von JAN BENJAMIN DANIELS und STEFAN MARTINI

daniels_janStefan-MartiniOder doch eher: Warum Recht? Schon bei der Frage, wie die den Titel der 20. Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie (jfr) gebende Frage formuliert sein sollte, zeigte sich die Diskussionsfreude der Ausrichter, Vortragenden und Teilnehmer. Die Bedeutungsvariante des „Warum?“ richtet das Augenmerk auf die Begründung, die des „Wozu?“ stärker auf die Funktionen von Recht.

Beatrice Brunhöber (HU Berlin) erläuterte zu Beginn für die Organisatoren (neben ihr Ariane Grieser (HU), Sabine Müller-Mall (HU), Juliane Ottmann (FU) und Tim Wihl (HU)), dass mit der Betitelung „Wozu Recht“ praktisch rückwirkend das Fundament der 19. Jahrestagung in Münster (die den Titel „Recht und Frieden“ trug) gelegt werde. Nach begrüßenden Worten der jfr-Sprecher Carsten Bäcker (Kiel) und Sascha Ziemann (FFM) begann sodann der wissenschaftliche Teil.

Zunächst trug Philipp-Alexander Hirsch (Göttingen) über „Die Herausforderung des Kallikles: Gedanken zur Konventionalität des Rechts bei Platon und Nietzsche“ vor. Seines Zeichens Kantist, wusste Hirsch die Zuhörerschaft durch seinen engagierten Vortragsstil zu begeistern. Wenngleich er sich die Ansichten Nietzsches in der Diskussion nicht zu Eigen machen wollte, vertrat er sie aufgrund seiner Vortragsposition doch mit Verve. Oliver Leopold Bach (München) referierte anschließend aus linguistischer Perspektive zu seinem Thema „Wozu Recht? – Warum Recht! Zum vernunftrechtlichen Paradigmenwechsel“. Im Folgenden zeigte Michael Städtler (Münster) „Zweck und Funktion von Recht“ auf, seine historische Herleitung zeigte den Wandel des Rechtszwecks vom Guten („die Menschen gut zu machen“, Thomas von Aquin) über die Verfolgung privater Interessen zum Verlust jeden Zwecks, infolge dessen die Definition des Rechts als bloße soziale Technik bei Kelsen oder gesellschaftliche Funktion bei Luhmann, auf.

Interdisiziplinäre Irritationen

Ein spannender Aspekt der diesjährigen jfr-Tagung war die Irritation der Rechtsphilosophie durch Perspektiven von Nachbardisziplinen. Sie förderten zu Tage, wie sehr man methodische Grundprämissen selbst reflektieren sollte. Rechtssoziologin Ulrike Müller (FU) interpretierte in ihrem Vortrag den Titel der Tagung funktional und fragte aus einer empirischen Warte nach dem ‚Potential eines politischen Verständnisses‘ von Rechtspraxis. Zunächst unterschied sie dazu die Perspektive, wozu Recht genutzt werden kann, von der, wozu Recht genutzt werden sollte. Während letztere klassische Rechtsbegründungsanstrengungen erfasst, ist erstere auf empirisches Wissen angewiesen. Diese Zweiteilung hat auch eine zeitliche Teilung zur Folge: Abstrakte Begriffe der Grundlagenbeschäftigung mit dem Recht müssten vor ihrer unreflektierten Verwendung auf ihre empirische Relevanz und Valenz untersucht werden.

In der Beobachtung der Mikropraktiken des Rechts könne man zudem die Selbstbeschreibung der Rechtsakteure, die politische und rechtliche Maßstäbe streng voneinander scheidet, überschreiten. Dies würde das Politische an der Rechtspraxis offenlegen: Z.B. Gerichtsurteile würden nicht bloß Recht anwenden, sondern „Gestaltungswirkung“ haben und gesellschaftliche Machtverhältnisse beeinflussen. Diese Melange der Sphären von Recht und Politik wendete Müller in emanzipatorischer Absicht: Individuelle Akteure könnten nicht nur Prozesse der Politik, sondern auch des Rechts mobilisieren, um Machtverhältnisse zu ändern. Konkret erinnerte sie an engagierte Rechtsanwälte, denen es schrittweise gelungen ist, Vorurteile in der Justiz in Fragen sexueller Gewalt zu lockern.

