Die Verhältnismäßigkeit der verlängerten Maßnahmen im Lichte einer alternativen Schutzmaskenpflicht
von Björn Engelmann
Die Bundesregierung hat am 15.04.2020 einen mit den Bundesländern abgestimmten „Fahrplan“ zum langsamen, schrittweisen „Exit“ aus den staatlichen Beschränkungen zur Eindämmung von COVID-19 vorgestellt. Das Tragen einer „Alltagsmaske“ (wie z. B. ein Stofftuch) in der Öffentlichkeit wird dort empfohlen, jedoch nicht für verpflichtend erklärt. Kaum eine Woche später stellt sich die Lage jedoch anders dar: Alle Bundesländer haben mittlerweile die Einführung einer Maskenpflicht (meist ab dem 27.04.2020) für Teilbereiche des öffentlichen Lebens (meist Geschäfte und öffentlicher Personennahverkehr) angekündigt. In Sachsen gilt diese bereits seit dem 20.04.2020. Einige Städte wie Jena hatten bereits zuvor eine Maskenpflicht eingeführt. Eine guter Zeitpunkt also, um angesichts dieser Entwicklungen die derzeit noch geltenden Beschränkungen in Deutschland sowie die Frage der verfassungsrechtlichen Implikationen einer Schutzmaskenpflicht* aus Sicht der bisherigen Spruchpraxis des BVerfG unter die Lupe zu nehmen.
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich dabei auf einfache Mund-Nasen-Bedeckungen bzw. „Alltagsmasken“, die vor allem davor schützen, dass ein (potentiell) infizierter Träger** andere Personen ansteckt. Erst recht gelten die Ausführungen aber für besser schützende FFP 2 und 3 Masken, die auch die Trägerin selbst schützen und für mögliche zu erhoffende alltagstaugliche Weiterentwicklungen (wie einen Rundum-Gesichtsschutz, wie er im medizinischen Bereich bereits verwendet wird).
Verfassungsrechtliche Beurteilung der verlängerten Maßnahmen und Schutzmaskenpflicht als Alternative
Viele Bundesländer, wie z. B. Bayern, halten trotz der Maskenpflicht weitgehend an den strengen bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 fest und sehen zunächst nur kleinere Lockerungen vor. Damit stellt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht die Frage, ob dies gerechtfertigt ist, oder aber aufgrund der Maskenpflicht nicht die bisherigen strengen Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens entfallen müssten. Hier geht es also um die Abwehrfunktion der Grundrechte (status negativus). Die Frage ist mithin, ob und inwieweit eine Maskenpflicht sich als ein milderes oder angemesseneres Mittel zur Bekämpfung des Corona-Virus darstellt, als die derzeit noch geltenden weitreichenden Beschränkungen (insbes. Schließung von Schulen, Kitas, Gaststätten und größerer Geschäfte, Kontaktverbot bzw. Ausgangsbeschränkungen). Durch diese in Deutschland beispiellosen staatlichen Beschränkungen wird nicht nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), sondern werden auch die Grundrechte der Glaubensfreiheit (Art. 4 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 GG), der Berufsfreiheit (Art.12 GG) und das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG) massiv eingeschränkt.
Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind derartige staatliche Beschränkungen nur gerechtfertigt, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind (die sich zweifellos stellende Frage der Ungeeignetheit und Unbestimmtheit einzelner Maßnahmen spare ich hier aber aus Platzgründen bewusst aus, dazu etwa Roman Lehner, ebenso die umstrittene Frage nach einer Rechtsgrundlage, vgl. z. B. Alexander Thiele). Fraglich ist zunächst, ob die derzeit verlängerten Beschränkungen noch erforderlich sind, um ihr Ziel des Gesundheitsschutzes zu erreichen, oder ob nicht die Verhängung einer Maskenpflicht per se schon ein milderes, gleich wirksames Mittel darstellt. Dies ist allerdings zu verneinen, da zum einen aufgrund der umstrittenen medizinischen Einschätzungen von Gesichtsmasken (vgl. etwa WHO einerseits und die Fachzeitschrift „The Lancet“ andererseits) nicht gesichert ist, dass ein Kontakt mit Gesichtsschutz die Bevölkerung ebenso effektiv schützen würde, wie die nun aufrechterhaltenen weitgehenden Kontaktverbote und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Zum anderen billigt das BVerfG dem Gesetzgeber (und Ähnliches dürfte hier für die Exekutive als Verordnungsgeber gelten) gerade bei Maßnahmen des Gesundheitsschutzes einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, hierzu etwa das BVerfG am 21.12.2011 (Solarium-Verbot für Minderjährige, Rn. 29):
„Wird der Gesetzgeber zur Verhütung von Gefahren für die Allgemeinheit tätig, so belässt ihm die Verfassung bei der Prognose und Einschätzung der in den Blick genommenen Gefährdung einen Beurteilungsspielraum, der vom BVerfG […] nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann. Der Beurteilungsspielraum ist erst dann überschritten, wenn die Erwägungen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für die angegriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen abgeben können […]“.
