Angriffe auf Strasbourg aus Kopenhagen, Rom und anderswo

von LASSE RAMSON

Vergangene Woche haben Dänemark, Italien, Österreich, Belgien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen und Polen in einer öffentlichen Erklärung gefordert, den Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention in Zukunft weiteren Spielraum als bisher in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen zu lassen. Der Verstoß begegnet Kritik: Der Generalsekretär des Europarats Alain Berset ließ verkünden, dass sich das Gericht „nicht den Launen der Politik beugen“ dürfe. Die deutsche Bundesregierung äußerte sich zurückhaltend. Dieser Blogbeitrag ordnet die Erklärung in den andauernden Reformdebatten rund um das europäische Menschenrechts- und Asylsystem ein und erläutert, warum es sich dabei um einen qualitativ weiter reichenden Vorschlag als bisher handelt.

Alte Töne: Nach der Reform ist vor der Reform

Das rund um die Europäische Menschenrechtskonvention errichtete Rechtsschutzsystem ist seit seinen Anfängen in den 50-er Jahren von ständigen Reformen geprägt. Die Einführung der Möglichkeit einer direkten Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch das Protokoll Nr. 11 war selbst Ergebnis eines solchen Reformschritts. Strukturiert wurde dieser Reformprozess seit den 2010-er Jahren durch eine Serie von Konferenzen, die sich in einer Krisenzeit des Gerichtshofs – die Stichworte waren Dauerüberlastung und Nichtbefolgung – gezielt auf die Suche nach Lösungen für die Zukunft des europäischen Menschenrechtssystems machten. Geprägt waren diese Debatten von einem komplexen Geflecht von Argumenten. Die Ergebnisse waren aus Perspektive der Resilienz und Eigenständigkeit des Gerichtshofs oft mehrdeuting: Einerseits erlaubten sie ihm, seine Arbeit besser zu organisieren und der Verfahrensmenge Herr zu werden, andererseits verlagerten sie Macht zurück in die Hände der Mitgliedsstaaten des Europarats. Das war gelegentlich von souveränistisch Argumenten getragen und wurde gerade unter dem Gesichtspunkt der Universalität und Abwehrfunktion von Menschenrechten kritisiert.

Als Beispiel für diese Ambiguität mögen die Protokolle Nr. 14 und Nr. 15 dienen, die 2010 und 2021 in Kraft getreten sind und diverse Veränderungen in den Verfahren des Gerichtshofs eingeführt haben. Protokoll Nr. 14 führte im Wesentlichen höhere Hürden für die Zulässigkeit von Individualbeschwerden ein und erlaubte, Unzulässigkeitsentscheidungen durch Einzelrichter*innen erledigen zu lassen. Protokoll Nr. 15, das bisweilen auch „Subsidiaritätsprotokoll“ genannt wird, enthielt – neben kleineren Änderungen unter anderem an der Beschwerdefrist – auch eine Änderung an der Präambel, die nun den Grundsatz der Subsidariatät und die margin-of-appreciation-Doktrin besonders hervorhebt.

Beide Protokolle stärken die Möglichkeiten des Gerichtshofs, Verfahren für unzulässig zu erklären. Gleichzeitig nehmen sie ihm auch insofern Entscheidungsfreiheit, als dass die Annahme einer Beschwerde zur Entscheidung erklärungsbedürftiger Wert, und gerade Protokoll Nr. 15 liefert konventionskritischen Signatarstaaten Munition für Kritik an einzelnen Entscheidungen. Insofern hat Protokoll Nr. 15 mit seiner Betonung der Subsidiarität Effekte gezeitigt, auch ohne dass es dafür einer mehr als „symbolischen“ Anpassung des Rechtstextes gebraucht hätte. Hinter den Kulissen gingen die Reformvorschläge zum Teil deutlich weiter, und sie haben, genau wie öffentliche Erklärungen der Staaten, auch ohne in Protokollform gegossen worden zu werden, die Rechtsprechung des Gerichtshofs beeinflusst.

Die Reformdebatte dauert weiterhin an, die entsprechenden Kommittees arbeiten und evaluieren die bisherigen Reformen, und weitere Vorschläge stehen im Raum. Insofern fügt sich der Vorstoß im hier diskutierten offenen Brief in die Reformdebatte ein und findet sich im Lager der souveränitätsbetonenden Signatarstaaten wieder.

Neue Töne: Rights for me but not for thee

Der Vorstoß hat aber auch neue Qualität, weil er erstmals auf so breiter Staatenbasis explizit die Universalität der materiellrechtlichen Gehalte der Rechte der Konvention und ihre Auslegung in Frage stellt. Anders als den bisherigen Reformvorstößen geht es dem Papier selbst vordergründig nicht in erster Linie um eine allgemeine, souveränitätsgeleitete Ausweitung von Entscheidungsspielräumen der Signatarstaaten. Es geht vielmehr darum, innerhalb des bestehenden Rechtsschutzssystems zwischen den Anderen ((„nicht-westlichen“) Migrant*innen) und den Eigenen einen Unterschied machen zu dürfen.

