Das Next-Generation-Urteil des BVerfG – europaskeptische Integration?

von ESTER SCHUKAJLOW

Am 6. Dezember 2022 sprach der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sein lang erwartetes „Nikolaus-Urteil“: in einem zweistündigen Verkündungstermin erklärte er das deutsche Zustimmungsgesetz zum EU-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ für mit dem europäischen Integrationsprogramm vereinbar – oder doch nicht? Ein sorgfältiger Blick auf die Entscheidung zeigt, dass sie womöglich mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.

Zum Fall:

Ende 2020 beschloss die EU ein Programm, in dessen Rahmen sie sich zum ersten Mal in erheblichem Umfang verschuldete: Der Eigenmittelbeschluss 2020 ermächtigt die Kommission, gestützt auf Art. Art. 122, 311 III AEUV, 750 Milliarden Euro zu den Preisen von 2018 am Kapitalmarkt aufzunehmen. Hiervon sollen 390 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse an die Mitgliedstaaten fließen – die Union muss sie also selbst tilgen. Durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum neuen Eigenmittelbeschluss (ERatG) fühlten sich die Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerden 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21 in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 I i.V.m. Art. 20 I, II, 79 III GG verletzt. Die Ermächtigung der Kommission zur Kreditaufnahme läge außerhalb der Unionskompetenz und höhle die politische Gestaltungsmacht des Bundestages substanziell aus.

Entscheidung und Erwägungen des Senats

Die Senatsmehrheit (6:1) sieht die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 38 I i.V.m. Art. 20 I, II, 79 III GG im Ergebnis nicht als verletzt an. Wirft man jedoch einen genaueren Blick auf die Argumentationslinie des Gerichts, könnte man meinen, dass es zum gegenteiligen Schluss kommen will: Obwohl die Verträge keine Ermächtigung der Union zur Aufnahme von Krediten enthielten, sei eine Kreditaufnahme als sonstige Einnahme im Eigenmittelbeschluss gem. Art. 311 II AEUV grundsätzlich möglich, falls die Mittel zweckgebunden für eine Kompetenz der Union eingesetzt werden, die Kreditaufnahme zeitlich und der Höhe nach begrenzt ist und die anderen Eigenmittel nicht übersteigt. Ob diese Voraussetzungen hier eingehalten worden seien, sei mit Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsgrundlage Art. 122 I, II AEUV sowie die Höhe der aufzunehmenden Mittel fraglich (Rn. 149).

Diese Skepsis gegenüber der Primärrechtskonformität des Rechtsakts setzen sich mit Hinblick auf die no-bailout-Regel des Art. 125 AEUV fort: Einen Verstoß gegen Art. 125 AEUV sieht das Gericht dann, wenn der betroffene Rechtsakt eine Haftungsübernahme der Bundesrepublik für die Kredite von Union und Mitgliedstaaten enthält. Zwar erkennt das Gericht im Eigenmittelbeschluss 2020 eine solche Haftungsübernahme nicht (Rn. 218). Umgekehrt geht der Senat in Rn. 229 jedoch von einem Haftungsrestrisiko aus. Somit sei ein Verstoß gegen Art. 125 AEUV jedenfalls nicht ausgeschlossen (Rn. 203).

Fataler Rückzug auf das Offensichtlichkeitskriterium

Zwangsläufig drängt sich die Frage auf, warum das Bundesverfassungsgericht – ohne Vorlage an den EuGH – einen EU-Rechtsakt für verfassungskonform erklärt hat, an dessen Vereinbarkeit mit dem europäischen Integrationsprogramm es offenbar gewichtige Zweifel hatte. Die Antwort hierauf findet die Senatsmehrheit im Kriterium der Offensichtlichkeit: Das Vorliegen eines ultra-vires-Akts kann nur bejaht werden, wenn ein hinreichend qualifizierter, offensichtlicher Verstoß gegen das in den Verträgen verankerte Integrationsprogramm vorliegt (Bankenunion, PSPP). An dieser Offensichtlichkeit fehle es hier.

Der Kontrast zu früheren Entscheidungen des Senats in EU-Kompetenzfragen ist nicht von der Hand zu weisen. In der Bankenunion-Entscheidung hat er eine feingliedrige europarechtliche Prüfung des infrage stehenden Rechtsakts vorgenommen, im Rahmen von PSPP zweimal dem EuGH vorgelegt und schließlich die Vereinbarkeit mit dem Integrationsprogramm mit einem Paukenschlag abgelehnt. Dogmatisch lässt sich argumentieren, dass im Bankenunion-Fall die europarechtliche Prüfung eine Vereinbarkeit mit dem Primärrecht ergab, sodass sich ein Rückgriff auf die Offensichtlichkeit erübrigte, während bei PSPP auch die Offensichtlichkeit zusätzlich zu einem möglichen Primärrechtsverstoß gegeben war. Im Lichte der in Art. 23 I GG verankerten Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und der Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV muss jedoch bezweifelt werden, ob ein nationales Verfassungsgericht bei einer solchen Fülle an Fragen zur Auslegung der Verträge auf eine Vorlage verzichten darf.