Angemessenheit der Schutzmaskenpflicht
Weitaus schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob die dargelegten gegenwärtigen, drastischen Maßnahmen auch ein angemessenes Mittel zur Verhinderung einer das Gesundheitssystem überfordernden extensiven Ausbreitung des Corona-Virus sind. Der Bund und die Länder wollen mit den Maßnahmen erreichen, dass die Zahl der (ggf. intensivmedizinisch) gleichzeitig behandlungsbedürftigen schwereren Krankheitsverläufe wie bisher auf einem Niveau bleibt, das das Gesundheitssystem bewältigen kann, ohne das Leben von Patienten unnötig zu gefährden oder gar auf eine Triage-Lösung zurückgreifen zu müssen. Auf der anderen Seite beschränkt der Staat auch weiterhin große Teile der Handlungsfreiheit und nimmt immense negative Begleiterscheinungen wie Unternehmens- und Privatinsolvenzen, die Zunahme häuslicher Gewalt (vgl. Petra Sußner im Verfassungsblog), Vereinsamung und psychische Schäden (gerade bei Kindern) in Kauf. Daher stellt sich mit Nachdruck die Frage, ob nicht in der Gesamtabwägung des legitimen Zwecks des Gesundheits- und Lebensschutzes einerseits und der negativen Effekte andererseits eine schnellere „Wiederbelebung“ des öffentlichen Lebens die angemessene Variante wäre. Hier bietet sich die Alternative an, soziale Kontakte in weiterem Umfang zuzulassen und Geschäfte, Schulen und andere Einrichtungen schneller wieder öffnen zu lassen, aber dafür das Ansteckungsrisiko durch andere Maßnahmen wie die (womöglich auch noch weiter ausgebaute) Pflicht zum Anlegen eines Gesichtsschutzes zu mindern. Ob die derzeitigen Maßnahmen in Anbetracht dieser Gesichtspunkte noch angemessen sind, wird der Staat fortlaufend abzuwägen und das BVerfG sodann (soweit angerufen) zu prüfen haben. Besonders zu berücksichtigen ist dass die mit dem Ausnahmezustand einhergehenden Belastungen sich mit jeder erneuten Verlängerung weiter verschärfen. So wird beispielsweise der Eingriff in die Berufsfreiheit der von Betriebsschließungen betroffenen Unternehmer zunehmend existenzgefährdend. Auch die psychischen Folgen der Kontaktverbote und die Gefährdung von Personen (gerade Kindern und Frauen) durch häusliche Konflikte bis hin zu häuslicher Gewalt werden umso zerstörerischer, je länger die betroffenen Menschen ihnen ausgesetzt sind.
Es spricht daher einiges dafür, dass das BVerfG die Lähmung des öffentlichen und sozialen Lebens bei vielen der verlängerten Maßnahmen derzeit tendenziell noch als kurzfristige Notmaßnahme, um dem Staat Zeit zu verschaffen, die Entwicklung weiter zu beobachten und die medizinischen Kapazitäten weiter aufzustocken akzeptieren wird, jedoch nur solange, bis sich die Lage endgültig stabilisiert hat, was bei der in Deutschland moderaten Sterberate und derzeit ca. 14.000 noch freien Intensivbetten (Stand 23.04.) schon bald der Fall sein könnte. Genau in diese Richtung geht auch der jüngst im Eilverfahren ergangene Beschluss des BVerfG vom 10.04.2020 zum „Corona“-bedingten Verbot des Abhaltens von Gottesdiensten. Demnach muss das Recht auf eine gemeinsame Feier von Gottesdiensten gegenüber den mit einer unkontrollierten Ausbreitung des Corona-Virus verbundenen Gefahren für Leib und Leben zwar „derzeit zurücktreten“, doch gibt das BVerfG dem Verordnungsgeber ausdrücklich auf, bei jeder Verlängerung des Verbots
„eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern“ (Rn. 14, ausführlich hierzu Frederik Ferreau).
Damit wird klar, dass auch in Zeiten von COVID-19, der beschriebene Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum dem Staat keinen „Freifahrtschein“ verleiht, unter Berufung auf Prognoseunsicherheiten „in dubio contra libertate“ zu entscheiden, sondern er vielmehr aktiv gefordert ist, die Situation und seine Handlungsoptionen fortlaufend zu evaluieren. Hier stellt sich gerade auch die Frage, in welcher Art und Weise und in welchen Bereichen die derzeit ja nur in Form von „Alltagsmasken“ und nur für Teilbereiche des öffentlichen Lebens vorgeschriebene Schutzmaskenpflicht fortgeschrieben werden könnte, um die Möglichkeiten der einzelnen Bundesländer für eine schnellere „Wiedererweckung“ des öffentlichen Lebens zu weiten.
Anmerkungen:
* Entsprechend der öffentlichen Diskussion und der erhofften Wirkung eines flächendeckenden Gesundheitsschutzes werden in diesem Beitrag alle Formen einer Bedeckung von Mund und Nase unter dem Begriff der „Schutzmaske“ gefasst, obgleich aus wettbewerbsrechtlicher Sicht Alltagsmasken wegen des nicht nachgewiesenen Schutzes für den Träger nicht unter der Bezeichnung „Schutzmaske“ verkauft werden dürfen.
**Allein um der besseren Lesbarkeit willen wird in diesem Beitrag oftmals exemplarisch nur auf ein Geschlecht abgestellt. Stets sind hiermit jedoch sämtliche Geschlechter (m/w/d) gemeint.
Zitiervorschlag: Björn Engelmann, „The Masked Bürger“ – Die Exitstrategie des Staates und die Schutzmaskenpflicht (Teil 1): Die Verhältnismäßigkeit der verlängerten Maßnahmen im Lichte einer alternativen Schutzmaskenpflicht, JuWissBlog Nr. 63/2020 v. 23.04.2020, https://www.juwiss.de/63-2020/.
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[…] ersten Teil des Beitrags wurde die Frage einer Schutzmaskenpflicht* als Alternative zu den vorerst […]