Griechenland schiebt systematisch Menschen in die Türkei zurück (sog. „Pushbacks“) und verstößt damit gegen mehrere in der EMRK verankerte Menschenrechte. Dies urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmals in einer von zwei am 7.1.2025 veröffentlichten Entscheidungen, die Pushbacks durch griechische Behörden betrafen. Dieser Beitrag stellt zunächst eine dieser Entscheidungen (A.R.E. gegen Griechenland) sowie deren besondere Bedeutung im Kontext der jahrzehntelangen Pushback-Praktiken an der griechisch-türkischen Grenze dar. Anschließend wird diese gemeinsam mit der anderen Entscheidung des EGMR (G.R.J. gegen Griechenland) vergleichend betrachtet, um die hohen Beweisstandards des Gerichtshofs und die damit einhergehenden institutionellen Hürden für einen effektiven Menschenrechtsschutz für Schutzsuchende aufzuzeigen.
Pushbacks verletzen Menschenrechte: Das Urteil A.R.E. gegen Griechenland
Der EGMR hat im Urteil A.R.E. gegen Griechenland über eine Beschwerde einer türkischen Staatsangehörigen entschieden, die 2019 in der Region des Grenzflusses Evros nach Griechenland einreiste. Die Frau war als politisch Oppositionelle zuvor in der Türkei zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt worden, und ersuchte in Griechenland Asyl. Unmittelbar nach ihrer Einreise nahmen griechische Behörden die Frau für mehrere Stunden fest, nahmen ihr persönliche Gegenstände ab und schoben sie noch am selben Tag in einem Schlauchboot über den Evros zurück in die Türkei, wo man sie inhaftierte. Ihr Asylgesuch wurde in Griechenland ignoriert. Nachdem die Frau erfolglos vor einem griechischen Strafgericht gegen den Pushback vorgegangen war (dem Strafgericht zufolge „wende die griechische Polizei keine Pushback-Praktiken an“), erhob sie 2021 Beschwerde beim EGMR.
Die Richter:innen stellten im Urteil vom 7.1.2025 einstimmig fest, dass die griechischen Beamt:innen mehrere Menschenrechte der Beschwerdeführerin verletzten. Die Festnahme verstieß gegen ihr Menschenrecht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK). Der EGMR konstatierte zudem, dass solche Inhaftierungen zum „Modus Operandi“ der Pushback-Praxis gehört. Häufig geht damit auch ein vorübergehendes Verschwindenlassen von Migrant:innen einher (Rn. 288 f.).
Das Recht auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK wurde ebenfalls verletzt. Es handelt sich auch hier um ein systematisches Problem, da griechische Staatsanwaltschaften alle Fälle gegen mögliche Verantwortliche von Pushbacks einstellen. Durch diese Praxis wird eine effektive Strafverfolgung unterminiert, sodass mit einer Strafanzeige kein wirksamer Rechtsschutz in Griechenland erlangt werden kann. Der Fall der Beschwerdeführerin ist „nur eines von vielen Beispielen“ für die Ineffektivität der Strafverfahren bei Pushbacks (Rn. 198).
Die griechischen Beamt:innen ignorierten das Asylgesuch sowie die expliziten Hinweise der Beschwerdeführerin auf die Gefahren, die ihr als politisch Verfolgte in der Türkei drohten. Sie schoben sie zurück in die Türkei, ohne zu prüfen, welche Risiken für sie daraus resultierten. Darin sah der EGMR richtigerweise einen Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzip, das sich auch aus dem Folterverbot des Art. 3 EMRK ableiten lässt (Rn. 282 f.). Während die griechische Regierung die Existenz von Pushbacks generell bestritt (Rn. 216), hielt es der EGMR für erwiesen, dass die Pushback-Praktiken nicht nur im konkreten Fall, sondern systematisch in der Evros-Region stattfanden (Rn. 229).
Somit stellt die Entscheidung ein Novum dar: Denn trotz unabhängiger Berichte über die jahrzehntelang stattfindenden Pushbacks durch griechische Behörden (ECCHR, Amnesty) entschied der EGMR erstmalig über diese Anschuldigungen und stellte dabei fest, dass Griechenland eine systematische Pushback-Praxis betreibt. Dies zeigt die grundlegende Bedeutung des Urteils, offenbart jedoch auch, dass die Mechanismen zur Durchsetzung von Menschenrechten bisher nicht wirksam waren.
Die Gründe dafür sind komplex. Ein zentrales Hindernis, das sich auch in den EGMR-Entscheidungen vom 7.1.2025 deutlich abzeichnet, stellen jedoch die Beweisanforderungen des Gerichtshofs dar.
Hohe Beweisanforderungen als Hürde für effektiven Menschenrechtsschutz
Die andere am 7.1.25 veröffentlichten Entscheidung des EGMR (G.R.J. gegen Griechenland) betraf eine Beschwerde gegen einen Pushback von der griechischen Insel Samos in die Türkei. Diese war nicht erfolgreich, da der unbegleitete, (damals) minderjährige Beschwerdeführer aus Sicht des Gerichtshofs den Aufenthalt in Griechenland und den Pushback nicht beweisen konnte.
