Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts PROF. DR. ANDREAS VOßKUHLE
Neue Lehr- und Forschungskultur?
JuWissBlog: Am Leitbild der juristischen Bildung ausgerichtet, hat der Wissenschaftsrat auch in der Lehre Änderungen angemahnt. In Ihrem „Leitbild-Aufsatz“ aus dem Jahr 2010 fordern auch Sie mehr Transnationalität, Interdisziplinarität und Grundlagenorientierung. Sie betonen aber gleichzeitig – genauso wie der Wissenschaftsrat – die durch das Examen abgesicherte Qualität der deutschen Juristen. Ist das nicht inkonsequent, wird das eine nicht gegen das andere ausgespielt? Die Prüfung hat eine stark steuernde Wirkung auf das Lernverhalten der Studierenden. Das nimmt den Lehrenden die Möglichkeit, in der Lehre Grundlagen und Interdisziplinarität abzubilden.
Voßkuhle: Es gibt doch sehr viele Schwerpunkte, die einen Grundlagenbezug haben, etwa wenn ich an meine Heimatuniversität in Freiburg denke.
Der Stoff für das Staatsexamen ist stärker einer klassischen juristischen Perspektive verpflichtet, aber die Vorbereitungszeit liegt bei zwei, drei Semestern und ein Studium dauert mindestens acht Semester. Sie haben noch fünf Semester, in denen Sie sich umschauen können. So stelle ich mir das jedenfalls vor und so habe ich auch selbst studiert. Sicherlich unter glücklichen Umständen, mit akademischen Lehrern, die mich gefördert und mein Interesse geweckt haben für bestimmte Fragen. Ich persönlich finde es wichtig, nicht schon in den ersten Semestern die Examensperspektive einzunehmen, sondern sich außerhalb einer begrenzten Examensvorbereitungszeit verstärkt mit den Grundlagen des Rechts zu beschäftigen. Ich könnte mir auch etwa vorstellen, dass drei Seminarscheine Voraussetzung sind, um überhaupt für das erste Examen zugelassen zu werden.
Wer trägt denn die Verantwortung dafür, dass so studiert wird? Die Studierenden selbst? Müssen die Fakultäten Stellschrauben drehen oder müssten die Prüfungsgegenständeverordnungen neu konzipiert werden?
Voßkuhle: Für positive Veränderungen bedarf es – so glaube ich – keiner großen Revolutionen. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, das Staatsexamen von der Stoffmenge zurückzuführen, es etwas übersichtlicher zu machen, aber es in der Struktur beizubehalten. Keine Frage: Es ist eine unglaublich schwere Prüfung. Diese hohen Anforderungen haben aber dazu geführt, dass eine gute Note im Staatsexamen weiterhin alle beruflichen Türen öffnet und die deutschen Juristen weltweit ein enormes Ansehen genießen. Was man sich in der Examenslernphase an methodischem Rüstzeug erarbeitet, weil man den Stoff nicht schlicht auswendig lernen kann und es auf die Anwendung ankommt, qualifiziert einen in ganz besonderer Weise später für den juristischen Alltag. In dieser Form erhebliche Teile des geltenden Rechts zum Gegenstand eine Prüfung zu machen, führt dazu, dass Methodenverständnis, Strukturwissen und analytische Fähigkeiten im Vordergrund stehen.
Was die Stärkung der Grundlagen angeht, ist man mit den Schwerpunktbereichen auf dem richtigen Weg. Sie sollten nur nicht zu stark zu einer Verschulung des Studiums führen. Im Studium sind auch akademische Freiräume zu eröffnen. Wenn man permanent mündliche Prüfungen ablegt oder Klausuren schreibt, hat man als Studierender nicht mehr die Chance, Reflexionspotentiale aufzubauen, und darum geht es ja letztlich. Man braucht Zeit und Muße, um sich in bestimmte Fragen zu vertiefen.
Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses
Lassen Sie uns zum Schluss die Perspektive des wissenschaftlichen Nachwuchses einnehmen. Der Wissenschaftsrat empfiehlt hier eine stärkere Offenheit für alternative Karrierewege, die z.B. Phasen praktischer Tätigkeit oder Familienzeiten enthalten, für die Juniorprofessur und die kumulative Habilitation. Was halten Sie von diesen „krummen“ Wegen?
Voßkuhle: Es erscheint mir sinnvoll, hier zu diversifizieren. Die Vorstellung, nur wer den klassischen Weg durchläuft – also Promotion und Habilitation gerade hintereinanderreiht –, wäre ein guter Professor, trifft nicht zu. Ein Wissenschaftler mit Praxiserfahrung kann auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen. Auch solche Personen braucht es als Hochschullehrer. Das kann zwar zur Folge haben, dass die Qualifikationen nicht mehr so gut zu vergleichen sind. Ich glaube aber, dass man mit diesem Nachteil leben kann.
Es ist aber Vorsorge zu treffen, dass eine Öffnung der Hochschulen für unterschiedliche Karrierewege nicht als eine Absenkung des Qualitätsstandards fehlinterpretiert wird. Eine Öffnung zieht es nach sich, stärker als bisher für die Qualitätssicherung Sorge zu tragen. Das setzt voraus, dass wir uns intensiver als bisher über die Anforderungen an gute Wissenschaft verständigen.
Wir hatten auch die kumulative Habilitation in der Auflistung erwähnt. Hier könnte man vermuten, dass dieser Weg in der deutschen Rechtswissenschaft eher auf Ablehnung stößt.
