Wer ist eigentlich im Landtag anwesend? – Zur Auslegung parlamentarischer Mehrheitserfordernisse am Beispiel des MDR-Staatsvertrages

von KILIAN HERZBERG

Beim Schimpfen über die Politik ist es gängige Klage, dass in den Plenardebatten der Parlamente häufig zu wenige Abgeordnete anwesend seien. Aber nicht nur im politischen Diskurs, sondern auch im Recht stellt sich manchmal die Frage, wie viele Abgeordnete im Landtag anwesend sind – so zum Beispiel bei den Wahlen zum MDR-Rundfunkrat nach den Regeln des 2021 novellierten MDR-Staatsvertrages. Hier zeigt sich in der Praxis Auslegungsbedarf um den Begriff der „anwesenden Mitglieder“ des Landtags (§ 16 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 2 MDR-StV).

Der MDR-Rundfunkrat ist das zentrale Aufsichtsgremium des Mitteldeutschen Rundfunks, der gemeinsamen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Seine Mitglieder werden gemäß dem Staatsvertrag zwischen diesen Ländern zum Teil von den drei Landtagen bestimmt.

In der Sitzung am 18.11.2021 (TOP 23 b, c – Arbeitsprotokoll, S. 71 ff., 94 f.) hat der Thüringer Landtag sowohl die drei Vertreter des Landtags nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 MDR-StV als auch die beiden von Thüringen zu benennenden gesellschaftlich bedeutsamen Organisationen und Gruppen, die Vertreter in den Rundfunkrat entsenden dürfen (§ 16 Abs. 1 Nr. 24 MDR-StV), bestimmt. Für die Abstimmung ist jeweils eine „Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder“ des Landtags notwendig (§ 16 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 2 MDR-StV). Es wurde mit Stimmzetteln abgestimmt, von denen 75 abgegeben wurden. Für die Vorschläge wurden bei jeweils einigen Enthaltungen und ungültigen Stimmen 48, 49 und 50 Stimmen abgegeben. Damit wurden jeweils zwei Drittel der Summe aus Ja- und Nein-Stimmen erreicht, aber nur im letzten Fall (Landesverband Thüringen des Deutschen Journalistenverbandes) auch zwei Drittel der abgegebenen Stimmzettel. Bei wörtlicher Anwendung des Quorums der „anwesenden Mitglieder“ sind damit die drei Vertreter des Landtags und die gesellschaftliche Organisation „Arbeitskreis Thüringer Familienorganisationen“ nicht ordnungsgemäß gewählt. Trotzdem wurde vom amtierenden Präsidenten im Plenum wie selbstverständlich festgestellt, dass die erforderliche Mehrheit erreicht und die Wahl somit erfolgt sei.

Die Richtigkeit der Zusammensetzung des neuen MDR-Rundfunkrates hängt somit davon ab, wie das Mehrheitserfordernis des § 16 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 2 MDR-StV auszulegen ist.

Wortlaut, Systematik und Telos des MDR-StV

Der Wortlaut der Norm fordert die „Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder“. Der Wortbedeutung in der Alltagssprache nach ist anwesend, wer physisch bei der Sitzung präsent ist – unabhängig davon, wie derjenige abstimmt.

Allerdings nutzt die Rechtssprache bei der Bestimmung eines Mehrheitserfordernisses manchmal ungewöhnliche Begriffe: Bis 2009 ordnete § 32 Abs. 1 S. 3 BGB für den Verein eine Beschlussfassung mit der „Mehrheit der erschienenen Mitglieder“ an, was seit der höchstrichterlichen Klärung 1982 (BGHZ 83, 35) allgemein so verstanden wurde, dass Enthaltungen und ungültige Stimmen nicht mitgezählt werden. Der Gesetzgeber stellte dies schließlich mit der Neuformulierung der Norm „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ klar (BT-Drs. 16/12813, S. 10 f.). Vor diesem Hintergrund scheint auch ein Verständnis von „anwesenden Mitgliedern“ abhängig von ihrem Abstimmungsverhalten als denkbar.

