von NELE YANG
Es gibt Fälle, die stechen aus dem Rechtsprechungsalltag hervor. So auch der sogenannte Kadi-Fall, der die Diskussion zwischen Europarechtlern und Völkerrechtlern in den vergangenen Jahren geprägt hat wie kein anderer. Die Frage, ob die Umsetzung von UN-Antiterrorsanktionen am EU-Grundrechtsstandard gemessen werden könne, gedieh zu einer Debatte über den Standort der EU im internationalen Gefüge und ihr Selbstverständnis als Verfassungsordnung. Die Entscheidung des EuG von 2005, das darauf folgende Urteil des EuGH im Rechtsmittelverfahren von 2008, die zweite Nichtigkeitsklage Kadis gegen seine erneute Listung durch die EU, das Urteil des EuG von 2010, die wiederum vom EuGH zu entscheidenden Rechtsmittelanträge – die Reihe der Ereignisse ist nicht nur in der Falldatenbank des Gerichtshofs, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs wohl dokumentiert. Mit der Entscheidung Kadi II des EuGH vom 18. Juli 2013 ist nun der Schlusspunkt in der Kadi-Reihe gesetzt.
Hinter verschlossenen Türen I: Informationsasymmetrien im Verhältnis UN-EU
Anders als die vorangegangenen Urteile kommt die Entscheidung verfassungsrhetorisch eher bescheiden daher. Der Fokus liegt auf der Verwaltungskooperation zwischen Kommission und UN-Sanktionsausschuss, es geht um Informationsflüsse zwischen Bürokratien. Trocken, aber von nicht zu unterschätzender Brisanz. Denn Informationen sind ein wichtiges Gut im Zusammenhang mit Antiterrorsanktionen. Wichtig, damit Staaten eine Person zur Aufnahme in die Sanktionslisten vorschlagen können; wichtig für die Betroffenen als Basis für eine Argumentation gegen ihre Aufnahme in die Sanktionsliste; und wichtig für die gerichtliche Überprüfung eines Listeneintrags.
Krasse Informationsasymmetrien prägen das Antiterror-Sanktionsregime. Viele der Einträge in die Sanktionslisten beruhen auf Geheimdienstinformationen und die vorschlagenden Staaten sind nur sehr eingeschränkt zur Weitergabe dieser Informationen an den UN-Sanktionsausschuss bereit. Entsprechend spärlich fließen Informationen an die EU-Verwaltung und an die Betroffenen – und letztlich auch an die Unionsgerichtsbarkeit. Die asymmetrische Informationsverteilung zwischen UN-Mitgliedstaaten und Sanktionsausschuss setzt sich also – mit niedrigerem Grundniveau – im Verhältnis zwischen Sanktionsausschuss und EU fort. In seiner Entscheidung erkennt der EuGH diese Asymmetrien als Problem. Er erhöht den Druck auf die Kommission, auf der UN-Ebene weitere Informationen nachzufragen. Bisher beschränkt sich der Informationsaustausch zwischen Kommission und UN Sanktionsausschuss auf die sogenannte summary of reasons, eine Kurzzusammenfassung der Gründe für die Aufnahme einer bestimmten Person in die Sanktionsliste.
Fokus auf die Institution Gerichtshof
Unübersehbar drängt der Gerichtshof auf eine Position als zentrale Sammelstelle der Union für Informationen über Sanktionslisteneinträge. Dies hat problematisches Potenzial. Der Gerichtshof läuft Gefahr, im Kampf um Informationen den Fokus auf die Einzelnen zu verlieren, deren Rechte er schützen soll. Dieser Verlust deutet sich darin an, dass der Gerichtshof die auf das Individuum ausgerichteten Funktionen des Verwaltungsverfahrens, insbesondere der Begründungspflicht, unterbetont und obiter die Einrichtung eines in camera-Verfahrens zulässt.
Die Pflicht der Unionsorgane, hier der Kommission und des Rates, zur Begründung ihrer Rechtsakte hat mehrere Zwecke: Sie dient der Selbstkontrolle der Organe, sie soll dem Betroffenen ermöglichen, auf bestmöglicher Informationsgrundlage über sein weiteres Vorgehen zu entscheiden und ggf. den Akt vor Gericht anzugreifen, und für den Fall, dass die Sache vor ein Gericht gelangt, soll dieses anhand der Begründung den Akt überprüfen können und so effektiven Rechtsschutz gewähren können. In Kadi II verlieren nun die ersten beiden dieser Zwecke an Wichtigkeit. Von der Selbstkontrolle der Verwaltung ist an keiner Stelle die Rede. Die Begründungspflicht leitet der Gerichtshof zunächst nur aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz her und verknüpft hiermit auch die individualrechtsschützende Funktion des Verwaltungsverfahrens (Rn. 100). Das Verwaltungsverfahren erscheint nach dieser Herleitung größtenteils nur als dienender Vorlauf zum Gerichtsverfahren. Zwar beschreibt der Gerichtshof kurz darauf die Begründungspflicht dann doch als Ausfluss der Individualrechtsgarantien sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Gerichtsverfahren (Rn. 111). Jedoch bleibt unklar, ob die Beurteilung der Gründe durch den Gerichtshof als „hinreichend präzise und konkret“ (Rn. 130) sich auch auf ihr Hinreichen für den verwaltungsverfahrensrechtlichen Individualschutz bezieht. Der Gerichtshof ist sichtlich darauf erpicht, jede noch so spärliche Begründung zu überprüfen (vgl. Rn. 123 und 127). So entsteht der Eindruck, die Begründungspflicht diene vor allem der gerichtlichen Überprüfung des streitigen Akts. Dies verzerrt die grundlegende Idee, dass Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in einem Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, zugleich aber ihre Aufgaben in gegenseitiger Wechselbezogenheit erfüllen und dabei gerade nicht in einem Rangverhältnis zueinander stehen.
