Was mit Staatszielbestimmungen (nicht) erreicht werden kann
von TOBIAS BRINGS und THOMAS WIERNY
An die (Er-)Findung von neuen Grundrechten hat man sich beinahe gewöhnt. Auch Forderungen nach neuen Staatszielbestimmungen liest man hin und wieder. Jedoch: Die Politik lässt sich damit nicht binden und sollte auch nicht übermäßig gebunden werden. Eine Verwässerung des aufgrund seines überwiegend hohen Abstraktionsgrades erfolgreichen Grundgesetzes muss tunlichst vermieden werden.
In der FAZ vom 6. August 2014 fordern zwei gestandene FDP-Politiker die Aufnahme der „Sicherung der Infrastruktur“ als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz. Davon erhoffen sich die Autoren eine politische Debatte und die Einwirkung einer solchen Bestimmung auf verfassungsorientierte Abwägungen in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren.
Staatszielbestimmungen als Alternative zur PKW-Maut zwecks Rettung der deutschen Brücken und Autobahnen?
Zumindest würde eine solche
„Verfassungsnorm[en] mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben – sachlich umschriebener Ziele – vorschreib(t)[en]“ bzw. „Richtlinie[n] oder Direktive[n] für das staatliche Handeln“
(Bericht der SV-Kommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungs-aufträge, 1983)
wohl keine Fragen der (mittelbaren) Diskriminierung aufgrund von Staatszugehörigkeit aufwerfen. Die Finanzierungsfrage bliebe aber auch mit einer solchen Bestimmung offen.
Staatszielbestimmungen und Abwägung
So bindend, wie in der oben zitierten Definition erscheinend, sind Staatszielbestimmungen freilich nicht. Ihrem Adressaten, nämlich in erster Linie dem Gesetzgeber, steht es frei zu entscheiden, wann, wie und wie weit er sie verwirklicht.
Staatszielbestimmungen, die staatlichen Entscheidungen vorgelagerte objektive Wertvorgaben darstellen, wirken auf Entscheidungsprozesse innerhalb von (Gestaltungs-)Spielräumen ein. Einzelne Abwägungsgüter können durch verfassungsrechtliche Hintergründe – so dann auch durch Staatszielbestimmungen – in ihrem Gewicht beeinflusst werden; zum Teil kann eine Staatszielbestimmung auch ein eigenständiges Abwägungsgut statuieren. Zur Entfaltung einer Wirkung bedürfte eine Staatszielbestimmung, die das Ziel hat, zum Erhalts einer dem Wirtschaftsstandort Deutschland angemessenen Verkehrsinfrastruktur beizutragen, jedoch stets einer Abwägungssituation.
Auch der von den FDP-Politikern angeführte „gleichwertige Stellenwert“ führte im Übrigen zu nichts anderem als einer Abwägung der Zielbestimmungen gegeneinander, so sie widerstreitend wären. Das bedeutet aber auch, dass ein abweichender politischer Wille jederzeit auch entgegen einer Staatszielbestimmung im Rahmen der legislativen Einschätzungsprärogative durchgesetzt werden kann. Diese Spielräume wiederum hat auch die Judikative zu achten. Damit kann durch den Verfassungsrang einer solchen Bestimmung der angeblich fehlende politische Wille nicht erzwungen werden. Wenn also der Effekt ein eher kleiner ist, warum dieses Plädoyer gegen die Staatszielbestimmung?
Klingt doch gut, tut keinem weh!
Doch. Tut es. Nämlich dem Grundgesetz. Durch das Hochzonen von Themen gleich welcher Art auf Verfassungsrang, sei es geschrieben oder ungeschrieben, verwässert das Grundgesetz. Man denke nur an Art. 2 Abs. 1 GG, der schon heute nach ganz herrschender Auffassung weitaus mehr Grundrechte enthält, als der Bürger ihm auf den ersten Blick entnehmen kann. Das jüngste Kind, das „Computergrundrecht“, liefert bereits keinen Mehrwert. Gleiches gilt erst Recht für den Entwurf einer „Internetdienstefreiheit“.
Die Quantität der Entwicklung von „neuem Verfassungsrecht“ bzw. die kreative Auslegung durch Judikative und Wissenschaft ist durchaus kritikwürdig. Eine Grundgesetzänderung unterscheidet sich davon jedoch kategorial. Denn zumindest in der Theorie findet die Weiterentwicklung des Verfassungsrechts und damit auch die gegenüber Textänderungen flexiblere Gewinnung objektiver Gehalte der Grundrechte durch die Gerichte nur dort statt, wo sie notwendig wird.