Diese Bedenken teilt auch BVR Müller: In seinem Sondervotum prangert er an, der Senat würde „den Dialog der europäischen Verfassungsgerichte verweigern“ und ließe „alle relevanten unionsrechtlichen Fragen unbeantwortet“. Dieser Bewertung des Nikolausurteils ist leider zuzustimmen. Der Senat scheint Bedenken der Klägerseite gegenüber dem ERatG teilweise mitzutragen, nur um das Zustimmungsgesetz – ohne weitergehende materielle europarechtliche Prüfung – vollumfänglich abzusegnen. Ein in der Sache derart zurückhaltendes Urteil wird der Bedeutung und Tragweite von Art. 23 I GG, Art. 267 AEUV nicht gerecht. Wenn das Bundesverfassungsgericht sich schon selbst das Recht eingeräumt hat, als nationales Gericht Kompetenzeinhaltung durch die Union überprüfen zu dürfen, sollte es dieses Recht mit der großen Sorgfalt ausüben, die die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gebietet. Das bedeutet nicht, dass es hochabstrakte und offen formulierte Normen wie Art. 122 AEUV schulmäßig durchprüfen sollte wie einen §34 BauGB (S. Verfassungsblog-Kommentar Thomas Groß). Indes kann die Weigerung, sich mit der primärrechtlichen Grundlage eines Rechtsakts überhaupt auseinanderzusetzen, während man Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit schürt, auch nicht die Antwort sein. Geboten wäre eine genaue Betrachtung der einschlägigen Normen im Lichte der Besonderheiten des Unionsrechts, unter Würdigung der Argumentation beider Seiten und in enger Abstimmung mit dem EuGH. Ansonsten verletzt der Senat seine eigene Maßstabsbildung (Rn. 131): wenn nämlich das bloße Vorliegen alternativer Auslegungsmöglichkeiten, die unionsrechtliche „Unbedenklichkeit“ attestieren, für fehlende Offensichtlichkeit nicht ausreicht, so darf sich das Gericht nicht darauf begrenzen, darzulegen, dass das Primärrecht so auslegbar sei, dass NGEU mit ihm vereinbar ist, ohne sich einer bestimmten Auslegung anzuschließen oder diese zu billigen (ähnlich Ruffert).

Ausblick und Bewertung

NGEU hat die große finanzielle und politische Macht der Union erneut auf den Plan gerufen. Aller Europaskepsis zum Trotz suchen die Mitgliedstaaten in Krisensituationen auch post COVID gemeinsam nach Lösungen: Erst kürzlich haben sich die Energieminister*innen auf Notfallmaßnahmen zur Eindämmung hoher Energiepreise und zur Verbesserung der Versorgungssicherheit geeinigt (https://www.consilium.europa.eu/de/policies/energy-prices-and-security-of-supply/).

Das Bundesverfassungsgericht muss sich in Zukunft entscheiden, ob es am umstrittenen Konstrukt der ultra-vires-Kontrolle festhalten will oder nicht. Sollte es sich weiter die „Letztentscheidungsbefugnis“ über die deutsche Beteiligung an unionalen Rechtsakten zugestehen, wäre es wünschenswert, dass es Urteile spricht, die vermeidbare Auslegungsunsicherheiten im Europarecht ausräumen, statt sie zu vertiefen. Alternativ könnte das Gericht darauf verzichten, aus seinem nationalen Blickwinkel das Kompetenzgefüge der Union zu überprüfen, und sich aus der ultra-vires-Kontrolle zurückziehen. Der vom Gericht hier gewählte Mittelweg hinterlässt bei allen Verfahrensbeteiligten den bitteren Nachgeschmack: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Müller).

 

Zitiervorschlag: Schukajlow, Ester, Das Next-Generation-Urteil des BVerfG – europaskeptische Integration?, JuWissBlog Nr. 74/2022 v. 20.12.2022, https://www.juwiss.de/74-2022/.

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Dr. Robert Pracht
    20. Dezember 2022 16:13

    Vielen Dank für diese Einordnung! Die Kritik teile ich – es wäre für den individuellen Rechtsschutz und die Kooperation zwischen dem BVerfG und dem EuGH deutlich förderlicher, wenn man jedenfalls vor der Vorlage an den EuGH auf das Offensichtlichkeitskriterium bei der Prüfung einer Kompetenzverletzung verzichtete. Denn nach Art. 267 Uabs. 1 lit. b und Uabs. 3 AEUV ist das BVerfG bereits bei Zweifeln über die Gültigkeit der Handlung einer Unionsstelle zur Vorlage an den EuGH verpflichtet.
    Das Grundproblem am Offensichtlichkeitskriterium ist m.E., dass es in der Rechtsprechung nie wirklich konturiert wurde, sondern nach meinem Eindruck eine Kompetenzverletzung dann ‚offensichtlich‘ war, wenn das BVerfG eben hiervon ausgehen wollte.

    Antworten
    • Ester Schukajlow
      4. Januar 2023 13:12

      Vielen Dank für Ihren Kommentar! Aus prozessökonomischen Gesichtspunkten ist das Offensichtlichkeitskriterium womöglich sogar sinnvoll und Art. 267 UAbs. 3 AEUV teleologisch reduzierbar. Was aber nicht geht – da stimme ich Ihnen zu – ist der hier erfolgte Ge(oder Miss?-)brauch des Offensichtlichkeitskriteriums als Allheilmittel gegen unangenehme Entscheidungen oder schwer zu generierende Mehrheiten im Senat. Das Ergebnis ist die Reduktion der Offensichtlichkeit auf ein reines Billigkeitskriterium, das „sich jeder schematischen Prüfung entzieht“, wie der BGH es so schön für das Bereicherungsrecht formuliert hat. Ob der EuGH und das Gebot effektiven Rechtsschutzes uns so einen Umgang mit Art. 267 UAbs. 3 AEUV danken werden, bleibt abzuwarten.

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