von DOMINIK KRELL
In Riad öffnen bald die ersten Kinos, das Fahrverbot für Frauen ist aufgehoben und Fußballstadien sind nun für beide Geschlechter offen – Saudi-Arabien wandelt sich und in dem wirtschaftlich bedeutendsten Land des Nahen Ostens scheint plötzlich alles möglich. Zwar werden die Reformvorhaben des jungen Kronprinzen Muhammad bin Salman ausführlich in der deutschen Presse diskutiert. Weniger bekannt ist jedoch, dass sich auch das Rechtssystem in einem wichtigen Wandlungsprozess befindet, der unsere Wahrnehmung von dem arabischen Königreich verändern könnte.
Hauptquelle der Rechtsprechung ist unkodifiziertes islamisches Recht
Lange wusste man hierzulande nur sehr wenig über das saudische Rechtssystem. Anders als in den allermeisten Ländern des Nahen Ostens gibt es in vielen Rechtsbereichen kein geschriebenes Gesetz in Form von Artikeln oder Paragraphen. Die Richter wenden stattdessen meist unkodifiziertes islamisches Recht an, ein kompliziertes System aus Regeln und Normen, das in mehr als 1400 Jahren von islamischen Gelehrten auf Basis des Korans und der überlieferten Aussagen des Propheten Muhammad entwickelt wurde. Anders als man vielleicht denkt, umfasst das islamische Recht nicht nur „religiöse“ Vorschriften, sondern deckt auch zahlreiche Bereiche ab, mit denen sich europäische Juristen beschäftigen. So gibt es islamische Bücher über Schuldrecht, Prozessrecht, Staatsrecht und andere klassische Rechtsgebiete. Die in Saudi-Arabien ausschließlich islamisch-religiös ausgebildeten Richter urteilen auch über Fragen des Vertragsschlusses oder des Eigentumsübergangs an Immobilien. Selbst eine Privatinsolvenz kann nach islamischem Recht erklärt werden. Haben die islamischen Juristen einen Rechtsbereich nicht ausführlich behandelt, da er zum Beispiel wie das Aktienrecht erst mit dem modernen Kapitalismus richtig relevant wurde, hat das saudische Königshaus als Ergänzung zum islamischen Recht Verordnungen erlassen, die europäischen Gesetzen ähneln.
Das Rechtssystem Saudi-Arabiens wird transparenter
Wie genau die Richter bei ihren Entscheidungen juristisch vorgehen blieb jedoch bis vor kurzem weitgehend im Dunkeln. Urteile wurden nicht veröffentlicht und die Richter sprachen nicht gerne mit Laien oder Ausländern über ihre Tätigkeit bei Gericht. Dazu kommt, dass Einzelheiten des islamischen Rechts ebenso komplex sind wie das deutsche Recht. Vor gut zehn Jahren hat das Justizministerium zum ersten Mal in der Geschichte Saudi-Arabiens eine Sammlung Urteile der Zivil- und Strafgerichte veröffentlicht. Es folgten Sammlungen der Urteile der öffentlich-rechtlichen Gerichte. Mittlerweile wurden zu den verschiedenen Rechtsbereichen ausreichend Urteile veröffentlicht, um beurteilen zu können, wie saudische Gerichte vorgehen – ein wichtiger Schritt für die wissenschaftliche Erforschung des islamischen Rechts.
Noch gewichtiger sind allerdings die Auswirkungen der Veröffentlichungen auf das saudische Rechtssystem selbst. Der saudischen Justiz wird oft vorgeworfen, uneinheitlich zu urteilen, auch weil der richterlichen Unabhängigkeit bei der Beurteilung eines Falles traditionell ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. So kann es sein, dass zu ähnlichen Sachverhalten völlig unterschiedliche Urteile gesprochen werden und dies von den Revisionsgerichten akzeptiert wird. Obwohl die veröffentlichten Urteile nicht offiziell als Präzedenzfälle anerkannt werden, wird die Veröffentlichung aller Voraussicht nach zu einer schrittweisen Vereinheitlichung der Rechtsprechung führen. Als weiteren Schritt hat das Justizministerium im Januar dieses Jahres ein Buch mit 2323 Rechtsprinzipien veröffentlicht, die von allen Richtern befolgt werden müssen.
