Virtuelle Versammlungen – Das Internet ist die Straße des 21. Jahrhunderts

VON TOBIAS WELZEL

Virtuelle Handlungen stellen das Recht regelmäßig vor große Herausforderungen. Nicht nur das einfache Recht steht vor der Frage, inwieweit virtuelle Verhaltensweisen tradierten Handlungen in der physischen Realität entsprechen, auch die Grundrechte sind mit dieser Frage konfrontiert. Teilweise werden virtuelle Handlungen ohne große Diskussion in den Schutzbereich einiger Grundrechte einbezogen. Gerade bei virtuellen Versammlungen herrscht jedoch Streit, ob sie den Schutz von Art. 8 Abs. 1 GG genießen. Die (noch) herrschende Meinung stellt sich dem entgegen, zu Recht?

Das Internet hat unser Leben wie kaum eine zweite Technologie beeinflusst. Von alltäglichen Angelegenheiten wie shoppen oder Essen bestellen bis hin zu sensiblen Tätigkeiten wie Bankgeschäften oder Behördengängen; nahezu alles ist heutzutage über das Internet möglich. Mit virtual und augmented reality stehen Technologien zur Verfügung, welche die virtuelle und die physische Realität noch stärker miteinander verschmelzen. Dennoch hat die Bundesregierung vor 10 Jahren, als das Internet schon längst ein Massenmedium war, ohne Zweifel konstatiert: „Mangels Körperlichkeit sind virtuelle Versammlungen […] im verfassungsrechtlichen Sinne keine ‚Versammlungen‘.“ Dieser Aussage stehen 10 Jahre Entwicklung und technischer Fortschritt gegenüber und gerade während einer globalen Pandemie verlagern sich Handlungen verstärkt ins Internet: Die Einschränkung der Grundrechte in der „echten Welt“ während eines Lockdowns führt zu kreativen Ideen des Grundrechtsgebrauchs. Versammlungen, die ursprünglich auf der Straße veranstaltet wurden, verlagern sich ins Netz. Trotzdem ist auch heute noch herrschende Meinung in der Literatur, dass virtuelle Versammlungen Art. 8 GG nicht unterfallen. Dieses Verständnis überzeugt jedoch nicht.

Die Auslegung des Art. 8 GG

Häufigstes Argument dagegen, den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit auch auf virtuelle Versammlungen zu beziehen, ist, dass der Begriff der „Versammlung“ oder des „sich versammelns“ Körperlichkeit voraussetze; dies oft sogar ohne nähere Begründung. Ironischerweise lässt sich dieses Argument am einfachsten widerlegen: Sprache entwickelt sich mit der Zeit und Begriffe ändern oder verlieren sogar ihre Bedeutung. Maßgeblich bestimmt der Gebrauch eines Begriffs seine Bedeutung (Rn. 43). Dem Begriff „Tisch“ ist das Objekt, das er beschreibt, nicht inhärent. Die Gesellschaft hat sich darauf geeinigt, dass dieser Begriff diese Bedeutung hat und sie kann diese Bedeutung ändern. So ist es beim Begriff der Versammlung geschehen. In der Umgangs- und der Fachsprache werden virtuelle Zusammenkünfte vielfach mit „Versammlung“ beschrieben. Der grundgesetzliche Versammlungsbegriff kann also ob seiner Offenheit sehr wohl virtuelle Versammlungen einschließen.

In historischer und genetischer Perspektive zwingt die Versammlungsfreiheit nicht zum Ausschluss virtueller Versammlungen. Die Versammlungsfreiheit, in Deutschland ein Kind des 19. Jahrhunderts und im anglo-amerikanischen Raum im 18. Jahrhundert entstanden, konnte ursprünglich nur körperlich verstanden werden. Technologien wie das Internet existierten zu jener Zeit nicht und waren auch nicht vorhersehbar. Somit sind Historie und Genese, wie so oft bei neuen technischen Entwicklungen, unergiebig. Doch selbst wenn man die historischen Entstehungsbedingungen betonen und darstellen möchte, wie maßgeblich der körperliche Bezug ist, führt dies zu keinem Ausschluss virtueller Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich. Die Erweiterung auf virtuelle Zusammenkünfte negiert die Bedeutung eines körperlichen Bezugs nicht. Körperlichkeit war, ist und bleibt weiterhin ein wichtiger, aber eben kein wesentlicher, Bestandteil von Versammlungen. Die Grundrechte sind ursprünglich, in ihrer kontinentaleuropäischen Entstehung, als Abwehrrechte gegen den Staat gedacht. Die Gefahr eines staatlichen Eingriffs stellt sich bei physischen Versammlungen ebenso wie bei virtuellen. Auch virtuelle Versammlungen können von staatlichen Auflösungsanordnungen oder Auflagen betroffen sein. Der historische Kerngedanke widerspricht somit nicht der Einbeziehung virtueller Versammlungen in den Schutzbereich.

