von YANNIK HOFMANN
Bei seinem Impfappell in der Fernsehsendung „Joko und Klaas“ sagte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz in Anbetracht der Pandemielage: „Wir werden tun, was notwendig ist, es gibt da keine roten Linien.“ Dass es mit Blick auf die Ampel-Koalition politische und hinsichtlich der Verfassung rechtliche rote Linien gibt, dürfte auch dem zukünftigen Bundeskanzler klar sein. Eine derart vorbehaltliche Aussage erzeugt freilich nicht das intendierte Medienecho. In Zeiten der Corona-Pandemie gilt es vor dem Hintergrund überfüllter Intensivstationen und einer zu geringen Impfquote daher Führungsstärke und Entscheidungsfreude zu verkörpern. Bezüglich der angekündigten Impfpflicht lohnt sich ein Blick auf die roten Linien des Grundgesetzes.
Mittel, Zwänge und Zwangsmittel
Im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) haben sich die geschäftsführende Bundeskanzlerin und ihr voraussichtlicher Nachfolger zusammen mit den Ministerpräsident*innen der Länder am 2. Dezember 2021 auf verschärfte Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verständigt. Neben weitreichenden Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte soll ab Februar 2022 eine allgemeine Impfpflicht gelten. Der Begriff „allgemeine Impfpflicht“ ist semantisch unklar und bedarf zunächst einer Charakterisierung. Gemeint ist häufig das staatliche Gebot, sich impfen zu lassen und die Impfung nachzuweisen. Regelmäßig geht es nicht darum, Menschen unter Anwendung körperlichen Zwangs einen Impfstoff zu injizieren. Vielmehr sollen sie unter dem Druck in Aussicht gestellter Nachteile ihre Einwilligung in einer Impfung erteilen (Rixen in: Huster/Kingreen [Hrsg.], Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 5 Rn. 63). Soweit mit dieser Unterscheidung die synonyme Verwendung der Begriffe „Impfpflicht“ und „Impfzwang“ als „irreführend“ abgelehnt wird (Rixen), überzeugt dies nicht. Diese Unterscheidung verkürzt den Zwangsbegriff in unzulässiger Weise auf den im Verwaltungsrecht normierten unmittelbaren Zwang (vgl. § 12 VwVG), der die Anwendung direkter Gewaltanwendung unter bestimmten Voraussetzungen legitimiert. Die entscheidende Frage ist aber, mit welchen (Zwangs-)Mitteln die Impfpflicht durchgesetzt wird, d.h., mit welchen in Aussicht gestellten Nachteilen die Einwilligung zur Impfung erteilt werden soll. Auch die mit einem Betretungsverbot (z.B. für Schulen, Gaststätten, Museen) verbundene Einschränkung kann einen Belastungsgrad erreichen, der den Betroffenen gegen seinen Willen zur Teilnahme an der Impfung drängen könnte. Insofern kann auch bei Maßnahmen zur Durchsetzung einer Impfpflicht, die keine direkt Gewaltanwendung darstellen, von einem faktische-indirektem Impfzwang gesprochen werden (OVG Lüneburg; kritisch: BVerwG). Die Unterscheidung zwischen „Impfpflicht“ und „Impfzwang“ ist daher reine Kosmetik, um im Sprachgebrauch die Intensität des Grundrechtseingriffs abzumildern. Für die rechtliche Einordnung ändert sich daran gleichwohl nichts (so im Ergebnis auch Rixen in: Huster/Kingreen [Hrsg.], Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 5 Rn. 70).
In Anbetracht der in der MPK beschlossenen weitreichenden Maßnahmen stellt sich die Frage, ob man von einer Impfpflicht sprechen kann, wenn sie nicht nur gesetzlich angeordnet ist, sondern auch wenn grundrechtseinschränkende Maßnahmen faktisch wie eine solche wirken.