Selbst Beweise zu sammeln, ist für Schutzsuchende aufgrund ihrer vulnerablen Situation jedoch häufig kaum möglich. So werden ihnen im Zuge des Pushbacks meist alle persönlichen Gegenstände abgenommen. Zudem sind sie oftmals völlig isoliert, verfügen insbesondere nicht über rechtlichen Beistand. Zeugenaussagen können daher regelmäßig nicht als Beweismittel dienen. Der EGMR erkannte in der Entscheidung G.R.J. gegen Griechenland an, dass Schutzsuchende aufgrund der „geheimen und inoffiziellen Natur“ von Pushbacks nur äußerst schwer Beweise sammeln können, und sich daher in einer vulnerablen Lage befinden (Rn. 191). Auch betonte er, dass die Darstellung des Beschwerdeführers weitgehend dem „Modus Operandi“ der griechischen Behörden im Hinblick auf Pushbacks entsprach, die auch auf griechischen Inseln systematisch stattfinden (Rn. 190, 225). Die vorgebrachten Beweismittel hielt der EGMR dennoch für widersprüchlich und daher für unzureichend.
Ein Vergleich der beiden Entscheidungen vom 7.1.2025 zeigt anschaulich, dass es von zufälligen Umständen abhängen kann, ob die hohe Beweishürde überschritten wird. Denn die erfolgreiche Beschwerdeführerin konnte nur beweisen, dass sie Griechenland betreten hatte, weil sie ihren Live-Standort mit ihrem Anwalt geteilt hatte, bevor ihr das Handy abgenommen wurde. Aufgrund der massiv ungleichen Machtverhältnisse zwischen bewaffneten Grenzschutzbehörden und Schutzsuchenden erscheint es fragwürdig, letzteren die Beweislast aufzuerlegen. Wäre es der Frau nicht möglich gewesen, den Standort zu teilen – wie es wohl ansonsten häufig der Fall sein dürfte – hätte sie den Pushback nicht beweisen können. Die Bewertung des EGMR entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit: Einerseits stellte er die systematische Pushback-Praxis sowie die Beweisschwierigkeiten für Flüchtende explizit fest, andererseits beließ er die Beweislast jedoch bei diesen. In Fällen systematischer Pushback-Praktiken wäre es daher in Anbetracht des Machtungleichgewichts sachgerecht, die Beweislastverteilung so anzupassen, dass Schutzsuchende regelmäßig eine realistische Möglichkeit haben, Rechtsschutz vor Pushbacks (dazu weiterführend: hier).
Trotz jahrzehntelanger systematischer Pushbacks bedurfte es nun eines zufällig gesammelten Beweismittels, um einer betroffenen Person Rechtsschutz zu gewähren. Dies offenbart die institutionellen Hürden für einen effektiven Zugang zu Recht und wirft die Frage auf, wie zukünftig wirksamer Menschenrechtsschutz in Europa gewährleistet werden kann. Dass Schutzsuchende ihren Aufenthalt trotz der häufig lebensgefährlichen Flucht und in isolierter Lage so präzise nachweisen können, dürfte jedenfalls nicht der Regelfall sein.
Fehlende europäische Initiative zur Beendigung menschenrechtswidriger Pushbacks
Dass Grenzschutzbehörden jahrzehntelang menschenrechtswidrige Pushbacks systematisch praktizieren können, zeigt zudem, dass die bestehenden Probleme weit über die Beweislastverteilung in EGMR-Verfahren hinausgehen. Neben effektiven Rechtsschutzmechanismen, die allen Menschen (insbesondere auch vulnerablen Personen) einen niederschwelligen Zugang bieten, bedarf es in Anbetracht der Systematik der Menschenrechtsverletzungen einer grundlegenden Neuausrichtung europäischer Politik.
Vor diesem Hintergund läge es nahe, vor dem EuGH ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Staaten, die Pushbacks praktizieren, einzuleiten. Dies wäre ein erster Schritt, um den erforderlichen politischen Druck auszuüben. Daneben müssten die EU und die einzelnen europäischen Staaten aber vor allem selbst eine verbindliche und glaubwürdige Haltung zur konsequenten Einhaltung humanitärer Standards an europäischen Grenzen einnehmen. Solange diese jedoch keine Initiative ergreifen, um die Menschenrechtslage in Europa zu verbessern, und parallel im Bereich der Asylpolitik vor allem auf Abschottung und Abschreckung setzen (siehe beispielsweise: hier und hier), senden sie auch an Staaten wie Griechenland ein Zeichen, dass eine Abkehr von der bisherigen Praxis nicht notwendig ist. Dies wäre jedoch in Anbetracht der zahlreichen Todesfälle lange überfällig (Zwischen 2020 und 2023 soll die griechische Küstenwache 43 Menschen durch Pushbacks getötet haben. Im Jahr 2024 gab es allein im ägäischen Meer schätzungsweise mindestens 171 Todes- und Vermisstenfälle. Diese Zahlen umfassen nicht die Opfer der Katastrophe in Pylos, bei der 2023 über 600 Menschen starben. Der Bericht des unabhängigen griechischen Ombudsmannes zeigt die Verantwortung der griechischen Küstenwache dafür auf). Dass Menschenrechte in Europa systematisch verletzt werden, liegt somit nicht allein an den Staaten, die Pushbacks ausführen, sondern auch an einer fehlenden übergreifenden Verantwortung der übrigen europäischen Staaten. Gerade mächtige Staaten wie Deutschland müssten eine Vorreiterrolle dabei spielen, dies zu verändern.
Zitiervorschlag: Nalbantis, Leonard, Griechenlands systematische Pushback-Praxis ist menschenrechtswidrig – Die EGMR-Entscheidungen vom 7.1.2025, JuWissBlog Nr. 39/2025 v. 06.05.2025, https://www.juwiss.de/39-2025/