es wäre jedenfalls nicht konsequent, das eine als verfassungsrechtlich zulässig, hingegen das andere als unzulässig zu bewerten.
Klar ist damit aber auch: Benachteiligungen von verfassungsfeindlichen Parteien im politischen Wettbewerb festzulegen, ist Sache des verfassungsändernden Gesetzgebers. Und die Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit ist zwingend dem BVerfG zu übertragen, um eine politische Instrumentalisierung des Sanktionsregimes oder auch nur den Anschein derselben auszuschließen.
Die Folgen für die Stadt Wetzlar…
In Wetzlar wollte man nicht warten, bis eventuell irgendwann einmal das Grundgesetz den Kommunen gestattet, einer Partei die Überlassung ihrer öffentlichen Einrichtungen zu versagen. Bis zuletzt klammerte sich die Stadt an die angeblich nicht eingehaltenen Mietbedingungen. Allerdings hatte das BVerfG in seinem Beschluss darauf hingewiesen, dass die Antragsgegnerin die Befolgung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen mit Gründen verweigere, die sie vor den Verwaltungsgerichten entweder nicht rechtzeitig geltend gemacht hat oder die von diesen als unerheblich beurteilt wurden. Der Tenor des Beschlusses war entsprechend unmissverständlich formuliert: Die Stadt hatte der Partei die Stadthalle für die Durchführung der Wahlkampfveranstaltung zu überlassen.
Der politische Wille, der NPD nicht die Stadthalle zu überlassen, bewog aber die Verantwortlichen, sogar diesen Beschluss des BVerfG zu ignorieren. Das nun auf Kosten der Steuerzahler fällig gewordene Zwangsgeld von 7.500 € ist dabei noch der kleinste, wenn auch vor dem Hintergrund der rechtskräftig geklärten Rechtslage völlig überflüssige Preis dafür. Zusätzlich wird der Fall auch noch die kommunale Rechtsaufsicht beschäftigen. Nicht umsonst hatte das BVerfG in der Pressemitteilung zu seinem Beschluss darauf hingewiesen, dass es „die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde deswegen aufgefordert [hat], den Vorfall aufzuklären, notwendige aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten.“ Indes muss sich die Rechtsaufsicht fragen lassen, warum sie nicht früher eingeschritten ist, um mittels ihres Instrumentariums nach den §§ 137 ff. HessGO die Stadt zur Einhaltung des Rechts zu zwingen.
…und für unserer Rechtskultur
Um ein vielfaches gravierender sind aber andere denkbaren Folgen, die von Wetzlar aus wie Schockwellen unsere Rechtskultur durchlaufen könnten: Der Vorgang ist, ohne übertreiben zu müssen, geeignet, Grundfesten unserer Verfassung – nämlich die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz und den Grundsatz der Gewaltenteilung – in Frage zu stellen. Denn: Wann hat es das schon einmal gegeben, dass sich eine staatliche Körperschaft ganz bewusst über eine Entscheidung des höchsten deutsche Gerichts hinweggesetzt hat? Was sind dann künftig Entscheidungen des BVerfG wert, wenn der Staat sie nicht mehr zu befolgen gedenkt? Wird das Beispiel Schule machen und werden künftig noch weitere Körperschaften die Verfolgung ihrer politischen Ziele, mögen sie auch noch so legitim erscheinen, über das gesprochene Recht stellen? Dann hätte der Stadthallen-Fall zu Wetzlar wahrlich die Büchse der Pandora geöffnet.
Soweit darf es nicht kommen. Deswegen muss das Negativbeispiel Wetzlar einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden und uns allen die essentielle Funktion des Rechtsstaats in Erinnerung rufen: Wir können Gerichtsentscheidungen für fundamental falsch halten; aber nur, wenn wir ihre Bindungswirkung akzeptieren, wird das Recht seine befriedende Funktion für unsere Gesellschaft auch künftig uneingeschränkt entfalten können. Und, jetzt mal ehrlich: Wollen wir diese großartige Errungenschaft nur wegen ein paar – ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten Gauck: – „Spinnern“ aufs Spiel setzen? Darüber sollten die Verantwortlichen in Wetzlar und allen anderen Kommunen einmal vertieft nachdenken.
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