Aus dem komplementären Verhältnis von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergibt sich der Gedanke, dass Schutzdefizite wechselseitig ausgeglichen werden können. Die Argumentation des EuGH in Kadi II verzerrt auch diesen Kompensationsgedanken. Nach allgemeinem Verständnis kann Kompensation bedeuten, dass Einzelne im Gerichtsverfahren verstärkt die Möglichkeit bekommen müssen, angehört zu werden, wenn ihre Anhörungsrechte im Verwaltungsverfahren nicht gewährt wurden, oder dass ein Akt, der in einem defizitären Verwaltungsverfahren zustande gekommen ist, vom Gericht mit höherer Intensität überprüft wird. Die Grenze einer solchen Kompensation liegt dort, wo die Defizite des Verwaltungsverfahrens so gravierend sind, dass das Verfahren zu wenig Informationen produziert, als dass ein Gericht eine intensive Prüfung durchführen könnte.
Hinter verschlossenen Türen II: Informationsasymmetrien im Verhältnis EuGH-Individuum
In der Vergangenheit hat in solchen Fällen die Unionsgerichtsbarkeit gerade deshalb eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz bejaht. So hatte das Gericht 2010 Kadis Listeneintrag für nichtig erklärt, da Kommission und Rat zur Begründung lediglich die summary of reasons vorbrachten – zu dünn, um eine sorgfältige Prüfung überhaupt durchführen zu können, befand das Gericht. Der Gerichtshof führt hier nun eine Neuerung ein: Kommission und Rat sollen nicht bereits deswegen die Nichtigerklärung ihres Umsetzungsakts fürchten müssen, weil sie keine Informationen über die summary of reasons hinaus besitzen. Vielmehr wird der Gerichtshof in jedem Fall umfassend die materielle Rechtmäßigkeit des Listeneintrags selbst überprüfen. Der Gerichtshof hat damit das letzte Wort, wenn es um den Beweiswert der ihm vorliegenden Informationen geht und darum, ob sie die Gründe für die Aufnahme in die Sanktionsliste hinreichend substantiieren. Diese Betonung der Institution Gerichtshof hat das Potenzial, den Einzelnen auszuschließen.
In dieser Hinsicht besorgt die in Kadi II quasi nebenbei geschehene Einführung eines in-camera-Verfahrens für vertrauliche Informationen. Dies als obiter dictum, denn im Fall Kadi war Vertraulichkeit nie ein Argument. Es geht hier folglich um eine generelle Linie des Gerichtshofs. Diesen Eindruck bestätigen Entwicklungen außerhalb des Gerichtssaals: Der Gerichtshof prüft derzeit die Einführung von in-camera-Verfahren für Nichtigkeitsklagen vor dem Gericht. Anwaltsverbände und NGOs aus dem Vereinigten Königreich haben ihre Sorge über diesen Vorstoß bereits in einem Brief an EuGH-Präsident Skouris artikuliert. Sie verlangen eine öffentliche Anhörung über den Änderungsvorschlag. Das öffentliche Bewusstsein dafür, dass die geplante Änderung ein problematischer Schritt wäre, ist groß. Der Gerichtshof jedoch scheint dies nicht wahrnehmen zu wollen.
Eine Verfassungsordnung im Dienste des Gerichtshofs?
Die EU hat sich zu einer Rechtsordnung entwickelt, die ihre Grundlage nicht so sehr nur in der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes sieht, sondern auch – und zunehmend – im Schutz der Grundrechte. Verfahrensgarantien spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn sie stellen eine Verbindung her zwischen Ideen von der Union als einer Rechtsgemeinschaft einerseits und als einer auf Grundrechten basierenden Verfassungsordnung andererseits. Zusammen mit der Rechtsprechung zur EU-Bürgerschaft bot insbesondere das Kadi-Urteil von 2008 einen festen Anknüpfungspunkt für die Konzeption der Union als einer Verfassungsordnung, die dem Einzelnen dient. Der Gerichtshof ist – wie andere Gerichte auch – dafür kritisiert worden, dass er Grundrechtsargumente zur Selbstermächtigung nutze. Diese Verwendung mag geschehen, berechtigt aber keinen Vorwurf, wo sie einen verbesserten Rechtsschutz zur Folge hat. Kadi II ist aber von anderer Qualität: Der Gerichtshof hätte den Umsetzungsakt schon aus Mangel an Informationen für eine effektive Überprüfung für unvereinbar mit Unionsrecht erklären können. Stattdessen manövriert er das betroffene Individuum in eine Situation, in der eine Nichtigerklärung, aber auch der Schutz des Rechts auf ein kontradiktorisches Verfahren unsicher wird. Die Verfassungsordnung scheint zuvörderst dem Gerichtshof zu dienen; der Einzelne sieht zu. Eine deprimierende Aussicht für die Union.
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Urteil Kadi II, die teilweise auf den hier veröffentlichten Gedanken aufbaut, erscheint demnächst unter dem Titel „Constitutional dimensions of administrative cooperation: potentials for reorientation in Kadi II“ in Matej Avbelj/Filippo Fontanelli/Giuseppe Martinico (Hrsg.). Kadi on Trial. A multifaceted analysis of the Kadi judgment. Routledge 2014, 256 S.