Das muss auch und erst recht für textuelle Änderungen gelten, denn: Jede Vorgabe, die das höchste normative Level erreicht, sorgt vielleicht nicht direkt für einen Wertverlust der Ebene insgesamt, wohl aber zu einem gewissen Legitimationsschwund und zuwenigst für ein Stück mehr Unübersichtlichkeit.
Wenn es wirken soll, muss es konkret sein
Einen Mindeststandard zu garantieren, wie es Staatszielbestimmungen oft zugedacht wird, ist übrigens im Verkehrsinfrastrukturbereich zumindest hinsichtlich der Qualität der Wege für den nicht primär wirtschaftlichen Allgemeingebrauch nicht erforderlich. Verkehrs- und damit gesundheitsgefährdend marode Autobahnen, die den Verkehrspolitikern drohend am Horizont erscheinen, muss der Staat schon aufgrund seiner Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit seiner Bürger, entgegenwirken.
Wollte man aber Handlungsentscheidungen im Sinne aktiver Wirtschaftspolitik bewirken, so bedürfte der „Neuzugang“ im Grundgesetz einer gewissen Konkretheit, sofern das Ziel eben nicht der Erhalt eines Mindeststandards, sondern – wie wohl beim hier diskutierten Vorschlag – der Erhalt eines Zustandes ist, der dauerhafte Erweiterung und Investition über bloßen Schutz hinaus erfordert. Denn eine gesunde Wirtschaft wächst und mit ihr die Anforderungen an die für sie wesentliche Verkehrsinfrastruktur.
Eine derartige Konkretheit widerspricht jedoch der weit überwiegend abstrakten Gestaltung des Grundgesetzes. Zudem vermindert ein zu hoher Grad an konkreten materiellen Vorgaben in einer Verfassung die Reaktionsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers. Gerade die Wirtschaftspolitik dient aber in Zeiten, in denen die mangelnde Unterscheidbarkeit der (großen) politischen Parteien bemängelt wird, letzteren als profilbildendes Themenfeld. Nicht zuletzt dieser Befund spricht gegen konkrete Zielbestimmungen. Besser als die Festschreibung von solch kostenintensiven Zielen über Legislaturperioden hinweg ist es doch, dem Wähler die Entscheidung über gelungene oder weniger gelungene Wirtschaftspolitik zu überlassen.
Ordnung und Integration
Doch viel wichtiger: Das Grundgesetz ist stark und zukunftssicher, gerade weil es sich mit konkreten Vorgaben weitgehend zurückhält.
Ihren Zweck des Ordnens kann nur eine Verfassung erfüllen, die die Balance zwischen Offenheit und Festlegung findet und damit im besten Falle nur das konkret regelt, was unbedingt konkret geregelt werden muss. Das mag im Übrigen hinsichtlich des Schutzes unser aller absoluter Lebensgrundlage angezeigt sein. Streitbarer ist dies wohl hinsichtlich des Tierschutzes und erst recht hinsichtlich der Sicherung funktionierender Wirtschaft durch Infrastruktur. Hinsichtlich letzterer wird man sich im Übrigen auch nicht, wie wohl bei Umwelt- und Tierschutz, auf eine Verstärkung der Integrationswirkung des Grundgesetzes durch Aufnahme wichtiger Anliegen der Bürger berufen können. Die Zukunftssicherheit des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist dafür für die meisten wohl deutlich zu abstrakt.
Vorsicht mit dem Grundgesetz!
Das Vertrauen in die Verfassung ist also groß: „Schreibt es in das Grundgesetz, das wird helfen!“ scheint das Motto. Dieses Vertrauen besteht zu Recht. Und es sollte nicht durch die Integration von materiellen Gehalten, die letztlich die mit ihnen verbundenen Erwartungen nicht erfüllen können, erschüttert werden. Dann nämlich wäre nichts gewonnen – aber eine Menge verloren.
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Volle Zustimmung! Das Schlussfazit (… und es sollte nicht durch die Integration von materiellen Gehalten, die letztlich die mit ihnen verbundenen Erwartungen nicht erfüllen können, erschüttert werden. Dann nämlich wäre nichts gewonnen – aber eine Menge verloren) gilt im Übrigen auch für alle Versuche, bspw. den individuellen Datenschutz, durch explizite Benennung entsprechender Grundrechte zu stärken. In ihrer klassischen Funktion erfassen sie die „neuen Gefahren“ nicht; eine Stärkung von Vollzug, Rechtsdurchsetzung und Kontrollgremien lässt sich daraus nicht unmittelbar ableiten. Vgl. dazu auch https://www.juwiss.de/63-2014/