Einstweiliges aus Strasbourg zur Krim-Krise

von FREDERIKE KOLLMAR

KollmarLSEppingAuf der Internetseite des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte findet sich in der vergangenen Woche eine Pressemitteilung, der weitreichendere Bedeutung zukommen könnte, als es die ihr bisher (nicht !) geschenkte mediale Aufmerksamkeit vermuten ließe: Am 13. März 2014 reichte die ukrainische Regierung einen Antrag im Staatenbeschwerdeverfahren nach Art. 33 EMRK gegen die russische Föderation zum EGMR ein. Zugleich beantragte die Regierung, vorläufige Maßnahmen gegenüber der russischen Regierung anzuordnen. Der Präsident der 3. Division des Gerichtshofs (Richter Josep Casadevall) ist dem unverzüglich nachgekommen. Er hat – wohlgemerkt – beiden Vertragsparteien auferlegt, sämtliche Maßnahmen, insbesondere solche militärischer Art zu unterlassen, welche geeignet sind, Verletzungen der in der Konvention verbürgten Rechte, hervorzurufen und ihren Verpflichtungen aus der Konvention, insbesondere aus Art. 2 (dem Recht auf Leben) und Art. 3 (dem Verbot einer menschenunwürdigen Behandlung) nachzukommen. Hierzu – so die Pressemitteilung – sah sich Casadevall aufgrund der derzeitigen Situation veranlasst, welche eine bestehende Gefahr schwerer Verletzungen der EMRK-Rechte bürge.

Die vom Gerichtshof gewählte Formulierung erinnert in gewisser Weise an die Inhalte einiger Sicherheitsratsresolutionen, welche nach Art. 25 VN-Charta verbindlich sind und deren Nichtbefolgung zu einem Völkerrechtsbruch führt. Soll also in Strasbourg gelingen, was in New York ob der ständigen Mitgliedschaft Russlands und der damit verbundenen Blockademöglichkeit schier undenkbar wäre?

Bindungswirkung einstweiliger Maßnahmen

Die Befugnis zum Erlass einstweiliger Maßnahmen ist nicht in der EMRK selbst, sondern in Regel 39 der Verfahrensordnung, der sich die Hohen Vertragsparteien – anders als dies bei den Statuten des IGH und des IStGH der Fall ist – nicht unterwerfen, sondern die sich der EGMR gem. Art. 25 lit. d EMRK selbst gibt, geregelt. Es handelt sich dabei also um bloß abgeleitetes Konsensrecht. Der EGMR hat vor diesem Hintergrund auch nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls eine Bindungswirkung einstweiliger Maßnahmen zunächst verneint. Dem durch den IGH im LaGrand-Fall eingeschlagenen „Trend“ folgend, kam es jedoch mit der Entscheidung im Fall Mamatkulov u. Askarov./. Türkei zu einem Rechtsprechungsumschwung. Der EGMR stellte hierin – wenn auch nicht expressis verbis so doch der Sache nach – erstmals die Verbindlichkeit vorläufiger Maßnahmen fest. Er begründete dies in bekannter Manier mit Ziel und Zweck der EMRK als Instrument zum effektiven Schutz der Menschenrechte, welches dynamisch auszulegen sei (living instrument). Zudem verwies er auf die Praxis sowohl des IGH, als auch des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, sowie des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Da einstweilige Maßnahmen der Vermeidung irreparabler Schäden zur Sicherung der wirksamen Überprüfung der Beschwerde dienen, untergrabe deren Nichtbeachtung das Recht der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK und damit die von den Hohen Vertragsparteien übernommene Pflicht aus Art. 1 EMRK. Schließlich führte der EGMR in dieser Entscheidung noch Art. 46 EMRK und die Sicherung der Befolgung des endgültigen Urteils durch das Ministerkomitee als durch die Nichtbeachtung vereitelt an. Die so eingeschlagene – obschon nicht unumstrittene – Rechtsprechungslinie gilt heute als gefestigt, so dass teilweise in Anlehnung an das nationale Recht auch von einstweiligen Anordnungen gesprochen wird.

Einstweilige Maßnahmen nach Regel 39 VerfO sind dabei auf dringende Ausnahmefälle beschränkt und kommen nur dann zur Anwendung, wenn der Gerichtshof die unmittelbare Gefahr eines irreparablen Schadens prognostiziert. In der ganz großen Masse der Fälle geht es – wenn auch freilich längst nicht mehr ausschließlich – um sog. Auslieferungs- bzw. Ausweisungs- und Abschiebefälle, bei denen regelmäßig die Rechte aus Art. 2 und 3 EMRK unmittelbar gefährdet sind. Jedenfalls fügt sich die hiesige Anordnung also insofern ein, als dass auch hier der Gerichtshof zur Einhaltung (insbesondere) eben dieser Rechte mahnt.

