Das Grundgesetz als Living Document – Wie anpassungsfähig sind unsere Grundrechte?

von PHILIPP SCHÜPFERLING

Unser Grundgesetz vom 23. Mai 1949 ist nun 76 Jahre alt. Seitdem hat sich die Welt einige Male gedreht – und unsere Verfassung hat sich auch durch Änderungen einige Male an moderne Herausforderungen angepasst. Doch seit der Ursprungsfassung des Grundgesetzes sind die zentralen Grundrechte vergleichsweise unberührt geblieben. Der wohl wichtigste Teil unserer Verfassung ist damit älter als der erste kommerziell produzierte Seriencomputer und das Internet. Das wirft natürlich eine zentrale Frage auf: Haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes so gute Gesetzesarbeit geleistet, dass die Grundrechte zeitlos sind? Oder muss in der heutigen Zeit durch Gerichte nachgeholfen werden, um die Menschen zu schützen?

Naturgemäß zeitlose Grundrechte

Wie weit der technologische Fortschritt auch weiterlaufen mag, einige Dinge ändern sich nie. Menschen wollen leben, frei sein und unversehrt bleiben. So gibt es seit eh und je schon die Grundrechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 GG. Diese Rechte sind naturgemäß zeitlos und werden auch weiterhin unverändert bestehen bleiben. Der wichtigste Fall dieser zeitlosen Grundrechte ist die Menschenwürde. Sie steht am Anfang des Grundgesetzes, sinnbildlich als Ausgangspunkt für alle anderen Erwägungen. Diese wichtigste Garantie unserer Verfassung ist in ihrer Bedeutung höchst philosophisch aufgeladen. Das sorgt dafür, dass sie in gewisser Weise niemals vollständig definierbar sein wird und einer ewigen Diskussion unterworfen wird – und das macht sie eben so zeitlos. Die einzige Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Menschenwürde ist das Menschsein. Solange es Menschen gibt, gibt es auch die unantastbare Menschenwürde.

Fortgebildete Grundrechte

Als größten Kontrast zu den zeitlosen Grundrechten kann man die fortgebildeten Grundrechte betrachten. Solche stehen nicht explizit im Grundgesetz, sondern wurden erst vom Bundesverfassungsgericht aus anderen Rechten herausgebildet. So gibt es zum Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art. 1 Abs. 1 GG oder das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm. Art. 20 Abs. 1 Var. 3 GG. Das Besondere an diesen Grundrechten ist nicht nur, dass sie selbst im Ergebnis eines langen dogmatischen Findungsprozesses eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen sind, wie z.B. die (auch damals schon analog) zunehmende Medienpräsenz und die damit einhergehende zunehmende Gefahr von Diffamierungen bzw. die zunehmende Armut und die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Sie sind sogar in ihrer Ausgestaltung ewig anpassungsfähig gestaltet. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (streng genommen eine zivilgerichtliche Erfindung) ist dadurch gekennzeichnet, dass es in einzelne Ausgestaltungen unterteilt ist. So gibt es z.B. das Recht am eigenen Wort, das Recht am eigenen Bild oder auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Je nachdem, wie sich die sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ändern, kann es sein, dass hierauf mit einer neuen Ausgestaltung reagiert wird. Allein, da es eine starke rechtspolitische Wirkung haben würde, aber auch, weil jede Ausprägung mit individuell besser angepassten Abwägungsmaßstäben kommt, ist es höchste Zeit, dass ein Recht auf Vergessenwerden im Internet als neuer Teilgehalt anerkannt wird. Das weltweite und blitzschnelle Internet ändert nämlich alle bisher bekannten Formen der Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Vergleich zur langsameren konventionellen Presse – insbesondere auch durch das Hinzukommen von künstlicher Intelligenz. Im Falle des Grundrechts auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums hat der Gesetzgeber sogar die aktive Aufgabe, die Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums stetig zu überwachen und an sich verändernde gesellschaftliche Umstände anzupassen (BVerfG, Urteil v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 Rn. 133). Die entwickelten Grundrechte haben daher eine besonders zukunftsoffene Stellung: Sie sind ein Produkt der Gegenwart für Gegenwart und Zukunft.

