Die Corona-Pandemie beeinflusst das Leben weltweit massiv. Das gesellschaftliche Leben und damit auch das Lernen stehen in vielen uns gewohnten Formen still. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, welchen Einfluss die permanente Präsenz des Themas Corona im Umfeld der Lernenden auf ihr Lernen im öffentlichen Recht haben kann. Es lohnt sich, Priming als lernrelevanten Prozess des Langzeitgedächtnisses bei rechtsdidaktischen Entscheidungen zu berücksichtigen.
Lernumgebung ohne Stillstand
Ein mit der Corona-Pandemie prominent gewordenes Wort ist „shutdown“, welches hauptsächlich mit Stilllegung oder Abschaltung übersetzt werden kann. Auch das Lernen an den üblichen Lernorten und in gewohnten Sozialformen ist massiv reduziert. Lernende können sich aktuell jedoch kaum dem Thema Corona und seinen Folgen entziehen. Die Medien sind voll damit. Corona prägt die Lernumgebung. Im Folgenden möchte ich für den Bereich des öffentlichen Rechts aufzeigen, inwieweit das sog. „Priming“ Einfluss auf das Lernen nehmen kann.
Priming – Lernrelevanter Prozess des Langzeitgedächtnisses
Der gängigen Vorstellung von unserem Gehirn als Netzwerk folgend, lässt sich ein Abruf von Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis als Aktivierung beschreiben. Auf Inhalte greifen wir zu, indem vorhandene Verknüpfungen (sog. Assoziationsbahnen) zwischen den hinterlegten Konzepten aktiviert werden. Langzeitgedächtnis und Arbeitsgedächtnis arbeiten dafür zusammen. Dem von der Kapazität her begrenzten Arbeitsgedächtnis kommt dabei insbesondere die Aufgabe des aktiven Verarbeitens zu.
Beim Priming handelt es sich um einen automatisch ablaufenden Prozess im Langzeitgedächtnis, der nicht aktiv vom Lernenden kontrollierbar ist. Das Priming beschreibt eine sich ausbreitende Aktivation im Langzeitgedächtnis. Ein sog. „Prime“ führt dazu, dass mit ihm verknüpfte Elemente vor-aktiviert werden. Unter Prime versteht man das die Aktivationsausbreitung initiierende Element. Dies können z.B. Worte oder Themen sein, aber auch ganz andere Formen. Durch den Prime werden solche Elemente bereitgehalten, die als kontextrelevant betrachtet werden, und deren baldiger Abruf aus der Erfahrung für wahrscheinlich gehalten wird. Die so voraktivierten Elemente können besser ausgewählt und aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden.
Die aktuelle Lernumgebung
Welche Elemente voraktiviert werden, hängt maßgeblich von den bisherigen individuellen Lernerfahrungen ab. Dies spricht gegen allgemeingültige Aussagen über auftretendes Priming. Durch die aktuelle Situation treten jedoch zwei dem Priming zugeschriebene Charakteristika verstärkt auf den Plan: Der kognitive Zugang ist leichter, wenn kognitive Schemata kürzlich aktiviert waren oder wenn sie immer wieder aktiviert wurden. Generell geht man davon aus, dass der häufigere Gebrauch von Assoziationsbahnen dazu führt, dass die Aktivationen über diese Verknüpfungen besser und schneller ablaufen. Dies kann natürlich aus rechtsdidaktischer Sicht auch kontraproduktiv sein.
Es gibt Belege dafür, dass ein Prime in einem Zeitungsartikel bzw. in Nachrichten die durch ihn aktivierten kognitiven Elemente für ein bestimmtes Zeitfenster zugänglicher macht. Corona ist medial omnipräsent. Unsere Wahrnehmung speist sich krisenbedingt stark aus medialen Quellen. Durch welche Eindrücke könnten Lernende aktuell stark kognitiv in ihrer Voraktivierung beeinflusst werden?
Anika Klafki spricht von nie dagewesenen Grundrechtseingriffen. Lernende sehen in den medialen Informationskanälen eine extreme Dominanz exekutiver Handlungsformen, aber verstärkt auch exekutive Akteure. Der Öffentlichkeit vermutlich vorher eher unbekannte Dinge wie Allgemeinverfügungen werden zur Orientierungsgrundlage der individuellen täglichen Lebensplanung in der Bevölkerung. Einen ergänzenden Eindruck bietet der Vergleich des Suchinteresses bei GoogleTrends in Deutschland seit 2004 zu den Begriffen „Gesetz“, „Verordnung“ und „Allgemeinverfügung“. Spannend wird sein, inwieweit in nächster Zeit die Judikative ihren Anteil an Wahrnehmbarkeit (wieder) einnehmen wird. Anders gesagt: Exekutives Priming dominiert aktuell.
Rechtsdidaktische Überlegungen
Anhand von zwei dogmatischen Themenbereichen möchte ich eine Richtung für eigene Überlegungen der Leser*innen aufzeigen, wie Priming in rechtsdidaktische Entscheidungen miteinbezogen werden kann.