Im Hintergrund mag es sich dabei, wie Analysen zeigen, auch in den vergangenen Reformdebatten schon um einen entscheidenden Antrieb für Reformforderungen gehandelt haben – neu ist hier dann immer noch, dass der bisher unausgesprochene Teil ausgesprochen wird. Die Erklärung ist hier auch völlig deutlich und lässt sich nicht anders deuten, als dass gerade die universale Dimension der Gewährleistungen der Konvention als problematisch angesehen wird. Es heißt darin wörtlich: „the interpretation of the Convention has resulted in the protection of the wrong people“. Dem Papier geht es insofern spezifisch um criminals, dabei ist aber – wie immer in dieser Vermischung – entscheidend mitzudenken, dass migrationsfeindliche Regierungen gerade krimogen wirken und dass es um den Abbau von Verfahrensrechten geht, die im Kontext von Kriminalität besonders bedeutsam sind.

Allianzen: Only Frederiksen could go to Rome

Ein interessantes Detail des Reformpapiers ist seine Entstehung. Italien und Dänemark hatten, wie aus dessen Einleitung hervorgeht, gemeinsam die Initiative ergriffen. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass die italienische Regierung, deren Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit (neo-)faschistischer Symbolik kokettiert, ein solches Vorhaben vorantreibt. Die dänische Regierung wird allerdings von Sozialdemokraten unter Ministerpräsidentin Mette Frederiksen geführt. Wer die dänische Politik der letzten Jahre verfolgt, weiß allerdings, dass das Vorhaben ins Bild passt. Ein dezidiert migrationsfeindlicher Kurs ließ Dänemark in den vergangenen Jahren schon häufiger in Konflikt mit supra- und internationalem Recht geraten. So hat etwa der Versuch, die ethnische Zusammensetzung von migrantisch geprägten Stadtteilen „umzugestalten“, erst rechtswissenschaftliche Kritik auf den Plan gerufen und ist nun im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens beim EuGH anhängig – mit deutlicher Kritik daran in den Schlussanträgen der Generalanwältin Tamara Ćapeta. Dänemark war auch in der Vergangenheit schon einer der Treiber von Reformvorhaben im europäischen Menschenrechtssystem, häufig mit dem Hintergrund einer souveränistisch Perspektive auf Migration. Der Seitenblick zur Europäischen Union zeigt, dass auch dort ähnliche Allianzen bei der Reform des europäischen Asylsystems eine Rolle gespielt haben – ebenfalls mit Effekten, welche die Menschenrechtskonformität fraglich scheinen lassen.

Graue Aussichten: Vorgänge anderswo

Das Papier der neun Regierungen ist kein singuläres Ereignis, sondern steht im Kontext einer Migrationsdebatte, die sich immer weiter in Richtung einer Abschottung verschiebt, die in Konflikt mit menschenrechtlichen Gewährleistungen und vor allem ihrer notwendigen Universalität steht. Verteidigende Worte für das (europäischen) Menschenrechtssystems gibt es in den Regierungen Europas nur noch selten. Und auch in der Rechtswissenschaft tendieren manche dazu, eine Differenzierung zu fordern, die der Universalität der Menschenrechte entgegen steht.

Wenngleich die deutsche Bundesregierung sich, anders als die österreichische, nicht an dem offenen Brief beteiligt hat, und in der Bundespressekonferenz der Vorstoß sogar in einer Weise aufgenommen wurde, die sich als kritisch interpretieren lässt, gilt das nicht für die Unionsfraktion, aus deren Reihen Zustimmung zu dem Brief zu hören war. Die anstehenden Reformen des deutschen Rechts aufgrund des Koalitionsvertrags führen dann auch eher zu einer zunehmenden Aufweichung der grund- und menschenrechtlichen Standards. Und nicht zuletzt begrüßt die Bundesregierung auch die insoweit ähnlich gelagerten Vorhaben der EU-Kommission.

Unabhängig davon, ob Vorstöße wie der hier diskutierte jemals zu einer Änderung der Vertragstexte der Konvention führen, zeitigen sie jedenfalls auch so Wirkung, denn der  Gerichtshof ist – wie jedes Gericht – von politischer Unterstützung und Akzeptanz abhängig und damit auch für deren Verlust sensibel. Schon jetzt mahnen manche, dass seine zunehmende freihändige Handhabung von Zulässigkeitsvoraussetzungen und margin-appreciation-Doktrin dazu führen könnten, dass die gleichmäßige Anwendung der menschenrechtlichen Gewährleistungen in Frage und ein abgeschwächter Schutzstandard für Migrant*innen geschaffen werden könnte. Mit dem hier diskutieren Vorstoß erhöht sich der politische Druck weiter – Grund genug, die Universalität der Menschenrechte als Bedingung ihrer Wirksamkeit in Erinnerung zu rufen.

 

Zitiervorschlag: Ramson, Lasse, Angriffe auf Strasbourg aus Kopenhagen, Rom und anderswo, JuWissBlog Nr. 47/2025 v. 28.05.2025, https://www.juwiss.de/47-2025/.

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

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