Im Namen der Ordnung – auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit?

Luci Haspingervon LUCI HASPINGER

Schon im Wahlkampf dominierte die sog. Migrationspolitik die Debatte und warf immer wieder Fragen gesellschaftlicher Spaltung auf. Innenminister Dobrindt hat die vermeintliche Grenzlinie nunmehr verstärkt. Mit einem Schreiben an die Bundespolizei weist er Beamt:innen an, Asylsuchende an den deutschen Außengrenzen abzuweisen, mit Ausnahmen nur für besonders vulnerable Gruppen. Zwischen Wahlversprechen, Unionsrecht und Grundgesetz stellt sich die Frage: Balanciert diese Vorgehensweise noch auf der rechtlichen Grenzlinie oder marschiert sie geradewegs über die roten Linien unserer Verfassung hinweg?

Normative Grundlagen zur Grenzabweisung Schutzsuchender

Ein kurzer Überblick, über den einschlägigen Regelungskomplex:

1. Das „sichere Drittstaat“-Prinzip – Art. 16a Abs. 2 GG, § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG

Nach dem Wortlaut des Art. 16a Abs. 2 GG können sich Personen, die aus einem sog. „sicheren Drittstaat“ einreisen, nicht auf das in Art. 16 Abs. 1 GG verankerte Asylrecht für politisch Verfolgte berufen. Die Grundgesetznorm findet ihre einfachgesetzliche Konkretisierung etwa in § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG).

Art. 16a Abs. 2 GG wurde 1993 inmitten der Umbruchszeit nach dem Mauerfall verabschiedet – eine Phase, die von einer aufgeladenen gesellschaftlichen Stimmung und politischer Neuordnung geprägt war. Die Grundgesetzänderung gilt als Reaktion auf Ängste vor einer sog. „Asylflucht“ und auf eine Debatte, die vom Vorwurf des „Asylmissbrauchs“ durchzogen war. Art. 16a Abs. 2 GG steht bis heute in der Kritik, das deutsche Asylgrundrecht faktisch auszuhöhlen. Denn Schutzsuchende werden kaum auf anderem Weg als durch die angrenzenden EU-Staaten oder die Schweiz einreisen können.

2. Transnationale Einbindung des Asylrechts – Völkerrechtliche Grundsätze

Das deutsche Grundgesetz ist eingebettet in ein Netz internationaler menschenrechtlicher Schutzmechanismen wie bspw. die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Sie garantieren, dass niemand in Staaten zurückgewiesen werden darf, in denen ihm Verfolgung oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Art. 33 GFK enthält das zentrale Gebot des „Non-Refoulement“, also den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung, der auch das Verbot der „Kettenabschiebung“ umfasst.

Die GFK gilt gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG als verbindliches Völkervertragsrecht. Ihre Inhalte finden sich etwa in § 3 AsylG wieder, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK regelt. Das bedeutet: Auch wenn kein Anspruch gemäß Art. 16a Abs. 1 GG besteht, kann dennoch das Regime des § 3 AsylG/GFK greifen.

3. Verschränkungen mit dem Unionsrecht – Art. 23 Abs. 1 S. 2, Art. 16a Abs. 5 GG

Trotz Parallelen zur Lage im Jahr 1993 unterscheidet sich die gegenwärtige rechtliche und integrationspolitische Ausgangssituation grundlegend. Heute ist Deutschland tief in das supranationale Gefüge der Europäischen Union und das menschenrechtliche Mehrebenensystem eingebettet, welche sich u.a. durch die Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte weiterentwickelt haben. Diese mehrschichtige Verflechtung prägt den verfassungsrechtlichen Rahmen – sie ist ein Wesensbestandteil unserer Verfassung, wie der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG zeigen. In Bezug auf die EU ist dies normativ in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG verankert.