Die Systematik spricht entschieden für eine Einbeziehung in den Schutzbereich. Art. 8 Abs. 1 GG enthält keinerlei Einschränkungen, die virtuelle Versammlungen ausschließen. Zwar begrenzen Waffenlosigkeit und Friedlichkeit die Versammlungsfreiheit; doch selbst wenn virtuelle Versammlungen niemals bewaffnet oder unfriedlich im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG sein können, folgt daraus nicht, dass sie aus dem Schutzbereich auszuschließen sind. Es wäre widersprüchlich, eine Verhaltensweise als nicht geschützt anzusehen, nur weil sie weniger gefährlich ist. Man mag anbringen, dass die Einschränkung des Art. 8 Abs. 2 GG „unter freiem Himmel“ den Körperlichkeitsbezug deutlich mache. Die herrschende Meinung versteht „unter freiem Himmel“ jedoch nicht wörtlich, sondern metaphorisch – und damit vielleicht sogar schon entgegen dem Wortlaut. Es komme nämlich nicht auf eine Überdachung an, vielmehr sei der freie Zugang zur Versammlung maßgeblich. Eine überdachte Versammlung sei dann immer noch „unter freiem Himmel“, wenn ein unkontrollierter Zugang von allen Seiten her möglich ist. Kommt es nun auf den ungehinderten Zugang an, lässt sich dies leicht auf die virtuelle Welt übertragen: Auch hier gibt es Räume, die zum Beispiel durch Passwörter vor willkürlichem Beitritt geschützt sind. Ebenso verhält es sich bei einem Vergleich mit anderen Grundrechten. Die im Wortlaut abschließend gefasste Meinungsfreiheit (nur Wort, Schrift und Bild) wird seit jeher auch auf elektronische und virtuelle Meinungskundgaben angewandt, bei dem offeneren Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 GG muss dies doch dann erst Recht gelten.

Ob der Telos als eigenständige Auslegungsmethode eine Daseinsberechtigung hat, kann offen bleiben. Denn auch eine teleologische Betrachtung spricht für eine Freiheit zu virtuellen Versammlungen unter dem Schutz des Art. 8 GG. Das BVerfG (Rn. 31) legt den Schutzbereich von Grundrechten grundsätzlich weit aus und zwar in dubio pro libertate – im Zweifel für die Freiheit. Dies sollte dann gerade für die Versammlungsfreiheit als „für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend[es]“ (Rn. 20) Grundrecht gelten. Auch wenn sich gegen die hier vorgestellte Meinung Argumente finden lassen, ist die Frage, ob sie gewichtig genug sind, den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit vor diesem Hintergrund einzuschränken. Denn der Kerngedanke des Art. 8 GG, die „kollektive Meinungskundgabe“ (Rn. 20), kann auch ohne körperlichen Bezug erreicht werden. Zwar ist anzuerkennen, dass mit dem eigenen Körper für seine Meinung einzustehen, ihr besonderes Gewicht verleiht. Doch kann es hierauf nicht ankommen, denn dann ist nicht ersichtlich, warum auch Kleinstversammlungen in geschlossenen Räumen, wie der politische Diskussionsabend mit Freunden im heimischen Wohnzimmer, geschützt sind. Zu berücksichtigen ist auch, dass das „auf der Straße stehen“ dank des technischen Fortschritts heute nicht mehr die einzige Möglichkeit zur kollektiven Meinungskundgabe ist. Ein Verhalten wird nicht dadurch weniger schutzwürdig, nur weil es evtl. weniger erfolgreich ist oder weniger Druck erzeugt, denn im Kern geht es schlicht um die kollektive Meinungsbildung und -äußerung. Diese kann ebenso gut virtuell wie auf der Straße stattfinden. Es entsteht sogar der Eindruck, dass Meinungsbildung und -kundgabe im Internet noch intensiver stattfinden als in der physischen Welt.

Fazit

Zwar kann im Rahmen eines Blogbeitrags nur ein kleiner Blick auf die Diskussion geworfen werden, dennoch lässt sich hiermit zeigen, dass Art. 8 GG durchaus virtuelle Versammlungen erfassen kann. Die Bedeutung des Internets und virtueller Verhaltensweisen wird in einer globalisierten Welt durch die technische Entwicklung nur noch steigen. Gerade mit Blick auf die Versammlungsfreiheit lässt sich daher abschließend feststellen: Das Internet ist die Straße des 21. Jahrhunderts.

Tobias Welzel, Virtuelle Versammlungen – Das Internet ist die Straße des 21. Jahrhunderts, JuWissBlog Nr. 89/2021 v. 05.10.2021, https://www.juwiss.de/89-2021/

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Auslegung, Digitalisierung, Grundgesetz, Partizipation, Versammlugsfreiheit
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