Warum denn nicht gleich so? Über Schweizer Käse und Münchner Salamitaktik

Von Marcus Schnetter

Aller guten (oder schlechten?) Dinge sind drei: Nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die landesrechtliche 2G-Regelung im Einzelhandel schon zwei Mal durchlöchert hat, räumte er sie mit Beschluss vom 19. Januar 2022 durch eine vorläufige Außervollzugsetzung aus dem Weg. Stein des Anstoßes war die offen mit Regelbeispielen formulierte Privilegierungsklausel, wonach die 2G-Kontrollen in solchen Geschäften entfallen, die der Deckung des täglichen Bedarfs dienen.

Bereits kurz vor Weihnachten machte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zum ersten Mal von sich reden. LTOteaserte: „Jedes Kind würde dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof sicherlich zustimmen. Dieser entschied heute, dass Spielwarenläden zum täglichen Bedarf gehören.“ Damit ging das Gericht in der notorisch umstrittenen Angelegenheit „2G im Einzelhandel“ einen bemerkenswerten Weg: Während Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte von Nord bis Süd, von West bis Ost mit wort- und einfallsreichen Begründungen überwiegend das 2G-Zugangsmodell aufrechterhielten, wählte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine Lösung, der man aus entscheidungspragmatischer Sicht eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen vermag: Das Gericht ließ zwei Eilanträge gegen 2G, jeweils gestellt von einem Spielzeug– und einem Bekleidungsgeschäft, zwar in der Antragsbefugnis scheitern – es legte jedoch im gleichen Zug die offen formulierte, lediglich mit Regelbeispielen versehene Privilegierungsklausel des täglichen Bedarfs in der landesrechtlichen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung weit aus; so weit, dass auch die von den Antragstellerinnen verkauften Spielzeuge respektive Kleidungsstücke dem privilegierten Grundbedarf unterfielen.

Zwei Beschlüsse mit Raffinesse…

Das war in doppelter Hinsicht pfiffig: Erstens vermied es das Gericht dadurch, die 2G-Regel im Einzelhandel generell außer Vollzug zu setzen. Während Lüneburger Richter für eine ebensolche Entscheidung mit, man muss es leider so deutlich sagen, Dreck beworfen wurden und dann auch noch unfreiwillig Applaus von zweifelhafter Seite einheimsten, blieb die 2G-Regel in Bayern grundsätzlich unangetastet, obgleich einzelne Branchen von der Last der 2G-Kontrollen befreit wurden. Das Münchner Gericht fand damit einen Kompromiss, der die Antragstellerinnen für die Zukunft befriedigte, gleichzeitig aber auch das Gesicht der Landesregierung so weit wie möglich wahrte.

Zweitens war die prozessuale Lösung des Verwaltungsgerichtshofs (zur Erinnerung: die Anträge scheiterten bereits in der Antragsbefugnis) deswegen elegant, weil sich hierdurch eine lange Beschlussbegründung erübrigte. Es genügte die Feststellung, dass Spielzeuge und Kleidungsstücke täglich genutzt werden, sodass hieran ein täglicher Bedarf bestehe. Diese Argumentation mutet freilich ein wenig wortklauberisch an: Denn nur weil Menschen sich jeden Tag ankleiden und Kinder Tag für Tag mit Puppen und Autos spielen, stehen diese Produkte für gewöhnlich nicht täglich auf dem Einkaufszettel. Vom Verordnungsgeber waren mit dem Privilegierungstatbestand des „täglichen Bedarfs“ Waren gemeint, die man mit häufiger Regelmäßigkeit im Alltag anschaffen muss. Sinn und Zweck war es, Ungeimpfte nicht von der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern auszuschließen. Aber auf den anderen Blick wirkte es zugegebenermaßen inkonsequent, dass ausgerechnet Baumärkte und Blumengeschäfte vom 2G-Erfordernis ausgenommen waren. Andere Verwaltungsgerichte mussten solche Differenzierungen mit erheblichem Begründungsaufwand rechtfertigen.

… und misslichen Folgen

Indes führten diese beiden Entscheidungen nicht nur zu Jubelsprüngen. Denn die Auslegung des Gerichtshofs implizierte, dass die betroffenen Geschäfte nie von der 2G-Beschränkung erfasst waren; nur hatten sich bayerische Unternehmen in vorauseilendem Gehorsam und Unkenntnis der Weisheit des Verwaltungsgerichtshofs zuvor schon der 2G-Order unterworfen. Wenig glücklich waren die Antragstellerinnen vermutlich auch über die zu ihren Ungunsten ausgefallenen Kostenentscheidungen. Fast schon trotzig bis zivil ungehörig wirkte die Reaktion einer großen Elektronikkette, die mit Blick auf die Beschlüsse die 2G-Kontrollen eigenmächtig aussetzte. Wenn schon Spielzeug und Bekleidung unter den Grundbedarf fielen, dürfe für Elektronikwaren kaum anderes gelten, so die Argumentation des Unternehmens. Auf einen entsprechenden Antrag auf Eilrechtsschutz wurde demgegenüber bewusst verzichtet – allerdings lässt sich vermuten, dass die von der Ordnungsbehörde angekündigten Bußgelder wiederum ihrerseits juristisch angefochten werden.