Rechtliche und faktische Impfpflicht
Eines der wenigen Beispiele einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland war im Gesetz über die Pockenschutzimpfungnormiert. Danach hatten alle Personen ab dem 12. Lebensjahr die Rechtspflicht, sich gegen Pocken impfen zu lassen. Ausnahmen bestanden nur für solche Personen, die nicht ohne gesundheitliche Gefahren geimpft werden konnten. Verstöße stellten eine Ordnungswidrigkeit dar und konnten mit einem Bußgeld geahndet werden. Ein derartige selbstständige Rechtpflicht zur Impfung gegen das Coronavirus besteht (bisher) nicht. Hinsichtlich der Masernimpfung normiert § 20 Abs. 8 IfSG unter anderem, dass Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG (Kindertagesstätten, Schulen, Ferienlager, etc.) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern aufweisen müssen. Diese Regelung wird in der Literatur durchweg als Masernimpfpflicht bezeichnet (Gebhardt in: Kießling [Hrsg.], IfSG Kommentar, 2. Auflage 2021, § 20 Rn. 36, m.w.N.). Durch die Regelung wird insofern Druck (auf die Eltern) aufgebaut, als dass bei fehlender Impfung der Entzug oder die Verweigerung des Rechtsvorteils „Kita-Platz“ droht. Die in der MPK beschlossenen Maßnahmen stellen, soweit sie von den Ländern umgesetzt werden, nichts anderes dar. Danach soll bundesweit der Zugang zu Einrichtungen und Veranstaltungen der Kultur- und Freizeitgestaltung (Kinos, Theater, Gaststätten, etc.) inzidenzunabhängig nur für Geimpfte und Genesene (2G) möglich sein. Ergänzend kann ein aktueller Test vorgeschrieben werden (2GPlus). Darüber hinaus werden die 2G-Regeln bundesweit inzidenzunabhängig – mit Ausnahme von Geschäften des täglichen Bedarfs – auf den Einzelhandel ausgeweitet. Daraus folgt, dass bei fehlender Impfung die Rechtsvorteile „Besuche von Kultur- und Freizeitveranstaltungen und Einzelhandelsgeschäften“ verweigert werden. Es handelt sich folglich um eine Impfpflicht. Ebenso wie bei der Masernimpfpflicht bedarf es auch hier keiner Differenzierung zwischen „direkt“ und „indirekt“. Die Impfpflicht gegen das Coronavirus existiert kraft der Normierung der in Aussicht gestellten Nachteile (im Ergebnis wohl auch Rixen). Wollte man diese Differenzierung gleichwohl vornehmen, müssten die Adjektive allerdings adverbial gebraucht werden. Bei einer allgemeinen Rechtspflicht (Pockenimpfung) läge eine direkt wirkende Impfpflicht, bei der Normierung rechtlicher Nachteile im Verweigerungsfall (Masernimpfung) eine indirekt wirkende Impfpflicht vor. Sinnvoller wäre es m.E. allerdings, von einer rechtlichen bzw. rechtlich normierten Impfpflicht in Abgrenzung zu einer faktischen Impfpflicht zu sprechen. Im Ergebnis stimmen bei beiden Varianten Ziel und Wirkung der Regelung überein: Bei der rechtlich normierten wie bei der faktischen Impfpflicht werden Rechtsnachteile (Bußgelder zur Ahndung einer Ordnungswidrigkeit oder Zutrittsverbot zu Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens) in Aussicht gestellt, die dazu animieren sollen, der Pflicht nachzukommen, und immer steht als Verursacher, der dieses Ziel und diese Wirkung erreichen will, der Staat hinter dem Vorgang. Die demnächst geltende rechtliche Situation ist auch nicht mit der bisherigen vergleichbar, in der Ungeimpfte mittels aktuellen negativen Testnachweises Zutritt zu vielen Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens hatten. Bei einer in überwiegenden Bereichen geltenden 3G-Regelung wäre es verfehlt, von einer Impfpflicht zu sprechen, da regelhaft die Möglichkeit besteht, die in Aussicht gestellten Nachteile durch einen negativen Testnachweis rechtskonform zu überwinden. Nunmehr stellt sich die Situation für Ungeimpfte jedoch dergestalt dar, dass der Lebensbereich ohne Vorlage eines negativen Testnachweises sich auf die eigene Wohnung und Geschäfte des täglichen Bedarfs beschränkt. Mit Ausnahme des ÖPNV und der Arbeitsstätte, für deren Zutritt ein negativer Testnachweis vorliegen muss, bleibt Ungeimpften der Zugang zu sämtlichen Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens verwehrt. Kurzum: Ungeimpfte dürfen noch Lebensmittelläden (einschließlich der Geschäfte des § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 IfSG a.F.[Bundesnotbremse]) betreten und ihren arbeitsvertraglichen Pflichten nachkommen. Solche weitreichenden Einschränkungen der Freiheitsrechte Ungeimpfter auf ein absolutes Minimum rechtfertigen es, von einer (faktischen) Impfpflicht zu sprechen.
