Reflexionspotentiale aufbauen – darum geht es ja letztlich!

Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts PROF. DR. ANDREAS VOßKUHLE

AV WEB kleinJuWissBlog: Sehr geehrter Herr Voßkuhle, Anlass für einen Themenschwerpunkt auf unserem Blog und auch für dieses Gespräch ist der Bericht des Wissenschaftsrats zur deutschen Rechtswissenschaft vom vergangenen November. Sie haben sich schon häufig zu den Themen geäußert, die auch im Bericht angesprochen werden, und verkörpern an der Spitze des Verfassungsgerichts die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis in einer Person. Bevor wir uns inhaltlich mit dem Bericht befassen, möchten wir über den Bericht an sich sprechen. Mit ihm trägt nun erstmals ein externes Gremium die Forderung an die Rechtswissenschaft heran, sich in Forschung und Lehre zu ändern. Ist dieser Anstoß von außen berechtigt?

Voßkuhle: Ich finde es sinnvoll, wenn sich verschiedene Institutionen mit der Frage auseinandersetzen, wie wir Juristen ausbilden wollen und was gute Rechtswissenschaft ausmacht. Juristen übernehmen sehr häufig Ämter mit starkem Gemeinwohlbezug. Schon deshalb ist es wichtig, dieses Thema zu einer gesellschaftlichen Debatte zu machen.

Was, glauben Sie, ist das Anliegen des Wissenschaftsrates? Warum kommt der Bericht gerade jetzt? Am Anfang des Berichts steht beispielsweise, dass im Zuge der Europäisierung und Internationalisierung die Gefahr bestehe, dass die deutsche Rechtswissenschaft abgehängt wird. Ist diese Befürchtung gerechtfertigt?

Voßkuhle: Der Bericht betrifft Themen, die Rechtswissenschaftler schon längere Zeit beschäftigen. Wenn ich an meine persönlichen Erfahrungen und an Gespräche in meinem wissenschaftlichen Umfeld denke, so fällt mir auf, dass sich einiges verändert hat: Rechtsvergleichung ist zur Normalität geworden, es besteht ein größeres Interesse an interdisziplinärem Austausch und mit dem Europarecht ist ein großes neues Rechtsgebiet dazugekommen. Zudem hat die internationale Dominanz, die die deutsche Rechtswissenschaft über viele Jahrzehnte besaß, nachgelassen und es wird z.B. das amerikanische Rechts- und Wissenschaftssystem stärker rezipiert. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass verschiedene Institutionen auf die Idee kommen, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen, neben dem Wissenschaftsrat auch beispielsweise die VolkswagenStiftung. Ich denke, es werden noch weitere folgen.

Denken Sie, dass der Zeitpunkt vom Wissenschaftsrat bewusst gewählt wurde?

Voßkuhle: Die Themen des Berichts stehen jetzt oben auf der Tagesordnung. Sie werden aber in Wissenschaftskreisen bereits seit zehn, fünfzehn Jahren intensiver diskutiert. Wir diskutieren mehr über Fragen guter wissenschaftlicher Qualität und man setzt sich stärker mit Methodenfragen auseinander. Das hat es lange Zeit nicht gegeben, gerade nicht im Öffentlichen Recht. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis eine der großen Wissenschaftsorganisationen das Thema angeht.

Diskutiert wird das Thema tatsächlich schon lange und über Diskussionen hat sich sicherlich auch schon der Gegenstand zum Guten verändert. Aber warum kommt der Anstoß von außen und warum kommt der Ruck nicht von innen?

Voßkuhle: Zwar war die Diskussion bereits im Gange, aber Innovationen werden durch äußere Anstöße erleichtert. Aus meiner Sicht ist es unproblematisch, dass sich Akteure aus der Außenperspektive heraus mit dem Thema beschäftigen, solange sie nicht selbst über konkrete Änderungen entscheiden. Das wäre fatal. Insofern sehe ich den Bericht als Anregung.

Unser genereller Eindruck ist allerdings, dass der Ruf des Wissenschaftsrates bislang eher unerhört verhallt ist. Wie sollte die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht die Kritik des Berichts aufgreifen?

