von AMADOU SOW
An der Faktizität richterlicher Rechtsfortbildung ist nicht zu rütteln. Ob und wie das Richterrecht theoretisch zu fassen ist, es also beschreibbar oder gar begrenzbar gemacht werden kann, bleibt dagegen ein umkämpftes Dauerthema. Das BVerfG urteilte in diesem Bereich bislang „erkennbar zurückhaltend“ (Sanders JZ 2012, 1070, 1073). Der Beschluss des Ersten Senats des BVerfG v. 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 beinhaltet nun bemerkenswerte klare Aussagen zum Gesetzgeberwillen als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung.
In Zeiten offener Gesetzestexte und kaum einholbaren technischen Fortschritts ist Richterrecht notwendig. Überdies bleibt die Frage nicht nur Zeitvertreib für Rechtstheoretiker*innen. Denn Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG vermittelt ein subjektives Recht auf die Einhaltung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Richtige Richterrechtserzeugung ist also justiziabel.
Hinzu kommt: Die Grenzen des Richterrechts sind zugleich die Grenzen des Interpretationsspielraums der Fachgerichte. „Je weiter“ das BVerfG „die Interpretationsräume der Fachgerichte versteht, desto geringer sind seine eigenen verfassungsrechtlichen Interventionsmöglichkeiten.“ (Möllers JZ 2009, 668, 669).
Das BVerfG entscheidet über Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung
Der Beschluss des BVerfG vom 6. Juni 2018 betrifft § 14 Abs. 2 Satz 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG), wonach sachgrundlose Befristungen zwischen denselben Vertragsparteien auf die erstmalige Begründung eines Arbeitsverhältnisses beschränkt sind. Im Beschluss stellt sich das BVerfG gegen die bisherige BAG-Rechtsprechung, nach der eine sachgrundlose Befristung nur unzulässig sei, wenn eine Vorbeschäftigung weniger als drei Jahre zurückliege. Das BVerfG entschied nun: Grundsätzlich werde jede erneute sachgrundlose Befristung durch die Norm untersagt (s. zur Entscheidung insgesamt Eva Kocher, Sachgrundlose Befristung nur bei Ersteinstellung, VerfBlog 2018/6/19).
Im Folgenden wird der Fokus nicht auf die positivrechtliche Seite des Beschlusses gelegt, sondern auf den (rechtstheoretischen) dritten Leitsatz: „Richterliche Rechtsfortbildung darf den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen.“
Ein Blick auf die rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse zum Richterrecht kann die Entscheidung in ihren theoretischen Kontext einordnen.
Mythos Wortlautgrenze
Der „Wortlaut“ einer Norm bietet keinen Halt. Wörtern kommt keine inhärente Bedeutung zu. Bedeutung entsteht vielmehr aus einer Verbindung von Lauten, Verhaltensweisen, Kontexten u.v.m. Dasselbe gilt für Textbedeutung. Für das Recht folgt daraus: Die Idee einer „Subsumtion“ eines Sachverhalts unter einen Normtext muss verworfen werden. D.h. nicht, dass eine Bedeutungszuschreibung unmöglich ist – sie ist aber eben nur eine von vielen Zuschreibungen und speist sich aus mehr, als nur den Buchstaben einer Einzelnorm (s. zum ganzen I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, insbes. S. 27 ff.).
Zumindest für § 14 TzBfG erkennt das BVerfG in der Entscheidung an, dass sich kein Regelungsgehalt aus dem Wortlaut ergebe. Auch die Systematik in die Auslegung einzubeziehen, helfe nicht weiter (Rn. 78).
Stattdessen bemüht das Gericht die Gesetzesmaterialien: „Doch zeigen die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte, welche gesetzgeberische Konzeption der Norm zugrunde liegt. Sie dokumentieren die konkrete Vorstellung von Bedeutung, Reichweite und Zielsetzung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG, geben dessen Wortlaut (‚bereits zuvor‘) seinen Bedeutungsgehalt und ordnen so dem Gesetzeszweck ein Mittel der Umsetzung zu.“ (ebd.)
So wird zwar an der Vokabel vom Wortlaut festgehalten. In der Sache wird der Blickwinkel jedoch verbreitert, ähnlich wie es sich 2011 im Dreiteilungs-Beschluss (BVerfGE 128, 193) angedeutet hat: Die „interpretierte und konzeptionell erschlossene Norm“ wird Maßstab der Grenzziehung zur Rechtsfortbildung (so Bumke, Verfassungsrechtliche Grenzen fachrichterlicher Rechtserzeugung, 2009, S. 43 Fn. 45); der Schlüssel zur Erschließung ist der Gesetzgeberwille.
