von DANIEL KROTOV
Die Angst vor einem „gouvernement des juges“ – frei übersetzt Herrschaft der Richter – ist tief in der französischen Rechtskultur verwurzelt. Gerade mit Blick auf Deutschland hätte das Zusammenfallen des 100-jährigen Jubiläums des Begriffs mit dem 70. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2021 Anlass für eine zukunftsorientierte kritische Auseinandersetzung mit der Macht und Leistungsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Politik geboten.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist aus französischer Sicht eine recht skurrile Institution. Sogar in der renommierten Tageszeitung LeMonde wundert man sich über seinen Status als Verfassungsorgan, seine Gleichrangigkeit mit Regierung und Parlament, seine Beliebtheit und den „quasi sakralisierten“ Status des Rechts in Deutschland. Eine Debatte um das „gouvernement des juges“, heißt es, stelle sich nicht. „Gouvernement des juges“ als feststehender Begriff für die diffuse Angst, dass Gerichte den demokratischen Staat im Namen des Rechts aushebeln könnten, scheint sich nur schwerlich in der deutschen Rechtssprache zu etablieren. Er wird gelegentlich verwendet, oft jedoch ohne sich das Problem in seiner gesamten Tiefe zu vergegenwärtigen. Zwar richtete sich der erstmals 1921 vom Lyoner Rechtshistoriker und Komparatisten Édouard Lambert verwendete Begriff vor allem gegen die Rechtsprechung des Amerikanischen Supreme Courts zur Sozialgesetzgebung. Er hat sich jedoch in Frankreich durchgesetzt als Etikett für das seit der Französischen Revolution bestehende Misstrauen gegenüber Gerichten. Noch heute wird dort richterliche Macht als potentiell gefährlich für die demokratische Ordnung angesehen. Deutschland könnte aus dieser kritischen Einstellung durchaus einiges lernen. Der hierzulande insbesondere vom Konstanzer Professor Bernd Rüthers geformte Begriff „Richterstaat“ hat nämlich durch seine Opposition zum Rechtsstaat (und nicht zur Demokratie) eine etwas andere Stoßrichtung.
Die Nachwirkungen des Legizentrismus
Der Grund für die Ablehnung richterlicher Macht in Frankreich liegt im Ancien Régime. Die damaligen, mit Adeligen besetzten Gerichte, die sogenannten parlements, hatten über die Jahrhunderte viele Befugnisse akkumuliert, die sie systematisch missbrauchten, um die feudalen Privilegien des Adels zu erhalten. Ihr Selbstverständnis als „Hüter der grundlegenden Gesetze“, das richterliche Prüfungsrecht anhand des „objektivierten königlichen Gewissens“ und die Befugnis zum Erlass eigener Rechtsnormen machte sie zum Inbegriff staatlicher Willkür (dazu ausführlich hier). In der Französischen Revolution wurden die parlements zum Staatsfeind Nummer eins. Nunmehr sollte das Gesetz als „Ausdruck des allgemeinen Willens“ nach Art. 6 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 dem Richter vorschreiben, was er zu tun und zu lassen hat. Die parlements und das richterliche Prüfungsrecht wurden 1790 per Gesetz ersatzlos abgeschafft – es stehe den Gerichten nicht zu, dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorzuschreiben, was er tun dürfe und was nicht. Das ist ein Gedanke der Aufklärung: Die Forderung Montesquieus, der Richter solle „la bouche de la loi“ sein, ist auch in Deutschland berühmt. Man ging sogar noch weiter: „La loi peut tout faire, la loi ne peut mal faire“ – das Gesetz kann alles tun, das Gesetz kann kein Unrecht tun – galt absolut.
Dieser sogenannte Legizentrismus wurde 1958 aus staatsorganisationsrechtlichen Gründen aufgegeben: Das allmächtige Parlament war in Frankreich – genau wie in der Weimarer Republik – zum politischen Instabilitätsfaktor geworden, den man für die Niederlage gegen das nationalsozialistische Deutschland von 1940 verantwortlich machte. Das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative wurde neu definiert und ein Verfassungsrat als (nach eigener Aussage) „Regulierungsorgan für die Tätigkeiten der Verfassungsorgane“ eingerichtet, um Gesetze vor deren Verkündung auf ihre (de facto nur formelle) Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Erst 1971 emanzipierte er sich von diesem Rollenverständnis, indem er Grundrechte als den Gesetzgeber bindendes Verfassungsrecht anerkannte. Eine Verfassungsbeschwerde gab und gibt es zwar nicht. Seit der Reform von 2010 sind formelle Gesetze allerdings in einem komplizierten Verfahren auch nach ihrer Verkündung der Kontrolle durch den Verfassungsrat zugänglich. Verfassungsänderungen und Akte des über der Verfassung stehenden souveränen Volkes sind jedoch bis heute nicht überprüfbar. Alles andere wäre skandalös! – „Ein Volk hat immer das Recht, seine [!] Verfassung zu revidieren, zu reformieren und zu verändern. Eine Generation kann die zukünftigen Generationen nicht ihren Gesetzen unterwerfen“ verkündet schon Art. 28 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1793.