Art. 16a Abs. 5 GG enthält außerdem eine spezialgesetzliche Ermächtigung für das sog. Dublin-Verfahren, das Teil des gemeinsamen europäischen Asylsystems ist. Grundanliegen dieses Systems ist eine koordinierte Zuständigkeitsverteilung für die Bearbeitung von Asylanträgen zwischen den EU-Staaten. In der Regel ist derjenige Staat zuständig, den Schutzsuchende in der zeitlich chronologischen Reihenfolge zuerst betreten (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO). Ausnahmen greifen, wenn humanitäre Gründe dies gebieten, bspw. weil eine Rückführung in den ursprünglich als zuständig ermittelten Staat mit ernsthaften menschenrechtlichen Risiken verbunden ist. Der erste zwingende Schritt gemäß der Dublin-III-VO ist also stets die Prüfung, welcher Mitgliedstaat für das Asylverfahrens zuständig ist. Eine Zurückweisung an den Grenzen ohne vorherige Einzelfallprüfung – sondern lediglich auf Grundlage bloßer Vermutungen – widerspricht diesem zentralen Strukturprinzip des Dublin-Systems und verletzt damit geltendes EU-Sekundärrecht. So fordern sowohl Art. 6 ff. EU-Asyl-Verfahrens-RL als auch Art. 3 Dublin-III-VO eine inhaltliche Prüfung, gegen deren Ergebnis Schutzsuchende grundsätzlich Rechtsmittel einlegen können. Ob jemand aus einem sicheren Drittstatt einreist, muss nach EU-Recht also im Einzelfall geprüft werden (vgl. EuGH, Urt. v. 29.02.2024 – C-392/22 Rn. 66 ff.). Das erfordert sachlogisch jedoch (zumindest vorläufig) eine Einreise.

Das Zuständigkeitsverteilungssystem kann auch nicht durch die inhaltsleere Formulierung im Koalitionsvertrag (Z. 2988) ersetzt werden, wonach Zurückweisungen „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ erfolgen sollen. Denn eine Floskel kann weder die europarechtlich gebotene Zuständigkeitsprüfung noch rechtsstaatliche Verfahren ersetzen. Hinzu kommt: Auch Art. 18 GRCh verbürgt das Recht auf Asyl.

EuGH und EGMR sind sich einig: Es gibt keine unwiderlegbare Vermutung, dass die Situation in anderen EU-Staaten menschenrechtskonform ist. Liegen systemische Mängel vor, durch die sich die Gefahr einer erniedrigenden oder menschenunwürdigen Behandlung abzeichnet, ist die Rückführung ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO).

4. Die „Notlage“-Klausel – Art. 72 AEUV

Die Anordnung stützt das Innenministerium auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG sowie Art. 72 AEUV. Letzterer eröffne den Spielraum, das Dublin-Verfahren zeitweise außer Kraft zu setzen. Wörtlich lautet die Norm: „Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“.

Die konkrete Anwendung von Art. 72 AEUV in der Praxis ist alles andere als eindeutig. Die Norm wird mitunter fälschlicherweise als klassische Generalklausel interpretiert. Im Verständnis einzelner Mitgliedstaaten vielleicht sogar als „Misstrauensklausel“: Eine Hintertür zur Aussetzung von Unionsrecht, gestützt auf die Vermutung, Nationalstaaten könnten diesen Gefahren besser alleine begegnen. Im Falle transnationaler Herausforderungen nicht nur ein potenzieller Trugschluss, sondern auch ein Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH. In einem Urteil aus dem Jahr 2020 stellte das Gericht klar, dass Art. 72 AEUV eine sehr eng auszulegende Ausnahmevorschrift darstellt. Anders als Schutzklauseln im Binnenmarkt (vgl. Art. 114 Abs. 4 AEUV) hat die Norm keine unmittelbare Anwendungswirkung. Nationale Alleingänge unterlaufen das, u.a. auf dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 AEUV) beruhende abgestimmte System und  gefährden dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts.

Rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze

Laut Heiko Teggatz (DPolG) und Andreas Roßkopf, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sind Zurückweisungen zwingend vorzunehmen. Asylsuchende, die augenscheinlich aus „sicheren Drittstaaten“ kommen und nicht Teil einer besonders vulnerablen Gruppe sind, wird die Einreise verweigert. Letzteres lässt sich im Wege einer pauschalen Grenzabweisung faktisch allerdings kaum überprüfen. Ob eine Person schwanger ist, erkennt man bei einer rein optischen Inspektion oft erst im späteren Stadium der Schwangerschaft. Schwere chronische Krankheiten mit wechselhaften oder nicht sichtbaren Symptomen? Bleiben für Grenzbeamt:innen ohne medizinische Vorkenntnisse kaum erkennbar. All diese Aspekte – und viele weitere – bedürfen einer sachkundigen Prüfung durch zuständige Verwaltungsstellen. Für die Entscheidung, ob eine Zurückweisung oder Zurückführung rechtmäßig ist, braucht es ein rechtlich geregeltes Verwaltungsverfahren, an dessen Ende eine individuelle, menschliche Entscheidung steht.