Voßkuhle: Die Themen sind weiterhin zu diskutieren, etwa auf Tagungen und in längerfristig organisierten Wissenschaftskreisen. Als Wissenschaftler selbst kann man seine Vorlesungen verändern und mit den Studierenden gemeinsam versuchen, zu experimentieren. Es muss einem aber klar sein, dass der eingeforderte Methodenwandel nicht von oben verordnet werden kann. Wir haben es mit einem langsamen Kulturwandel zu tun. Das Fach Rechtswissenschaft kann und sollte nicht mit allen Traditionen brechen, sondern diese müssen vielmehr sinnvoll fortentwickelt werden. Das Methodenbewusstsein innerhalb der Rechtswissenschaft ist nach meinem Eindruck insgesamt stärker geworden, und zwar sowohl in der Lehre als auch in der wissenschaftlichen Arbeit. Die bisherige Diskussion hat also schon Früchte getragen. Das Papier des Wissenschaftsrates wirkt insoweit verstärkend.

Methodische Offenheit und Interdisziplinarität in der Praxis?

Wir möchten gern erfahren, wie Sie sich als Praktiker zu den neueren Entwicklungen verhalten, die die Folie für den Bericht des Wissenschaftsrates sind. Uns ist in Ihrem publizierten Vortrag zum Leitbild des europäischen Juristen aufgefallen, dass Sie die Rolle des Juristen als aktiven Rechtsgestalter hervorgehoben haben. Sind Sie in Ihrer Position dort angekommen, wo uns das Leitbild hinführen soll?

Voßkuhle: Als Richter bin ich in einem ganz klassischen Bereich tätig. Das heißt, Sachverhalte, die abgeschlossen sind, werden nachträglich auf ihre Verfassungsgemäßheit überprüft. Das ist eine traditionelle juristische Perspektive, in der dieses gestaltende Element nicht oder jedenfalls kaum zum Tragen kommt.

Es kam nicht ganz unerwartet, dass Sie als Verfassungsrichter so antworten. Ganz wollen wir Ihnen das jedoch nicht abnehmen, dass Sie Recht schlicht anwenden.

Voßkuhle: Ich habe ja auch nicht gesagt, dass die Anwendung von Verfassungsrecht einfach ist. Wir müssen aus den eher spärlichen Aussagen des Verfassungstextes konkrete Obersätze entwickeln, anhand deren wir den Fall dann beurteilen können. Dabei werden komplexe dogmatische Gebäude errichtet. Was in den 130 Bänden unserer Amtlichen Sammlung festgehalten ist, steht ja nicht alles bereits so ausdrücklich im Grundgesetz. Folgenerwägungen mögen mitunter eine Rolle spielen, im Kern bleibt unsere Tätigkeit aber eine nicht-prospektive. Die richterliche Perspektive beim Bundesverfassungsgericht unterscheidet sich insofern nicht wesentlich von der Perspektive eines Fachrichters an einem anderen Bundesgericht wie dem BGH oder dem Bundesverwaltungsgericht. Richtig ist freilich, dass die Konkretisierung von Verfassungsrecht besonders wertungsanfällig ist und unsere Entscheidungen große, oft auch politische Bedeutung besitzen.

Der Wertungsanfälligkeit und Bedeutung unserer Entscheidungen trägt im Übrigen eine besondere Qualitätssicherung Rechnung, die darin besteht, dass Juristen aus unterschiedlichen Milieus in einem Senat zusammenkommen und gemeinsam einen Fall lösen müssen. Schon der Verwaltungsrichter denkt anders als ein Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Dieser denkt wiederum anders als ein Wissenschaftler und natürlich auch anders als z.B. ein Rechtsanwalt oder ein ehemaliger Politiker. Wir sitzen häufig über Wochen und Monate zusammen und müssen gemeinsam zu einer Lösung gelangen. Das ist extrem anspruchsvoll und erfordert die Bereitschaft, sich auf andere Perspektiven einzulassen. Es erfordert auch die Bereitschaft, zu erklären, warum man in einem Fall so argumentiert, warum man das eine Argument für wichtiger hält als das andere. Diese Arbeitsweise führt zu ausgewogenen Lösungen, weil Lebenserfahrungen aus unterschiedlichen Bereichen und unterschiedliche professionelle Sozialisationen eine Rolle spielen. Die Einigung ist häufig ein zäher Prozess, aber ich habe den Eindruck, dass es den Entscheidungen gut tut. Die Bürgerinnen und Bürgern müssen uns verstehen und Politik, Verwaltung und Fachgerichte müssen unsere Entscheidungen verarbeiten können. Diese – wie ich es gerne nenne – Anschlussfähigkeit der Entscheidung ist eines ihrer wichtigsten Qualitätsmerkmale.

