Kann der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit gegen Unionsrecht verstoßen?

von MIMOZA BECIRI und MARVIN KLEIN

Am 25.04.2024 entschied der Europäische Gerichtshof EuGH (C-684/22 bis C-686/22) darüber, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit nicht zwangsläufig gegen das Unionsrecht verstößt. Warum überhaupt das Staatsangehörigkeitsrecht als Kernmaterie nationaler Hoheitsrechte europarechtlich gebunden sein kann, welche Erwägungen der EuGH im vorliegenden Fall angestellt hat und ob die Novelle des Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) auch in den hiesigen Ausgangsverfahren von Relevanz sein kann, erfahrt Ihr in diesem Beitrag.

Das Staatsangehörigkeitsrecht als besondere nationale Rechtsmaterie

Das Staatsangehörigkeitsrecht wird nach der traditionellen Staatsrechtslehre als eine Kernmaterie nationaler Rechte betrachtet. So schloss Böckenförde, dass das Staatsangehörigkeitsrecht besonders durch das Selbstverständnis einer Staatsnation geprägt ist. Auch im Völkerrecht wird davon ausgegangen, dass das Staatsangehörigkeitsrecht Ausfluss des völkergewohnheitsrechtlich anerkannten und nunmehr in Art. 1 Ziff. 2 UN-Charta enthaltenen Selbstbestimmungsrechts der Völker ist. Das Staatsangehörigkeitsrecht bildet in institutioneller Weise die Identität des Staatswesens ab. Aus diesem Grund kann man auch sagen: Die Staatsangehörigkeit ist ein wichtiges Institut nationaler Identität.

Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Staatsangehörigkeitsrecht im Rahmen der europäischen Integration als besonders schutzwürdige Materie betrachtet wurde, die unter die besonders geschützte domaine réservé fallen sollte. Nachdem bei der Diskussion zur Europäischen Verfassung eine nationale Kompetenzliste mit zwingend bei den Mitgliedstaaten zu verbleibenden Kompetenzen scheiterte, wurde in der 5. Arbeitsgruppe des Europäischen Konvent insbesondere das Staatsbürgerschaftsrecht als Aspekt grundlegender nationaler Strukturen diskutiert, die von der Identitätsklausel in Art. 4 Abs. 2 EUV geschützt werden sollte. Alles in allem ist es die Pflicht der Union, wesentliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Staatsangehörigenrechts zu achten.

Europäisierung der Staatsangehörigkeit

Die Kompetenz zur Regelung der Staatsangehörigkeit wurde zu keinem Zeitpunkt auf die Europäische Union übertragen. Dies wird auch ausdrücklich vom EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkannt (vgl. EuGH, Urteil vom 07.07.1992, C-369/90).

Dass das Recht zur Regelung der Staatsangehörigkeit einzig dem jeweiligen Mitgliedstaat nach seinen Vorstellungen unterliegt, ist im Grundsatz unstreitig. Gleichwohl besteht auch aus europarechtlicher Hinsicht ein Bedürfnis, bei der Gestaltung und Anwendung nationalen Staatsangehörigenrechts einen gewissen Einfluss zu nehmen. Der Hintergrund hierfür liegt darin, dass mit der Verleihung und dem Entzug der Staatsangehörigkeit auch die Verleihung und der Entzug der Unionsbürgerschaft verbunden ist, vgl. Art. 9 S. 2, 3 EUV; Art. 20 Abs. 1 AEUV.

Wegen dieses Einflusses ist es naheliegend, dass auch das Unionsrecht soweit auf das Staatsangehörigkeitsrecht einwirken kann, wie dadurch auch Einfluss auf den Status der Unionsbürger genommen wird. Der EuGH stellt daher mit nachvollziehbarer Logik fest, dass der Mitgliedstaat bei Ausübung seiner Kompetenzen bezüglich des Staatsangehörigkeitsrechts das Unionsrecht beachten müsse (EuGH, C-369/90). Hierdurch sichert sich der Gerichtshof Einfluss auf Sachverhalte, bei denen der Erwerb oder der Verlust der Staatsangehörigkeit droht. Ein Recht zur Harmonisierung hat die Union in diesem Bereich jedoch nicht.

Besondere Vorgaben beim Verlust der Staatsangehörigkeit

In der Entscheidung des EuGH (C-684/22 bis C-686/22) ging es um drei gleich gelagerte Fälle. Die Beteiligten besaßen zunächst jeweils die türkische Staatsangehörigkeit und migrierten während der 70.-90. Jahre in die Bundesrepublik Deutschland. Sie erwarben im Jahr 1999 jeweils die deutsche Staatsangehörigkeit bei gleichzeitiger Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit. Im Folgenden erwarben die Beteiligten jedoch, ohne eine Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 S. 1 StAG zu beantragen, wieder die türkische Staatsangehörigkeit.