Die sich gerade entwickelnde Anwaltschaft nutzt die veröffentlichten Urteile und die Rechtsprinzipien des Justizministeriums, um das Vorgehen der Gerichte zu verstehen, zu analysieren und dementsprechend ihre Mandanten zu beraten. Anwälte waren lange Zeit eine Ausnahme in saudischen Gerichten. Islamisch ausgebildete Richter verstehen sich traditionell eher als Schlichter und suchen den direkten Kontakt zu den Parteien. Dabei würden Anwälte eher stören als nützen. In Saudi-Arabien wurden erst im Jahr 2001 Regeln für die Anwaltszulassung eingeführt. Seitdem hat sich die Zahl der Anwälte stark erhöht. Die Institutionalisierung des Anwaltsberufs zeigt sich an dem wachsenden Angebot zur Aus- und Weiterbildung für Rechtsanwälte.
Die Justiz wird digital: Apps, Twitter und das „papierlose“ islamische Gericht
Rechtsanwälte, Richter, Gelehrte und interessierte Laien treffen sich zunehmend auf Social-Media-Plattformen. Die Digitalisierung hat Saudi-Arabien gepackt. So hat das Land die meisten Twitter-Nutzer der gesamten arabischen Welt. Die Verbreitung digitaler Technologien macht auch nicht vor dem Justizsystem halt. Ganz im Gegenteil: Ziel des Justizministeriums ist eine weitgehende Digitalisierung der Justiz. So können Klagen bereits jetzt online eingereicht werden, über die Justizministeriums-App kann mit dem Smartphone nach Schlichtern oder Anwälten gesucht werden und auf lange Sicht sollen alle Gerichte „papierlos“ werden. Bereits jetzt operieren einige Vollstreckungsgerichte zumindest offiziell rein digital.Die Einführung digitaler Technik soll die Gerichtsprozesse beschleunigen und der Öffentlichkeit das Rechtssystem näherbringen. Ein Twitter-Account des Justizministeriums berät beispielsweise die Bürger, wie sie vor Gericht ihre Rechte durchsetzen können.
Die zunehmende Komplexität der Verfahren erfordert spezialisierte Gerichte
Die Gerichtsprozesse sollen auch durch die Einführung spezialisierter Gerichte beschleunigt werden. Im islamischen Recht herrschte lange das Ideal des Einzelrichters, der für alle Straf- und Zivilsachen gleichermaßen zuständig ist. Lediglich die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit war abgetrennt. Nachdem auch in Saudi-Arabien die Richter lange umfassende Jurisdiktion hatten, wurden in den letzten Jahren spezialisierte Gerichte geschaffen. So existieren mittlerweile in den großen Städten Familien- und Handelsgerichte. Diese Spezialisierung der Gerichte ist eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität rechtlicher Beziehungen, nicht zuletzt durch die Globalisierung und Digitalisierung. Beachtenswert ist auch die Eröffnung eigener Vollstreckungsgerichte, die eine einfachere Vollstreckung bereits ergangener Urteile ermöglichen.
Zwar sind mittelalterliche Rechtswerke weiterhin der Ausgangspunkt der juristischen Argumentation der Richter, dennoch verändert sich auch das materielle Recht. Zunehmend werden neuere gesellschaftliche und technische Veränderungen berücksichtigt. Eine besonders interessante Rolle spielen hierbei Sachverständige, wie zum Beispiel Psychologen, durch die moderne Wissenschaft in das Rechtssystem einfließt. Gleichzeitig kritisieren Menschenrechtler im Strafrecht die harten Körperstrafen, wie etwa die öffentlichen Enthauptungen und die Auspeitschungen, die weiterhin regelmäßig vollzogen werden.
Fazit
Viele der beschriebenen Reformen sind Teil des ambitionierten Programms „Vision 2030“, das eine umfassende Neuordnung des Landes zum Ziel hat: Weg vom Öl und hin zu einer modernen Volkswirtschaft. Ob diese fundamentale Umstrukturierung Saudi-Arabiens gelingen wird, die sich der Thronfolger Muhammad bin Salman und viele junge Saudis wünschen, ist ungewiss. Zumindest das Justizsystem ist bereits transparenter geworden und auf dem besten Weg, stabiler und effizienter zu funktionieren.
Veröffentlicht unter CC NY NC ND 4.0.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielen Dank für diesen sehr informativen Einblick! In der Gesamtbewertung der saudischen „Justiz“ (?, lat. iustitia = Gerechtigkeit) überwiegt bei mir indes der Schrecken: Öffentliche Enthauptungen sind tiefes Mittelalter, auch wenn über sie digital per „Justiz“-App entschieden wird. Das von Saudi-Arabien praktizierte islamische Strafrecht ist barbarisch, das Zivilrecht mindestens rückständig, ungerecht und frauenfeindlich. Darüber kann keine Twitter-Akte hinwegtäuschen!
[…] DOMINIK KRELL reports how the law in Saudi Arabia is changing under the influence of the reformist Crown Prince Muhammad bin Salman. […]