Fortentwickelte Grundrechte

Nun sind nicht alle konventionellen Grundrechte zeitlos formuliert. Als Beispiel gilt die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 2 Var. 1 GG. Unter Presse lassen sich klassischerweise aus Sicht der Mütter und Väter des Grundgesetzes nur Druckwerke verstehen. Gedruckte Texte verlieren aber in den Zeiten der digitalen Welt in Teilen an Bedeutung – was geschieht also mit der „Internetpresse“? Sie ist natürlich nicht schutzlos. Da die Grundrechte auch Gegenstand der juristischen Auslegung sind, sind sie keine starren, alten und verstaubten Vorschriften. Somit bleibt eine Pressefreiheit nicht in der Vergangenheit stecken, sondern kann durch Gerichte und Literatur angepasst werden. Der Bundesgerichtshof spricht so z.B. ohne Weiteres von Presse, die es eben auch als Online-Variante gibt (BGH, Urteil v. 02.03.2010 – VI ZR 23/09). Wenn ein Werk nämlich online genauso betrachtet werden kann wie ein analoges Pressewerk, ist auch eine digitale Veröffentlichung Presse im modernen Sinn. Denn nur weil derselbe Inhalt digital statt analog verbreitet wird, verdient die verbreitende Person nicht weniger Schutz. Andere Literaturstimmen mögen dagegen ein einheitliches Mediengrundrecht befürworten, unter das auch die Internetpresse (ebenso wie die analoge Presse) fällt. Im Ergebnis steht aber allenfalls fest, dass durch derartige Auslegung das gesamte Grundgesetz lebendig wird. Grundrechte werden insoweit auch fortentwickelt.

Zukunftsfragen für Grundrechte

Die Entwicklung der Grundrechte ist keinesfalls abgeschlossen. Das zeigt sich bereits daran, dass noch kein Recht auf Vergessenwerden ausdrücklich anerkannt ist (BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 Recht auf Vergessen I Rn. 106 ff.). In den letzten Jahrzehnten gewannen außerdem internationale Regelungswerke immer mehr an Bedeutung in einem grundrechtlichen Mehrebenensystem. So versteht sich das Bundesverfassungsgericht inzwischen unter Umständen als Kooperationspartner des Europäischen Gerichtshofs bei der Prüfung von europäischen Grundrechten der EU-Grundrechtecharta und betrachtet die Europäische Menschenrechtskonvention als verbindlich für alle Staatsorgane und als beachtlich für die Auslegung deutscher Grundrechte. Der Trend ist insofern eine deutliche Internationalisierung. Es bleibt abzuwarten, ob er sich fortsetzen wird.

Spannend wird auch bleiben, ob in Zukunft mehr Grundrechtsadressaten anerkannt werden. Aus deutscher Verfassungssicht gelten manche dieser Rechte gem. Art. 19 Abs. 3 GG bereits für juristische Personen. Auf internationaler Ebene ist diese Ansicht jedoch keineswegs einhellig. Dagegen stehen in der Diskussion auch Grundrechte für Tiere, die Natur oder sogar für Roboter. All diese Fragen sind in sich komplexe juristische zukunftsorientierte Fragen, die noch weiter erörtert werden müssen. Im Ergebnis steht aber fest: Das Grundgesetz ist trotz seines stolzen Alters fähig, sich anzupassen.

Zitiervorschlag: Schüpferling, Philipp, Das Grundgesetz als Living Document – Wie anpassungsfähig sind unsere Grundrechte?, JuWissBlog Nr. 45/2025 v. 23.05.2025, https://www.juwiss.de/45-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

Digitalisierung, Grundgesetz, Internet, Living Document
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