Die Wesentlichkeitslehre verlangt in präzise umrissenen Bereichen zwingende gesetzgeberische Aktivität. Bestimmte Antworten auf schwerwiegende Fragen müssen vom Gesetzgeber kommen. Kommen aktuell Primes verstärkt vor, welche solche kognitiven Elemente beim Lernenden aktivieren, die das Verständnis der Wesentlichkeitslehre erschweren oder aus dogmatischer Sicht einseitig beeinflussen? In der zugehörigen Dogmatik ist die Figur des demokratische Verantwortung tragenden Gesetzgebers gängig. Für das dogmatische Verständnis der Grenzziehung zu exekutiver Selbständigkeit sind Konzepte im Kontext von Diskussion und Öffentlichkeit wichtig.
Mediale Eindrücke entstammen aktuell eher anderen Kontexten: Schnelles und entschlossenes Handeln wird beschworen oder praktiziert. Der Newsblog gibt den Takt an. Die Figur der kurzfristig geänderten Entscheidung ist aktuell sichtbarer als die Figur der verfolgten Debatte. Vielleicht waren Lernende kurz vor ihrer Lernaktivität solchen Primes ausgesetzt. Dann spricht viel dafür, dass eher solche kognitiven Elemente voraktiviert sind, die mit Effizienz und Schnelligkeit in Verbindung stehen. In diesem Fall könnte die Aktivationsausbreitung dazu führen, dass die kognitiven Elemente im Kontext von Diskussion und Öffentlichkeit für Lernende schwerer abrufbar sind. Ähnlich gelagert ist das aktuell wahrnehmbare Bild von Fachverstand und Sachnähe. Wichtige Entscheidungen werden aktuell oftmals vor Ort getroffen. Experten geben permanent Statements ab. Auf die Äußerungen des Robert-Koch-Instituts ist die volle Aufmerksamkeit gerichtet. Es erscheint nicht abwegig, dass die entsprechenden Voraktivationen den kognitiven Zugang zu Vorstellungen über demokratische Letztverantwortlichkeit erschweren können.
Priming ist dem Lernenden nicht bewusst zugänglich, aber es lässt sich gemeinsam umgrenzen, welche Eindrücke Lernende „mitgebracht“ haben. Lernende sollten reflektieren, was Einfluss auf ihr aktuelles Lernen nehmen kann. Es muss eine Vorstellung davon gewonnen werden, welche Voraktivierungen gerade Einfluss nehmen. In der pädagogischen Psychologie wird bislang auch das in Lern- und Lehrprozessen bewusst eingesetzte Priming thematisiert. Auch aus diesem Ansatz heraus könnten rechtsdidaktische Entscheidungen getroffen werden.
Beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zeigen sich massive Unwuchten in der Wahrnehmbarkeit. Als mediale Dauervokabel hinterlässt er aktuell einen wohl ebenfalls nie dagewesenen einseitigen Eindruck. Pierre Thielbörger spricht in diesem Zusammenhang von einem nahezu absoluten Überwiegen des öffentlichen Interesses; ein Zustand, zu welchem er ergänzend konstatiert, dass öffentlicher Protest so gut wie nicht stattfindet. Carsten Bäcker weist darauf hin, dass die Öffentlichkeit die staatlichen Maßnahmen nicht nur akzeptiert, sondern häufig sogar aktiv einfordert. Es findet eine permanente Konfrontation mit Primes aus dem Bereich des individuellen Zurücktretens zugunsten der Allgemeinheit statt. Es könnte sein, dass eine gemeinwohlausgerichtete Aktivationsausbreitung den Abruf der für die individualistische Komponente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlichen kognitiven Elemente erschwert. Auch hier bietet es sich zunächst an, dass Lernende über ihre individuelle Lernumgebung reflektieren. Ein rechtsdidaktisches Umlenken durch bewusst gesetzte Primes in individualistischen Kontexten kann darauf aufbauen.
Fazit
Priming ist ein rechtsdidaktisch zu beachtendes Thema. Das staatliche Handeln zur Krisenbewältigung zeichnet aktuell ein Bild, welches bestimmte Aspekte des öffentlichen Rechts stark hervorhebt, andere hingegen ausblendet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit Primes einhergehen, welche das Lernen im öffentlichen Recht aktuell, aber auch in den Zeiten nach Corona beeinflussen können. Welche Primes dies genau sind und wie sie genau wirken, müsste empirisch nachgewiesen werden.
Zitiervorschlag: Jan-Phillip Steinfeld, Corona, Priming & Rechtsdidaktik, JuWissBlog Nr. 50/2020 v. 07.04.2020, https://www.juwiss.de/50-2020/
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[…] befinden. Corona bestimmt nicht mehr nur die aktuelle Lernumgebung (vgl. hierzu den Beitrag auf JuWissBlog vom 7. April 2020 zum Priming), sondern beeinflusst inzwischen einen länger andauernden Erfahrungsraum. Die Corona-Pandemie […]