Die Gefahren eines gerichtlichen Hüters der Verfassung
Dass diese für deutsche Verhältnisse extreme Einschränkung der richterlichen Befugnisse durchaus ihre Berechtigung hat, war Konsens auf der im Dezember 2021 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Begriffs abgehaltenen Tagung „Contre le gouvernement des juges?“, die vom Centre Maurice Hauriou der Université de Paris organisiert wurde. „Man kann nicht erklären, kraft welcher wundersamen Fügung der Richter nicht in die Versuchung des Machtmissbrauchs geraten könnte“ – bemerkte der gastgebende Professor Bruno Daugeron. Der Richter als mächtiger und somit inhärent gefährlicher Akteur im Spiel der Staatsgewalten müsse eingeschränkt werden. Die Gefahr besteht aus französischer Sicht insbesondere für den demokratisch legitimierten Gesetzgeber, der Übergriffen eines Verfassungsgerichts nur im Wege der schwierig zu bewerkstelligenden Verfassungsänderung begegnen kann. Auch wenn der Verfassungsrat heute sowohl in der Literatur als auch in der Gesellschaft akzeptiert ist, bleibt immer ein latentes, die Institution insgesamt betreffendes Rechtfertigungsbedürfnis. Aus in Frankreich verbreiteter Sicht schützt der Richter nämlich nicht gegen den Staat, der Richter ist der Staat.
Dem französischen steht das „deutsche Modell“ eines mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Verfassungsgerichts entgegen, das den anderen Verfassungsorganen gegenübersteht. Seit den Lüth- und Elfes-Urteilen Ende der 1950er Jahre gibt es keinen Bereich des deutschen Rechts mehr, der pauschal dem Zugriff des BVerfG entzogen wäre. Auch der Zugang zum BVerfG ist durch die Verfassungsbeschwerde sehr weit. Anders als der französische Verfassungsrat, der sich nur als „ein“ Hüter der Verfassung versteht, ist das BVerfG in Deutschland „der“ Hüter der Verfassung. Dieses Urvertrauen in eine gerichtliche Institution führt zu einer gefährlichen und immer zunehmenden Überschätzung ihrer Leistungsfähigkeit.
Schon die Sicherheit vor einem Abrutschen in die Diktatur kann ein gerichtlicher Hüter der Verfassung allein nicht bieten. Wer denkt, Karlsruhe wird es schon richten, vergisst, dass gerade auch die Justiz sich im Nationalsozialismus zur willfährigen Dienerin der neuen Machthaber machte. Und sollte das Bundesverfassungsgericht auch Widerstand leisten – Maximilian Steinbeis zeigt, wie einfach es sein kann, es auszuschalten und dies auch noch als grundrechtsorientierte Politik zu verkaufen. Verfassungsschutz ist Aufgabe aller Verfassungsorgane – auch des Bundespräsidenten, der kürzlich allerdings trotz „erhebliche[r] verfassungsrechtliche[r] Bedenken“ das Gesetz zur Wiederaufnahme von Strafverfahren unterzeichnet hat.
Im EMRK- und EU-Recht sei ein zu großes Vertrauen in die Gerichte ebenfalls unangebracht, betonte auf der Tagung Bertrand Mathieu, Professor an der Université Paris I Panthéon-Sorbonne und außerordentliches Mitglied des Conseil d’Etat. Im Dschungel des Mehrebenensystems seien sie aufgrund ihrer Bindung an die jeweilige Rechtsordnung schlicht nicht in der Lage, dauerhafte Lösungen zu finden. Der Fall PSPP mit der erstmaligen Anwendung des ultra vires Vorbehalts durch das BVerfG, der Einleitung und Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission und Reuebekundungen der Bundesregierung scheint diese pessimistische Prognose zu stützen. Die Europäisierung des Rechts soll jedenfalls nicht allein Sache der (Verfassungs)Gerichte sein, sondern muss auf allen Ebenen der Politik aktiv mitgestaltet werden.
Dasselbe gilt auch für die nationale Ebene. Der Klima-Beschluss des BVerfG ist ein Symptom dessen, dass politische Initiative und Verantwortung, hier etwa im dringend notwendigen Klimaschutz, auf die Verfahrensbeteiligten und (politisch unverantwortlichen) Gerichte abgewälzt werden. Regierung im Sinne einer staatsleitenden Tätigkeit ist der Vollzug von Gerichtsentscheidungen nicht mehr. Wie Professor Bertrand Mathieu hervorhob, sei die wachsende Bedeutung der Richter auch Schuld der Politik. Auch für Deutschland gilt: Es ist nicht Aufgabe der Gerichte zu gestalten! – dieser Appell geht auch und vor allem in Richtung von Bundestag und Bundesregierung. Der „Gang nach Karlsruhe“ darf die demokratischen Entscheidungsprozesse nicht ersetzen und so zur Absolution für die Politik werden.
Der Vorwurf eines „gouvernement des juges“ ist somit gerade für Deutschland als Appell zu verstehen. In Karlsruhe sitzen keine „Halbgötter in Rot“, die eine Antwort auf alles haben können und sollen. Gerade weil die Geschichte des BVerfG eine Erfolgsgeschichte ist, darf man von den nur 16 Richterinnen und Richtern keine übermenschlichen Leistungen verlangen. Die Repräsentanten des Volkes sitzen in Berlin – und durch Reden und Majoritätsbeschlüsse sollen die großen Fragen unserer Zeit entschieden werden.
Zitiervorschlag: Daniel Krotov, 100 Jahre „gouvernement des juges“ – das vergessene Jubiläum, JuWissBlog Nr. 4/2022 v. 20.1.2022, https://www.juwiss.de/4-2022/.
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