Der MDR-StV nutzt die Formulierung einer Mehrheit von „zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder“ allerdings noch an anderer Stelle: In § 20 Abs. 3 S. 3 Hs. 1 MDR-StV wird dies als besonderes Erfordernis für bestimmte Beschlüsse und Wahlen des Rundfunkrates vorgesehen. Die Formulierung steht in unmittelbarem systematischen Zusammenhang zur allgemeinen Regel für die Beschlussfassung im Rundfunkrat mit der „einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ (§ 20 Abs. 3 S. 1 MDR-StV; beides völlig identisch in § 23 Abs. 3 MDR-StV a.F.). Die unterschiedliche Formulierung der Bezugsgrößen für die Mehrheit ergibt nur Sinn, wenn sie zu sachlich verschieden hohen Anforderungen führen soll. Dafür muss man am üblichen Wortverständnis festhalten: als Grundregel mehr Ja- als Nein-Stimmen ohne Berücksichtigung von Enthaltungen oder ungültigen Stimmen und als besondere Hürde die Zustimmung von zwei Dritteln aller physisch anwesenden Rundfunkratsmitglieder.

Es ist kein Grund ersichtlich, warum diese für § 20 Abs. 3 S. 3 Hs. 1 MDR-StV gewonnene systematische Auslegung des Begriffs „anwesende Mitglieder“ nicht auf die Verwendung im selben Staatsvertrag bezüglich der Landtagsentscheidungen in § 16 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 2 MDR-StV übertragbar sein sollte. Auch nach Sinn und Zweck des besonderen Mehrheitserfordernisses – die breite Verankerung der gewählten Vertreter bzw. Organisationen unter Einbeziehung auch der parlamentarischen Opposition zu sichern – ist keine andere Auslegung geboten.

Praxis in Sachsen und Sachsen-Anhalt

Bei der Auslegung eines Staatsvertrages könnte die Praxis der anderen vertragschließenden Teile eine besondere Rolle spielen. Auch in den Landtagen von Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden im Herbst die Vertreter des Landtags und gesellschaftliche Organisationen gewählt.

In Sachsen wurde in der Sitzung am 19.11.2021 (TOP 1, 2 – Video) für die Vertreter des Landtags geheim gewählt und für die gesellschaftlichen Organisationen durch Aufstehen abgestimmt. Beide Vorgehensweisen wurden vom amtierenden Präsidenten ausdrücklich damit begründet, dass so die erforderliche Mehrheit besser und sicherer festzustellen sei. In beiden Fällen wurde auch die Zahl der im Saal anwesenden Abgeordneten festgestellt, die sich nicht an der Abstimmung beteiligt hatten. Die konkret genannte Gesamtzahl, von der aus das ebenfalls benannte Quorum berechnet wurde, schloss diese Personen (in einem Fall gab es zwei solche Abgeordnete) und die Stimmenthaltungen mit ein. Aus diesem im Plenum unwidersprochenen Vorgehen ist erkennbar, dass in Sachsen unter „anwesenden Mitgliedern“ die physisch im Saal anwesenden Abgeordneten verstanden werden, und zwar unabhängig von der (Art der) Beteiligung an der Abstimmung.

In Sachsen-Anhalt wurde in der Sitzung am 14.10.2021 (TOP 9 – Protokoll, S. 109 ff.) bei beiden Abstimmungen durch Namensaufruf abgestimmt. Man hielt dies gerade aufgrund der Anforderung der „Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder“ für notwendig und wandte § 75 Abs. 1 der Geschäftsordnung analog an, der diese Abstimmungsweise beim Erfordernis der Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Mitglieder anordnet, da man in ähnlicher Weise klare Zahlen brauche. Bei der Feststellung der Ergebnisse wurde das zu erreichende Zwei-Drittel-Quorum ausdrücklich angesagt und dabei von der Anzahl aller Abstimmenden inklusive der Enthaltungen aus berechnet. Auch die Praxis in Sachsen-Anhalt entspricht also der oben gewonnenen Auslegung.

