Interview im Rahmen der 58. Assistententagung Öffentliches Recht in Regensburg
von JUWISS-REDAKTION
Mögen die Spiele beginnen! Im Rahmen des feierlichen Eröffnungsabends führte der Regensburger Emeritus Prof. Dr. em. Udo Steiner, Richter am Bundesverfassungsgericht a.D. mit seinem Festvortrag „Richterliche Rechtsfindung und die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht“ in das Thema der diesjährigen Assistententagung „Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht“ ein. In seiner pointenreichen Rede beschäftigte er sich mit dem Verhältnis zwischen der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung und der deutschen Staatsrechtslehre. Wir haben die Gelegenheit genutzt, ihm ein paar weiterführende Fragen zu stellen.
JuWiss: Die diesjährige Assistententagung steht unter dem Oberthema „Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht“. Wann und warum haben Sie sich in Ihrer juristischen Karriere das erste Mal mit dem Thema und den Realitäten richterlicher Abhängigkeit auseinandergesetzt?
Steiner: Seltsamerweise im Rahmen meiner richterlichen Tätigkeit nie: als Richter des OVG nicht, weil ich im Hauptamt Hochschullehrer war, aber auch als Richter des BVerfG nicht. Man ist auf 12 Jahre gewählt. Es gibt keine Wiederwahl und es gibt auch keine Rückkehr in das Amt. Dies ermöglicht Unabhängigkeit.
JuWiss: Die Auseinandersetzung mit den (empirischen) Umständen richterlicher Entscheidungsfindung hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur lange keine bedeutende Rolle gespielt und war vor allem Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen vorbehalten. Liegt eine Befassung hiermit überhaupt innerhalb des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses? Oder sollte sich die Rechtswissenschaft darauf beschränken, normative Maßstäbe für die Arbeit der Judikative zu entwickeln?
Steiner: Es gibt durchaus kluge, analytisch ertragreiche Beiträge zu den (empirischen) Umständen richterlicher Rechtsfindung auch aus der Feder von Rechtswissenschaftlern. Es dominiert aber in unserem Fach naturgemäß die Rechtsdogmatik. Methodisch sind uns die Politikwissenschaftler und Soziologen (gleich welchen Geschlechts) überlegen. Es bereichert, ihre Studien zu lesen (die Arbeiten der Ökonomen eingeschlossen).
JuWiss: Auch in der Juristenausbildung dominiert nach wie vor eine normative Perspektive. Jungen Student*innen wird der Wert richterlicher Unabhängigkeit vermittelt, die tatsächlichen Umstände richterlicher Entscheidungsfindung aber werden allenfalls in Wahlseminaren behandelt. Bereits 2012 hat der Wissenschaftsrat angeregt, dass sich auch Jurastudent*innen stärker mit nachbarwissenschaftlichen Erkenntnissen befassen sollten, um die Reflexivität in Bezug auf das eigene Fach zu erhöhen. Glauben Sie, dass eine Auseinandersetzung mit dem Thema richterlicher Abhängigkeit einen festen Platz in der juristischen Ausbildung – im Studium oder im Referendariat – haben sollte?
Steiner: Ich denke, die Auseinandersetzung mit den empirischen Grundlagen richterlicher Rechtsfindung gehört im Schwerpunkt zur juristischen Ausbildung im Referendariat. Sie ist Teil der Befassung mit der Architektur unseres Gerichtswesens und benötigt die Anschauung der Praxis. Zum Jurastudium ist festzuhalten: Man kann es mit Wissen aus den sog. Nachbarwissenschaften anreichern, dann ist man aber auch gehalten zu sagen, was an juristischem Stoff zum Ausgleich entfällt. Auch stellt sich im Jurastudium das Problem, das wir, was die sog. Grundlagenfächer betrifft, bisher nicht lösen konnten: In welchem Studienabschnitt setzt die Begegnung mit Wissen aus diesen Disziplinen ein? Am Anfang des Studiums ist es zu früh, weil man das geltende Recht noch nicht kennt, und kennt man das geltende Recht, ist es zu spät, weil das Examen bevorsteht.
JuWiss: Sie haben die Realität der Arbeit als Richter selbst erlebt, zunächst von 1976 bis 1979 als Richter am Oberverwaltungsgericht und dann von 1995 bis 2007 als Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Inwieweit ist man sich als Richter der eigenen „Abhängigkeit“ bewusst und beeinflusst dieses Bewusstsein die Art und Weise, wie man selbst andere Gerichtsentscheidungen wahrnimmt?
Steiner: Bereits wie zu Frage 1: Das Gefühl der Abhängigkeit hatte ich als Richter zu keinem Zeitpunkt. Aber das Thema hat natürlich viele diskussionswürdige Aspekte: Richter auf Probe, Richter auf Zeit, Karriererichter und Beförderung, Beurteilungswesen, Richterwahl.
JuWiss: Einer der Vorträge auf der diesjährigen Assistententagung beschäftigt sich mit dem Thema „Rechtsprechung im medialen Kommunikationszeitalter“. Im Laufe Ihrer Amtszeit als Bundesverfassungsrichter hat sich das Internet zu einem globalen Massen- und Informationsmedium entwickelt. Inwiefern hat diese Entwicklung die Arbeit am Gericht verändert? Stellt der hierdurch beschleunigte Informationsfluss eine Herausforderung für die Unabhängigkeit der Richter*innen dar? Auch passen sich Suchalgorithmen heute an ihre Nutzer an. Beeinflussen die daraus erwachsenden selektiven Realitäten Ihrer Meinung nach die Unabhängigkeit der Richter*innen?
Steiner: In meiner Zeit in Karlsruhe (1995 bis 2007) war die Frage noch nicht so präsent wie heute. Die Entscheidungsfindung im Senat und in der Kammer erfolgte auf der Grundlage des Aktenstudiums, ggf. aufgrund von Erkenntnissen in einer mündlichen Verhandlung und durch Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und wissenschaftlicher Literatur. Internetwissen war nicht Gegenstand der Beratung. Dies mag heute anders sein.
JuWiss: Zum Schluss: Gibt es etwas, was Sie der jungen Wissenschaft im Öffentlichen Recht mit auf den Weg geben möchten?
Steiner: Der Weg zum Lehrer des Rechts an einer Hochschule im Hauptamt ist länger und anspruchsvoller als in anderen juristischen Berufen. Wer ihn begeht, muss sich, die akademischen Qualifikationen erfolgreich erworben, einem bundesweiten Wettbewerb stellen. Gleichwohl möchte ich dazu ermutigen, diesen Weg zu gehen. Erlaubt unbescheiden: Die Juristenwelt kennt keinen schöneren Beruf.
Die Fragen stellte Nico Schröter