Und das ist der springende Punkt. Die Bezeichnung „human-in-the-loop“ kennen wir vor allem aus dem digitalrechtlichen Bereich. Im Zusammenhang mit Fragen z.B. zu KI fordert dieser Grundsatz, dass ein Mensch aktiv in den Trainings- und Entscheidungsprozess eingebunden sein muss. Dieses Prinzip muss ebenso für Entscheidungen im Asylsystem gelten. Die Gewährleistung menschlicher Kontrolle, Beurteilung und Verantwortung sind zentrale (rechtsstaatliche) Gebote, die in einem so grundrechtssensiblen Bereich wie dem Asylrecht unverzichtbar sind.

Unser Mehrebenensystem zielt nicht darauf ab, vermeintlich objektive Entscheidungen zu befähigen, die Empathie, Rücksichtnahme und Rechtsstaatlichkeit ausklammern und stattdessen in schematischen, quasi-automatisierten Entscheidungen münden. Im Gegenteil: Es soll garantierten, dass staatliches Handeln an einem rechtlichen Maßstab gemessen wird und im Einklang mit dem grundsätzlichen Gebot menschenwürdiger Behandlung erfolgt. Warum sollten gerade staatliche Entscheidungen, die Individuen und zugleich die Gesellschaft betreffen, von der menschlichen Prüf- und Verantwortungskompetenz entkoppelt werden? Die Würdigung menschlicher Dimensionen – im Lichte verbindlicher rechtlicher Maßstäbe – macht solche Entscheidungen überhaupt erst rechtsstaatlich.

Das Bundesverfassungsgericht betonte immer wieder, dass das Asylgrundrecht ein grundrechtssicheres Verfahren verlangt (BVerfG 56, 216, 236). Auch wenn der deutsche Gesetzgeber in Bezug auf Verfahren und Ausgestaltung einen weiten Gestaltungsspielraum innehat, muss er sich – genau wie das Innenministerium – an rechtsstaatlich unverzichtbare Verfahrensanforderungen halten. Und darunter fällt jedenfalls die faktische Möglichkeit, die Zuständigkeit für ein Asylverfahren im Einzelnen zu prüfen. Über das Unionsrecht hinaus ist das Asylsystem auch von menschenrechtlichen Anforderungen durchzogen, die pauschale Bewertungen im Einzelfall verletzen können. Eine Prüfung darf sich keinesfalls auf eine bloße Sichtkontrolle oder eine rein augenscheinliche Einschätzung der Zugehörigkeit zu einer vulnerablen Gruppe beschränken.

Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, pauschale Zurückweisung – kein Standhalten der Zerreißprobe

Eine Anweisung zur pauschalen Zurückweisung Asylsuchender an deutschen Grenzen verstößt nicht nur gegen das europarechtlich angeordnete Kompetenzverteilungssystem der Dublin-III-Verordnung und rechtsstaatliche Grundsätze. Sie würdigt Asylsuchende auch als Bestandteil einer (vermeintlichen) Gruppe herab, die durch den Verdacht definiert wird, europäische Zuständigkeitsregelungen rechtswidrig unterwandern zu wollen. Das konfligiert mit einer weiteren Grundnorm der deutschen Verfassung: Menschen nicht als Objekt staatlichen Handelns herabzusetzen (Art. 1 Abs. 1 GG). Wird die Zuständigkeitsprüfung übersprungen, wird Schutzsuchenden die individuelle Beurteilung ihres Asylschutzanspruchs faktisch verwehrt oder zumindest erheblich erschwert. Das Trio Menschenwürdegarantie, Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und europäische Integration ist ein tragender Pfeiler unserer Rechtsstaatlichkeit. Die Anweisung zwingender und pauschaler Zurückweisungen Asylsuchender an den deutschen Grenzen bringt das Konstrukt zwar nicht zum Einstürzen, aber das Fundament zum Wanken.

Zitiervorschlag: Haspinger, Luci, Im Namen der Ordnung – auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit, JuWissBlog Nr. 46/2025 v. 27.05.2025, https://www.juwiss.de/46-2025/

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