Die Praxis der Vertragsparteien Sachsen und Sachsen-Anhalt stützt die Auslegung von § 16 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 2 MDR-StV, dass mit den „anwesenden Mitgliedern“ die tatsächlich präsenten Abgeordneten gemeint sind und daher Enthaltungen und ungültige Stimmen mitzählen.

Anwendung auf Thüringen

Nach diesen Erkenntnissen sind auch in Thüringen für die Bestimmung des Quorums der Ja-Stimmen Enthaltungen und ungültige Stimmen mitzuzählen. Dies führt bei der Wahl der Vertreter des Landtags (Stimmverteilung: AfD-Vorschlag 17, Vorschlag übrige Fraktionen 48, Enthaltungen 5, ungültige Stimmen 5) und des Arbeitskreises Thüringer Familienorganisationen (Stimmverteilung: Ja 49, Nein 14, Enthaltungen 4, ungültig 8) zur Verfehlung der Zwei-Drittel-Grenze von 50 – entgegen der Aussage des Präsidenten, der offenbar Enthaltungen und/oder ungültige Stimmen herausgerechnet hat. Nur die Wahl des Landesverbands Thüringen des Deutschen Journalistenverbandes (Stimmverteilung: Ja 50, Nein 15, Enthaltungen 5, ungültig 5) hat auch nach diesem Maßstab Erfolg. Mit Blick auf die Praxis in Sachsen wäre zu überlegen, ob es nötig gewesen wäre, zu fragen, ob Abgeordnete präsent waren, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben.
Damit erfolgte für die Vertreter des Landtags nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 MDR-StV und (mindestens) eine der beiden von Thüringen zu benennenden gesellschaftlichen Organisationen nach § 16 Abs. 1 Nr. 24 MDR-StV keine ordnungsgemäße Wahl durch den Landtag.

Praktische Folgen

Nachdem in der Sitzung die Wahl jeweils (fälschlicherweise) festgestellt wurde, ist anzunehmen, dass die Thüringer Landtagspräsidentin der Vorsitzenden des aktuellen Rundfunkrates die bestimmten Organisationen nach § 16 Abs. 2 S. 3 MDR-StV und die Vertreter des Landtags nach § 16 Abs. 3 S. 3 MDR-StV mitteilen wird. Die angeblich gewählte gesellschaftliche Organisation wird dann ihren Vertreter im Rundfunkrat an die Vorsitzende des aktuellen Rundfunkrates melden, § 16 Abs. 3 S. 3 MDR-StV.

Die Vorsitzende ist dann in der Schlüsselposition, um den rechtswidrigen Zustand aufzuklären: Nach § 16 Abs. 3 S. 4 f. MDR-StV stellt sie die ordnungsgemäße Entsendung fest und kann dazu auch Auskünfte von den Entsendenden verlangen. Sie könnte und müsste diese Feststellung verweigern und dem Thüringer Landtag so Gelegenheit geben, die Wahl – nun rechtskonform – zu wiederholen.

Eine Konstituierung des Rundfunkrates ohne diese Fehlerbehebung wäre wohl nicht nur medienpolitisch problematisch. Man stelle sich etwa die Situation vor, dass der unterlegene Kandidat einer Intendantenwahl (§ 17 Abs. 4 Nr. 3 MDR-StV) das Wahlergebnis mit dem Hinweis auf die rechtswidrige Zusammensetzung des Gremiums anficht. Wie die Problematik auch schon vor einer solchen Konstellation (verwaltungs-)gerichtlich aufgeklärt werden könnte, insbesondere wer dabei klagebefugt wäre, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Hoffentlich benötigt die Praxis dazu auch keine Auskunft.

Zitiervorschlag: Kilian Herzberg, Wer ist eigentlich im Landtag anwesend? – Zur Auslegung parlamentarischer Mehrheitserfordernisse am Beispiel des MDR-Staatsvertrages, JuWissBlog Nr. 107/2021 v. 08.12.2021, https://www.juwiss.de/107-2021/.

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