Gemäß §§ 17 Abs. 1 Nr. 2 StAG i. V. m. 25 Abs. 1, 2 StAG geht die deutsche Staatsangehörigkeit durch Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit insbesondere dann verloren, wenn der Erwerb der neuen Staatsangehörigkeit freiwillig erfolgte und keine Genehmigung der zuständigen Behörde vorliegt.

Grundsätzlich geht auch der EuGH davon aus, dass der freiwillige Erwerb einer weiteren Staatsangehörigkeit ohne die Einholung einer behördlichen Genehmigung die Annahme rechtfertigt, dass kein Wille mehr bestehe die Unionsbürgerschaft beizubehalten. Innerstaatliche Forderungen nach Loyalität und die Vermeidung von Mehrstaatigkeit im Rahmen des Staatsangehörigkeitsrechts seien grundsätzlich legitime Ausübung mitgliedstaatlicher Kompetenzen (EuGH, Urteil vom 25.04.2024, C-684/22 bis C-686/22, Rn. 37, 55).

Der EuGH betont allerdings, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, beachten müssen EuGH, (Urteil vom 25.04.2024, C-684/22 bis C-686/22, Rn. 56 f.). Erforderlich sei, dass betroffenen Personen innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens effektiven Zugang zu einem Verfahren für die Beibehaltung ihrer Staatsangehörigkeit gewährt wird und sie ordnungsgemäß über dieses Verfahren informiert werden. Im Rahmen einer Einzelfallprüfung ist die individuelle Situation der betroffenen Personen hinsichtlich der Auswirkungen des Verlusts der Unionsstaatsbürgerschaft einer sorgfältigen Betrachtung zu unterziehen. Dabei ist insbesondere zu eruieren, ob Unionsgrundrechte wie Art. 7 und 24 Abs. 2 GRCh tangiert werden, aber auch inwieweit die Betroffenen Kenntnis vom Verbot der Kumulierung von Staatsangehörigkeiten hatten (EuGH, Urteil vom 25.04.2024, C-684/22 bis C-686/22, Rn. 51) .

Ein geänderter Maßstab durch die Novelle des Staatsangehörigkeitsrechts?

Die staatsangehörigkeitsrechtliche Zulassung von Mehrstaatigkeit wurde seit vielen Jahren rechtlich als auch politisch intensiv diskutiert. Durch das am 26.06.2024 in Kraft tretende Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts (StARModG) verabschiedet sich der Gesetzgeber nunmehr vom Erfordernis, der Aufgabe anderweitiger Staatsangehörigkeiten vor Einbürgerung. Konsequenterweise wurde auch der automatische Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit in Folge des Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit gestrichen. Es ist somit für die Zukunft nicht damit zu rechnen, dass vergleichbare Fälle erneut die Gerichte beschäftigen werden.

Für den vorliegenden Fall ist die Rechtsänderung im Rahmen der vom EuGH geforderten „Einzelfallprüfung“ insoweit zu berücksichtigen, dass der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit vor dem Hintergrund der zukünftigen Rechtmäßigkeit der Mehrstaatigkeit unverhältnismäßig sein könnte. Dass die Novelle auch bei der Bewertung des Einzelfalls zu berücksichtigen sein könnte, ergibt sich daraus, dass für das vorlegende Gericht bei der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ausschlaggebend ist. Denn der Paradigmenwechsel des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts lässt die Wertung zu, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit nicht mehr verhältnismäßig ist, wenn der Betroffene die deutsche Staatsangehörigkeit danach wieder erwerben könnte, ohne hierbei auf die türkische Staatsangehörigkeit zu verzichten. Es bleibt indessen abzuwarten, inwieweit das vorlegende Verwaltungsgericht solche Wertungen berücksichtigen wird.

Ausblick

Die EuGH-Entscheidung markiert einen weiteren Schritt in der Debatte über die Europäisierung der Staatsangehörigkeit, die vor dem Hintergrund der Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die bevorstehende Novelle des Staatsangehörigkeitsrechts reflektiert diese Dynamik und signalisiert eine Anerkennung der Realitäten einer modernen und vernetzten Welt. Obschon das Staatsangehörigkeitsrecht grundlegende Fragen von nationaler Identität und Solidarität berührt, ist es nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein praktisches Bedürfnis der Union, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit nur unter strikter Wahrung von Verfahrensvorschriften und Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt. In seiner Entscheidung hat der EuGH hierbei einen angemessenen Ausgleich von nationalen und europäischen Interessen geschaffen.

Zitiervorschlag: Beciri, Mimoza/Klein, Marvin, Kann der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit gegen Unionsrecht verstoßen?, JuWissBlog Nr. 30/2024 v. 21.05.2024, https://www.juwiss.de/30-2024/.

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Marvin Klein, Mehrstaatigkeit, Mimoza Beciri, nationale Identität, Staatsangehörigkeit, Unionsrecht, Verhältnismäßigkeit
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