Das Ende der Salamitaktik

Mit diesen Beschlüssen war die landesrechtliche 2G-Regelung bereits dermaßen durchlöchert, wie man es Käse aus einem Land südwestlich des bayerischen Alpenzipfels nachzusagen pflegt. Dabei blieb es aber nicht. So war es schließlich der Eilantrag eines Lampenladens, der den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof dazu bewog, von der Salamitaktik schrittweiser Ausdehnung des Kreises der Begünstigten abzusehen. Mit Beschluss vom 19.01.2022 setzte das Gericht die 2G-Regelung im Einzelhandel in toto vorläufig außer Vollzug.

Interessanterweise übersprang die Antragstellerin dieses Mal die unüberwindlich scheinende Hürde der Antragsbefugnis. Die Erklärung, warum dieser Fall anders zu beurteilen sei als bei dem Bekleidungshaus und dem Spielzeugladen, ist etwas schwer verständlich, was vor allem durch die zahlreichen und unglücklich gesetzten Einschübe bedingt ist. Umformuliert sollte der Gedanke aber hoffentlich nachvollziehbar sein: Das Tagesgeschäft der Antragstellerin besteht augenscheinlich in zweierlei, nämlich sowohl dem Verkauf von Glühbirnen als auch der Erstellung von Beleuchtungskonzepten. Ersteres (Glühbirnenverkauf) kann als Bereithalten von Konsumgütern des täglichen Bedarfs angesehen werden. Letzteres (Beleuchtungskonzepterstellung) ist dagegen offenkundig eine nicht-lebensnotwendige Dienstleistung. Das Geschäft unterfällt aufgrund dieses Dienstleistungsaspekts grundsätzlich dem 2G-Erfordernis; allerdings erscheint eine Privilegierung aufgrund Verkaufsaspekts zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Das war bei dem Bekleidungs- und dem Spielzeuggeschäft anders: Diese unterfielen nach Ansicht des Gerichts offenkundig dem Ausnahmetatbestand.

Bei der Prüfung der Begründetheit stellt das Gericht maßgeblich auf die Erfolgsaussichten eines Antrages in der Hauptsache ab. Dieser Prüfungsmaßstab entspricht einer jüngeren Rechtsprechungslinie der Oberverwaltungsgerichte, die kürzlich in den Corona-Eilentscheidungen populär geworden ist. Früher wurde bei diesen nach § 47 Abs. 1, Abs. 6 VwGO angestrengten Anordnungsverfahren stärker auf eine Folgenabwägung entsprechend § 32 BVerfGG abgestellt. Ohne diesen Punkt hier zu vertiefen, sei lediglich bemerkt, dass das Gericht nur der Form nach darauf hinweist, dass zusätzlich zu den erfolgreichen Aussichten eines Hauptsacheantrages festgestellt werden muss, dass gewichtige Nachteile zu befürchten sind, die für eine vorläufige Außervollzugsetzung streiten. Der Verwaltungsgerichtshof begnügt sich demgegenüber allein mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, ohne solche Nachteile festzustellen oder mit Allgemeinwohlbelangen abzuwägen.

Als Hauptargument für die Begründetheit führt das Gericht an, dass der bayerische Normgeber mit der Privilegierungsklausel des „täglichen Bedarfs“ keine abschließende Regelung treffe, sondern unzulässigerweise die Abgrenzungsfrage zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Bereichen „auf die Ebene des Normenvollzugs und dessen gerichtlicher Kontrolle verlagere“. Dabei folge die Liste der privilegierten Geschäfte keinem kohärenten Regelungskonzept. So werde bei Gartenmärkten auf die Verderblichkeit von Blumen abgestellt. Das sei aber eine wirtschaftliche Erwägung auf Anbieter- und kein bedarfsbezogenes Kriterium auf Nachfrageseite. Diese Kritik leuchtet ein – nur fragt man sich: Warum kommt das Gericht erst jetzt darauf? Hätte man diesen Gedanken nicht bereits bei den Spielzeug- respektive Bekleidungsgeschäften fruchtbar machen können? Man ist daher geneigt, im Nachhinein diese Vorgängerentscheidungen als Warnschüsse an die Landesregierung zu verstehen; erst beim dritten Mal hat es dann endgültig geknallt. Ob man das Ergebnis für richtig hält, sei dahingestellt. Der Weg dahin war jedenfalls bemerkenswert.

Korrektur und Nachtrag (vom 31.01.22): Der Beschluss des Bayerischen VGH ist selbstverständlich vom 19.01.2022, nicht wie zuvor versehentlich angeben vom 19.01.2021. Zudem hat das OVG Saarland nur zwei Tage nach dem Bayerischen VGH aus denselben Erwägungen das landesrechtliche 2G-Modell außer Vollzug gesetzt, wobei auch hierbei eine Folgenabwägung unterblieb. Damit ist es von seiner ursprünglichen Rechtsprechungslinie abgewichen, hatte es die 2G-Regelung doch noch vor Weihnachten in zwei Verfahren zunächst bestätigt, sie dann aber eine Woche später allein für eine antragstellende Einzelhandelskette außer Vollzuggesetzt. Auch der VGH Baden-Württemberg hat die 2G-Regelung mittlerweile außer Vollzug gesetzt, allerdings aus anderen Erwägungen als der Bayerische VGH und das OVG Saarland.

Zitiervorschlag: Marcus Schnetter, Warum denn nicht gleich so? Über Schweizer Käse und Münchner Salamitaktik, JuWissBlog Nr. 8/2022 v. 27.1.2022, https://www.juwiss.de/8-2022/.

 

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2G, COVID-19, Einzelhandel, Infektionsschutzrecht, VGH Bayern
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