Verfassungsrechtlich erforderlich
Diese Maßnahme stellen nach dem modernen Eingriffsbegriff mindestens einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und in das Recht auf körperliche Unversehrtheit in seiner Bedeutung als Selbstbestimmungsrecht über den Körper dar (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar (Schwager-Wehming/Pieper; Rixen). Abhängig von der Konstellation und dem Kontext kommen auch weitere Grundrechtseingriffe in Betracht. Bei der sodann anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung fällt bereits eine präzise Bestimmung des legitimen Zwecks schwer. Unterstellt die Länder könnten auch nach dem 15. Dezember 2021 weiterhin auf die Maßnahmenkatalog des § 28a Abs. 1 IfSG zugreifen (vgl. § 28a Abs. 9 IfSG), normiert § 28a Abs. 3 S. 1 IfSG als Ziele den Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Zwar ist das Ziel „Schutz von Lebens und Gesundheit“ für sich genommen zu abstrakt, lässt sich aber unter anderem auf Langzeitfolgen („Long Covid“) herunterbrechen, so dass jedenfalls deren Verhinderung ein legitimes Ziel von Coronaschutzmaßnahmen sein kann (Kießling in: Kießling [Hrsg.], IfSG Kommentar, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 18 ff.). Dass eine Impfpflicht unter Beachtung des gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungspielraums geeignet ist, ist nach dem derzeitigen Wissensstand für Personen ab dem 12. Lebensjahr nach Maßgabe der STIKO-Empfehlung zu bejahen. Ebenso schützt eine Impfung gegen das Coronavirus vor schweren Verläufen von COVID-19 und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in erheblichem Maße (RKI).
Zur Frage der Erforderlichkeit, ob es also im Vergleich zur Impfpflicht gleich wirksame mildere Mittel gibt, ist zuzugeben, dass diese noch vor einem halben Jahr mit guter Begründung abzulehnen war (so Rixen). Eine adressatengerechte Information über die Impfung ist neben der Bereitstellung ausreichender Infrastruktur weiterhin notwendig und m.E. für das Kriterium der Erforderlichkeit unumgänglich. Soweit in diesem Zusammenhang die Zahl fundamentalistischer Impfgegner*innen auf 2-5% der Bevölkerung geschätzt wurde, ist dies vor dem Hintergrund aktueller Befragungen nicht mehr haltbar. Trotz anhaltender Appelle sind 24% der Bevölkerung in Deutschland nicht geimpft (keine von zwei Impfungen). Von diesen sind 45% auch weiterhin nicht bereit, sich impfen zu lassen. Das entspricht 11% der insgesamt Ungeimpften (Opinion Train 2021). Dabei ließe sich noch argumentieren, dass diese 11% bei einer Zielimpfquote von 85% bis 90% der Bevölkerung vernachlässig werden könnten. Das lässt aber die 37% der Ungeimpften außer Acht, die angaben, sich „nicht in nächster Zeit, vielleicht später“ impfen zu lassen zu wollen (die übrigen 18% gaben, sich zukünftig impfen zu lassen oder von Corona genesen zu sein). Diesen 37% entsprechen weitere 9% der insgesamt Ungeimpften, so dass rund 19% nicht in nächster Zeit oder überhaupt nicht bereit sind, sich impfen zu lassen. Damit lässt sich die angestrebte Zielimpfquote ohne weitere als die vor der MPK getroffenen Maßnahmen nicht erreichen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, die Zielimpfquote noch ohne die neue Omikron-Virusvariante berechnet wurde.
Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht
Bei der von der MPK beschlossenen Maßnahmen handelt es sich um eine faktische Impflicht, die erforderlich und – die Angemessenheit unterstellt – insgesamt verfassungsgemäß ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine allgemeine Impfpflicht überhaupt verfassungsgemäß sein kann. Denn immerhin verbleibt bei einer faktischen Impfpflicht Ungeimpften immerhin noch die Freiheit, sich auf ein erheblich eingeschränktes soziales Leben zurückzuziehen und damit rechtskonform einer Impfung zu umgehen. Diese Freiheit besteht – mit wenigen medizinisch bedingten Ausnahmen – bei einer allgemeinen Impfpflicht nicht mehr, was im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist.
Zitiervorschlag: Yannik Hofmann, Die Impfpflicht existiert bereits, JuWissBlog Nr. 108/2021 v. 08.12.2021, https://www.juwiss.de/108-2021/.
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