Voßkuhle: Ich wäre für eine größere Öffnung. Man muss dann versuchen, die Qualität über andere Maßnahmen zu sichern. Das gilt auch für eine kumulative Habilitation. Es gibt eine Reihe von bedeutenden Rechtswissenschaftlern, die eine kumulative Habilitation abgeliefert haben. Umgekehrt sollten wir ehrlich sein: Vielen juristischen Habilitationsschriften sieht man es an, dass es sich um Berufszulassungsarbeiten handelt – handwerklich sauber, fleißig, ausführlich und weitgehend uninspiriert – und manche sind mit gutem Grund nicht veröffentlicht worden. Gleichwohl halte ich den traditionellen Weg – wenn die Rahmenbedingungen stimmen – immer noch für einen guten Weg. Keinesfalls darf das Professorenamt zu einer Selbstverständlichkeit werden. Das wäre weder für die Studierenden noch für die Universitäten erstrebenswert. Wer dort lehrt, soll gezeigt haben, dass sie oder er in diesem Fach Besonderes zu leisten imstande ist.
Im Wissenschaftsrats-Bericht liest man deutliche Zahlen: 40% der Promovenden sind Frauen, aber nur noch 16% der Professuren werden von Frauen besetzt. Wir vermuten, dass es um das Öffentliche Recht noch schlechter bestellt ist. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass Frauen seltener bereit sind, beispielsweise auf unserem Blog zu veröffentlichen. Wie kann man Frauen besser fördern?
Voßkuhle: Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass jene Organisationen am besten funktionieren, in denen Frauen und Männer in etwa gleicher Zahl arbeiten. An den meisten Fakultäten ist das leider nicht der Fall. Trotz mancher Bemühungen ist die Situation immer noch prekär. Man kann nur versuchen, weiterhin durch Förderung, entsprechende Stipendien und letztlich durch eine Veränderung der Qualifikationswege an ihr etwas zu ändern.
Ich betreue aktuell zwei Habilitandinnen. Eine ist Juniorprofessorin, die andere war zwischendurch längere Zeit in der Praxis und forscht nun auf einer Stelle, die von der DFG gefördert wird. Ich sehe also die spezifischen Herausforderungen, die zu bewältigen sind. Wer dann vielleicht noch eine Familie gründen will, der hat es tatsächlich schwer. Die Rahmenbedingungen verhindern oft, dass Frauen sich auf den Weg machen, obwohl sie die Wissenschaft bereichern würden. Dadurch, dass es so wenige gibt, gibt es auch wenige Karrieren, mit denen sich Studentinnen und junge Wissenschaftlerinnen identifizieren können. Das alles empfinde ich teilweise als richtig bedrückend.
Der Wissenschaftsrat hat auch eine neue Form des Forschens vor Augen: Man sitzt nicht mehr allein am Schreibtisch, sondern entwickelt mit anderen gemeinsam Projekte. Ist es notwendig, auch schon die Qualifikationsphase neu zu strukturieren?
Voßkuhle: Gemeinsames Forschen wird auch in der Rechtswissenschaft häufiger werden. Das hat mit dem genannten Streben nach Interdisziplinarität zu tun und damit, dass nicht jeder die erwähnte „eierlegende Wollmilchsau“ sein kann. Der einzelne Wissenschaftler ist auf die anderen angewiesen, um den zahlreichen Perspektiven auf einen Gegenstand gerecht zu werden. Ungeachtet dessen werden weiter in der Rechtswissenschaft viele große Arbeiten allein am Schreibtisch geschrieben werden. Und das ist auch gut so! Es wäre aber sicherlich hilfreich, wenn man schon in frühen Phasen, etwa in der Assistentenzeit, in Forschungsprojekte eingebunden ist. Das geschieht mancherorts schon, kann aber noch verstärkt werden, beispielsweise durch entsprechende Stipendien und Förderungen.
Wir haben uns gefragt, wie man die Forderungen des Wissenschaftsrates auch im eigenen Arbeiten umsetzen kann. Muss man sich – sowohl bei Themen als auch bei Publikationsformen – mehr zutrauen, mehr Risiko eingehen, z.B. auf unserem Blog veröffentlichen oder in ausländischen Zeitschriften oder in Form von Working Papers?
Voßkuhle: Schwierige Frage! Wenn man es selbst geschafft hat, ist es leicht, zu mehr Risikobereitschaft zu raten. Man geht vielleicht aber ein zu großes Risiko ein, wenn man auf traditionelle Publikationsformen vollkommen verzichtet. Ich empfehle deshalb, es mit einer Mischstrategie zu versuchen: also einerseits herkömmliche Erwartungen zu erfüllen, um zu zeigen, dass man sein Handwerk beherrscht und andererseits bewusst von bestehenden wissenschaftlichen Konventionen abzuweichen. Wer nur versucht, den sicheren Weg zu gehen, dem fehlen die Neugier und der intellektuelle Wagemut, den gute Wissenschaft letztlich primär auszeichnet.
JuWissBlog: Vielen Dank für das Gespräch.
(das Gespräch führten Stefan Martini und Tina Winter)
[Teil I des Interviews zu Funktion des Berichts des Wissenschaftsrats und zur methodischen Offenheit des Bundesverfassungsgerichts]
[Teil II des Interviews zur Aktualität der juristischen Methode, zur guten wissenschaftlichen Praxis und zur Überforderung in der Rechtswissenschaft]