Was bringt eine britische Bill of Rights?

Von ROMAN KAISER

Foto Roman KaiserDie kürzlich vollzogene Kabinettsumbildung in Großbritannien hat die europaskeptischen Kräfte der Konservativen gestärkt. Dabei gerät nicht nur die EU, sondern auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in die Schusslinie. Bei den Tories kursieren Pläne, den Human Rights Act, der die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in britisches Recht umsetzt, durch eine rein britische Bill of Rights zu ersetzen. Großbritannien sollte diesen Vorschlag für eine grundsätzliche Diskussion über den Menschenrechtsschutz nutzen.

Parlamentssouveränität wiederherstellen?

Der EGMR stößt in der britischen Politik auf nur wenig Gegenliebe. Vor allem die Konservativen haben ihre Probleme mit den Entscheidungen des Gerichts. So wollen viele von ihnen auch weiterhin Gefangenen das Wahlrecht vorenthalten – entgegen eines 2005 gefällten Urteils aus Straßburg. Nachdem die Stimmen in der Partei, die eine Beschränkung des EGMR fordern, immer lauter wurden, wird nun daran gearbeitet, im Wahlprogramm für die Parlamentswahl 2015 die Aufhebung des Human Rights Acts und die Schaffung einer britischen Bill of Rights vorzusehen. „Restore the supremacy of Parliament“ lautet die Devise.

Doch die Supremität Westminsters ist nach nationalem britischem Recht bisher gar nicht beschränkt. Auf internationaler Ebene besteht die Bindung des Vereinigten Königreichs an die EMRK und damit auch die Bindung an die Urteile des EGMR. Diese Bindungswirkung Straßburger Entscheidungen ließe sich nur durch eine Änderung der EMRK mit Zustimmung aller Vertragsparteien aufheben – ein undurchführbares Vorhaben, das dem europaweiten Menschenrechtsschutz ein jähes Ende bereiten würde. Großbritannien steht also vor der Alternative, die Bindung der EMRK zu akzeptieren oder den Europarat zu verlassen.

Dabei wird viel davon abhängen, ob Großbritannien in der EU verbleibt. Anerkennung der EMRK ist eine der Bedingungen, um in die EU aufgenommen zu werden. Für Großbritannien würde es schwierig, dieser weiterhin anzugehören, jene jedoch aufzugeben. Sollte das Vereinigte Königreich allerdings aus der EU austreten, könnte auch die Verbindung zur EMRK gekappt werden.

Das Parlament ist souverän!

National besteht schon de lege lata keine Bindung des Parlaments an die EMRK. Der Human Rights Act verpflichtet zwar Behörden und Gerichte zu konventionskonformen Handeln, nicht aber Westminster. Gesetze müssen von den Gerichten – soweit möglich – konventionskonform ausgelegt werden, können aber nicht wegen Konventionswidrigkeit aufgehoben werden. Das britische Parlament kann sich weiterhin über die EMRK und die Straßburger Urteile hinwegsetzen. Seine Souveränität muss also gar nicht wiederhergestellt werden – die populistische Stoßrichtung des konservativen Plans ist nicht zu verkennen.

Was sich indes ändern könnte, ist die Verpflichtung der britischen Gerichte, die Urteile des EGMR bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Auch diese besteht allerdings, wie ich letztes Jahr auf dem JuWissBlog geschrieben habe, schon jetzt nicht grenzenlos. Bei völliger Nicht-Berücksichtigung Straßburger Entscheidungen würde sich Großbritannien aber die Chance nehmen, durch einen Dialog zwischen Supreme Court und EGMR auch auf dessen Rechtsprechung einzuwirken.

Die Frage nach den Menschenrechten

Durch den Vorschlag der Tories würde sich also nach britischem Recht nur wenig ändern. Er bietet allerdings die Möglichkeit, eine entscheidende rechtspolitische Frage zu diskutieren: Wie sollen Menschenrechte in Großbritannien geschützt werden? Die Diskussion muss sich dabei vom Dogma der Parlamentssouveränität, die ohnehin wegen der EU-Mitgliedschaft und spätestens seit der Factortame-Entscheidung des House of Lords nur noch pro forma besteht, emanzipieren. Vielmehr sind in concreto zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Welche Rechte sind im Vereinigten Königreich als grundlegende Menschenrechte zu schützen? Eine Bill of Rights würde den Grundkonsens des britischen Gemeinwesens darstellen und könnte dabei – anders als es der konservative Plan vorsieht – von den Prinzipien der EMRK abweichen. Zweitens: Wie soll das Verhältnis von Parlament und Gerichten beim Menschenrechtsschutz ausgestaltet sein?

Die richtige Beziehung von Parlament und Gerichten

Im Grunde gibt es, wie Gavin Phillipson angemerkt hat, drei Möglichkeiten. Das eine Extrem ist, wie in Deutschland und den USA den Gerichten die Aufhebung von Gesetzen zu erlauben – das glatte Gegenteil von Parlamentssouveränität. Das andere Extrem würde Menschenrechtsschutz den Parlamenten überlassen. Dieses Modell wird beispielsweise von Jeremy Waldron und Richard Bellamy vertreten und in Australien angewendet.

Ein drittes Modell, das sich in die Mitte der beiden Extreme einfügt, hat sich in den letzten Jahren im Commonwealth, vor allem in Kanada und Neuseeland, entwickelt: der „constitutional dialogue“. Die Gerichte, die eine Bill of Rights anwenden, und das Parlament, bei dem die Letztentscheidungskompetenz verbleibt, treten dabei in einen Dialog über die Menschenrechte. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der Human Rights Act. Eine britische Bill of Rights, die sich von den Vorgaben der EMRK und des EGMR emanzipiert, könnte dabei helfen, diesen – innerbritischen – Dialog zu intensivieren.

Bei allen drei Modellen gibt es gute Gründe dafür und dagegen. Großbritannien sollte eine öffentliche Diskussion über das Verhältnis von Legislative und Judikative – „perhaps the single most crucial relationship in a constitutional system“ (Geoffrey Marshall) – führen. Es muss darüber diskutiert werden, warum Entscheidungen über Menschenrechte eher von Abgeordneten oder von Gerichten getroffen werden sollten. Prozessual könnte dieser Diskurs etwa in einer „constitutional convention“ zentriert werden. Vorschläge könnten dem Volk in einem Referendum vorgelegt werden (wie es bereits bei der Devolution und der gescheiterten Wahlrechtsreform geschah und für die Unabhängigkeit Schottlands und den EU-Austritt geplant ist). Am Ende stünde eine souveräne Entscheidung Großbritanniens über den Schutz der Menschenrechte.

Ob jedoch solch eine Debatte zustande kommen wird, ist angesichts der jüngsten populistischen Auswüchse in der britischen Politik zweifelhaft. Zu wünschen wäre es.

EGMR, EMRK, Großbritannien, Human Rights Act, Menschenrechte, Roman Kaiser, Supreme Court, Völkerrecht
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