Realität Gesetzgeberwille?
Bemerkenswert ist, welche Materialien das BVerfG nun für maßgeblich befindet. Verwertbar seien „hier die Begründung des Gesetzesentwurfes (…), die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat (…) und Bundesregierung (…) und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse.“ Darin fänden sich „regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen“. (Rn. 74) Tatsächlich betrachtet das Gericht dann nur den Gesetzesentwurf der Bundesregierung (Rn. 82-84) und die Dokumente des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (Rn. 85). Dass das Gericht einschlägige Materialien zuvor nennt, könnte als Wegmarke die Zukunft gedeutet werden.
Als für die Normerschließung unbedeutende Materialien ausgeschlossen werden die Sachverständigenanhörung vor dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und die „Position der Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU“, weil sie „im Gesetz keinen Niederschlag“ fänden (Rn. 85). Dasselbe gelte für die Empfehlungen des Wirtschaftsausschusses des Bundesrats (ebd.). Die herangezogenen Materialien werden demnach ihrerseits auf ihre Relevanz für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens überprüft.
Für den konkreten Fall – die Frage nach der Bedeutung von § 14 TzBfG – wird damit nur der Gesetzesentwurf der Bundesregierung als maßgeblich gesehen, um ein „gesetzliche[s] Regelungskonzept“ (Rn. 87) zu ermitteln.
Mit diesem Vorgehen hat das Gericht den Gesetzgeberwillen als Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung bestärkt und Wege zu dessen Ermittlung gezeigt.
Es bedarf einer Hermeneutik des Gesetzgeberwillens
Der Blick auf die Gesamtkonzeption des Normprogramms wächst mit der Entscheidung des BVerfG an Bedeutung. Es bedarf einer Hermeneutik des Gesetzgeberwillens, um die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu bestimmen (Hermeneutik soll dabei als „Technik der Komplexitätsreduktion“ im Wege der „Selektion und Exklusion“ verstanden werden, Ladeur/Augsberg Rechtstheorie 36 (2005), 143, 146 f.).
Eine solche zu entwickeln ist ein schwieriges Unterfangen. Maßstäbe können aber gefunden werden, wie Wischmeyer beweist (JZ 2015, 957 und ders., Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, 2015): Für die Auslegung relevante Materialien müssen repräsentativ, transparent und konsistent sein. Ihnen muss außerdem eine Schlüsselstellung zukommen, d. h. sie müssen „bestimmte Zwischenschritte des Gesetzgebungsverfahrens dokumentieren“. (JZ 2015, 957, 964) Das führt zu einer Beschränkung im Umgang mit Materialien. Es bleiben „regelmäßig nur der ursprüngliche Gesetzesentwurf mitsamt Begründung und Stellungnahmen sowie die Beschlussempfehlung und der Bericht des Ausschusses“. (Wischmeyer, Zwecke, S. 394).
Die vom BVerfG in der Entscheidung aufgezählten Materialien decken sich im Wesentlichen mit den von Wischmeyer vorgeschlagenen. Dass das BVerfG in der Auswahl relevanter Gesetzesmaterialien zurückhaltend vorgeht, darf als richtig gelten. Auch stellt es eine Grenzüberschreitung richterlicher Rechtsfortbildung nach wie vor nicht leichtfertig fest. Umso beachtlicher ist die klare Entscheidung im Beschluss des BVerfG gegen die Rechtsprechung des BAG.
Ausblick
Es bleibt, zur Vorsicht zu mahnen. Die Materialien zum TzBfG waren deutlich. Wird das zukünftig einmal nicht der Fall sein, wird sich die Leistungsfähigkeit einer Hermeneutik des Gesetzgeberwillens unter widrigeren Umständen unter Beweis stellen müssen. „Ein Urteil bricht die Argumentationen (…) ab, insofern hält es den Lauf der Interpretation an. Aber nur für einen Moment. Es kommen weitere, andere, neue Urteile usw. usw. ‚Letztes‘ gibt es im Recht nicht.“ (Kiesow, Recht. Über strukturelle Irrtümer, 2013, S. 318)
Zitiervorschlag: Sow, Der Gesetzgeberwille als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung, JuWissBlog Nr. 68/2018 v. 3.7.2018, https://www.juwiss.de/68-2018/
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