Rechtliche Konsequenzen der bloßen Nichtbeachtung

Der EGMR ging später noch einen Schritt weiter, indem er im Fall Olaechea Cahus./.Spanien urteilte, dass die Nichtbeachtung der einstweiligen Maßnahme per se zu einem Konventionsrechtsverstoß führe. Dies nahm er ungeachtet der Tatsache an, dass die Nichtbeachtung einer einstweiligen Anordnung bei retrospektiver Betrachtung tatsächlich nicht zu einer Vereitelung des Beschwerderechts aus Art. 34 EMRK geführt hat. Diese Annahme bestätigte er im Fall Mostafa u.a../.Türkei. Er erhebt dabei – und das ist vorsichtig gesagt bemerkenswert – eine bloße Verfahrensvorschrift in den Rang eines Konventionsrechts, indem er Regel 39 VerfO unmittelbar mit Art. 34 EMRK verknüpft. Hierfür bemüht der Gerichtshof wiederum das Effektivitätsargument.

Übertragbarkeit auf die Staatenbeschwerde

Bleibt zu fragen, ob sich diese Rechtsprechungslinie auch auf die Anordnung einstweiliger Maßnahmen im Staatenbeschwerdeverfahren übertragen lässt. Das Staatenbeschwerdeverfahren nach Art. 33 EMRK ist dem Individualbeschwerdeverfahren eng verwandt und unterscheidet sich im Wesentlichen nur hinsichtlich des Beschwerdeführers, nämlich eines Konventionsstaats. Dieser macht dabei keine eigenen Rechte geltend, sondern fordert die sich aus der EMRK als völkerrechtlichem Vertrag geschuldete Einhaltung der darin verbürgten Rechte und Pflichten ein. Stellt man also – und so lässt sich jedenfalls die Entscheidung Mamatkulov und Askarov./.Türkei lesen – auf die Verletzung der völkervertraglich übernommenen Pflichten der Staaten aus der Konvention ab, ließe sich in der Zusammenschau aus Art. 1, 46 und 34 Letzterer auch durch Art. 33 EMRK ersetzen. Denn während die Verfahren der Individual- wie auch der Staatenbeschwerde grundsätzlich repressiv und retrospektiv konzipiert sind, gilt dies für das Konventionssystem insgesamt gerade nicht. Es kann deshalb keinen Unterschied machen, ob die Einhaltung der in Art. 1 EMRK übernommenen Pflicht der Konventionsstaaten zur Sicherung (hier) der Rechte aus Art. 2 und 3 EMRK im Zusammenhang mit einer Individual- oder mit einer Staatenbeschwerde durch die Anordnung einstweiliger Maßnahmen eingefordert wird.

Und nun?

Bislang lässt sich leider nicht ausmachen, aufgrund welcher konkreten Anhaltspunkte sich der Gerichtshof zum Erlass einstweiliger Maßnahmen gezwungen sah. Dies liegt zum einen daran, dass einstweilige Anordnungen nicht mit einer offiziellen Begründung auf der Seite des EGMR versehen veröffentlicht werden (was nach hiesiger Ansicht massiv zur „Befolgungsunfreudigkeit“ beiträgt). Zum anderen ist der Antrag der ukrainischen Regierung im Verfahren nach Art. 33 EMRK bislang nicht zugänglich, so dass sich auch bezüglich der Erfolgsaussichten dieses Verfahrens schwerlich eine Prognose treffen lässt. Marten Breuer wirft in seinem gestrigen Beitrag insofern zu Recht die Frage auf, ob hier „völkerrechtliches forum shopping“ betrieben wird und nicht an sich der IGH in Den Haag der bessere „Adressat“ gewesen wäre. Ebenfalls unklar ist, ob sich die Akteure an die Anordnung halten werden, was mit Blick auf die Erfahrungen aus der Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien sowie auf die sonstige Befolgungspraxis Russlands und der Ukraine bezweifelt werden kann.

 

[Hinweis der Redaktion: weitere Beiträge zur Krim-Krise auf dem JuWissBlog von Ralph Janik und Sinthiou Buszewski]

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