Der Wissenschaftsrat fordert mehr Interdisziplinarität, Empirie, Rechtsvergleichung, Grundlagen. Wird das auch vom Bundesverfassungsgericht ausreichend umgesetzt oder besteht Nachholbedarf?

Voßkuhle: Nachholbedarf sehe ich nicht. Auch wir machen das. Nehmen wir das Beispiel des „Deals“. Wir haben eine große rechtstatsächliche Studie in Auftrag gegeben, um uns mit der Rechtswirklichkeit vertraut zu machen; da ist die Empirie. Auch an Interdisziplinarität besteht kein Mangel. Zu den Entscheidungen im Zusammenhang mit der Eurorettung und der Griechenlandhilfe haben wir viele Ökonomen befragt. Überhaupt laden wir häufig sachkundige Personen zu einer mündlichen Verhandlung ein, die uns aus ihrer fachlichen Perspektive über Aspekte des Sachverhalts aufklären. Man muss dazu in der Lage sein, fachfremde Expertise zu verstehen und richtig einzuordnen. Der Richter muss das lernen, was mein Kollege Landau bei einer mündlichen Verhandlung einmal anschaulich als Schlüssigkeitsprüfung beschrieben hat. Er meinte, er sei zwar kein Ökonom, er verstehe sich aber ziemlich gut auf Schlüssigkeitsprüfungen. Aus dieser Grundhaltung heraus befragen wir Experten, durchaus kritisch. Hier zeigt sich die Qualität der Vernetzung unterschiedlicher Wissensbereiche und unterschiedlicher Disziplinen.

Rechtsvergleichung spielt traditionell eine wichtige Rolle. In größeren Verfahren informieren wir uns regelmäßig, wie die Probleme des Falles in anderen Rechtsordnungen gelöst werden. Es gibt oft größere Einzelgutachten, in denen aufgearbeitet ist, wie eine Rechtsfrage etwa in anderen EU-Mitgliedstaaten gehandhabt wird. Das schlägt sich indes im Entscheidungstext nur selten nieder.

Was wir eher vermeiden, sind Theoriendiskussionen, weil wir dort schnell auf Abwege und Streitfelder geraten können, auf denen keine Einigung mehr möglich ist. Ich erinnere mich an den Ausruf eines Kollegen während der Beratung, der einen eher theoretischen Diskussionsbeitrag mit den Worten kommentierte: Wenn Sie jetzt noch Hegel zitieren, verlasse ich den Raum! Die Konzentration auf den konkreten Fall ist für uns insofern sehr hilfreich. Das schließt Hintergrundreflexionen selbstverständlich nicht aus. Sie werden allerdings selten explizit thematisiert, wenn wir über die Lösung des Falles sprechen.

Sie erwähnten das Urteil zum Deal im Strafprozess. Es fällt auf, dass da viel Empirie auftaucht, aber keine Rechtsvergleichung, obwohl es hier doch nahegelegen hätte, ins Ausland zu schauen.

Voßkuhle: Der Berichterstatter hat tatsächlich eine große, eigenständige rechtsvergleichende Studie erarbeitet. Dass wir rechtsvergleichende Überlegungen schließlich nicht in die Entscheidung haben einfließen lassen, hat einen einfachen Grund: Die Strafrechtssysteme sind zu unterschiedlich. Denken Sie etwa an den US-amerikanischen Strafprozess: Sie können zwar sagen, da wird umfangreich gedealt, aber das dahinter stehende Verfahrensverständnis ist ein ganz anderes als unseres. Wir hätten lediglich feststellen können, dass es in anderen Ländern, die auch demokratische Verfassungsstaaten sind, einen ganz anderen Strafprozess gibt als bei uns.

(das Gespräch führten Stefan Martini und Tina Winter)

[Teil II des Interviews zur Aktualität der juristischen Methode, zur guten wissenschaftlichen Praxis und zur Überforderung in der Rechtswissenschaft]

[Teil III des Interviews zu Veränderungen in der Forschungs- und Lehrkultur sowie zu Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses]

 

Andreas Voßkuhle, BVerfG, gute wissenschaftliche Praxis, Interdisziplinarität, Interview, Stefan Martini, Tina Winter, Wissenschaftsrat
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