Angesichts dieser Konzeption überraschte Müller, als sie mit der Unterscheidung der Funktion von Richtern und Anwälten am Ende ihres Referates die Trennung von Recht und Politik wieder stärkte. Außerdem schied sie auf Nachfrage Demonstrationen aus ihrem Begriff des Rechts aus. Dabei ließen sich hier auch außerhalb der Prozeduren des Rechts Einflussnahmen auf Rechtsverständnisse untersuchen. Einige Nachfragen wollten Müller Aussagen über Legitimationsprobleme der beteiligten Akteure und Institutionen entlocken; diese schied sie jedoch aus ihrem Forschungsinteresse aus.

Bettina Noltenius (Bonn) beantwortete anschließend die Frage „Lässt sich Strafrechtszwang gegenüber einzelnen Bürgern auf europäischer Ebene legitim begründen?“, den Anstoß ihrer Überlegungen bildeten die Rechtssetzungsbefugnisse der Europäischen Union in strafrechtsrelevanten Bereichen sowie die Pläne zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Sodann untersuchten Christopher Weigand (Berlin) und Maria von Weizsäcker (Berlin), ob „Recht als Wunderwaffe für gesellschaftlichen Fortschritt“ bezeichnet werden kann. Hierbei stellten sie die Bedeutung des Begriffes „Rechtsstaat“ für die Ziele der Weltbank und der Vereinten Nationen dar, um daraufhin zu ergründen, ob der Begriff inzwischen eine „moderne Ideologie“ beschreibe.

Den Auftakt der Vorträge am Freitag machte Sinthiou Buszewski (Münster) mit der Frage „Wozu Rechtspersönlichkeit?“, wobei sie Kant hinzuzog, die Frage zu beantworten. Der Zweck des Rechts, die Freiheit sich gegenseitig anerkennender Rechtspersonen zu sichern, zwänge dazu, im Völkerrecht Rechtspersönlichkeit neben traditionell Staaten auch Individuen zuzuerkennen. Der anschließende rege Austausch mit dem und im Publikum zeigte, dass hier ein Interessenschwerpunkt des Publikums getroffen worden zu sein schien.

Sprachlicher, rechtlicher und methodischer Pluralismus

Es folgte ein Novum in der Geschichte des Jungen Forums Rechtsphilosophie: Es fand eine englischsprachige Podiumsdiskussion zu ‚Legal Pluralism‘ statt, auf der die Frage der Trennung von wertfreier Analyse und normativ geprägter Bewertung – und die Frage, ob sie überhaupt durchführbar ist – aufgegriffen wurde. Alexandra Kemmerer vom Programm „Rechtskulturen“ des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Kooperationspartner der Tagung, moderierte das Panel von Ralph Seinecke (FFM), Tim Wihl (HU) sowie Moritz Renner (Bremen). Auch hier trafen andere Perspektiven auf die versammelten Rechtsphilosophen – vor allem in Gestalt der im Publikum anwesenden Fellows des Rechtskulturen-Programms, die die Disziplinen der Anthropologie sowie der Geschichtswissenschaft vertraten.

Seinecke betonte in seiner Vorstellung des Konzepts „legal pluralism“ die konstruktiven Unterstellungen betonte, wenn man mehreren konkurrierenden Normquellen gleichzeitig Rechtscharakter zuschreibt. Demgegenüber verteidigte Renner beharrlich seine analytische Herangehensweise, die – systemtheoretisch inspiriert – erst einmal wertfrei an Rechtsphänomene heranträte. Interessanterweise konnte man in beiden Konzeptionen auch einen normativen Schwenk entdecken. Renner sah es als Aufgabe der Rechtswissenschaft bei der Integration verschiedener Rechtsquellen Legitimitätsstandards zu entwickeln; Seinecke hob hervor, dass die Aufwertung kultureller Überzeugungen zu Recht ihnen mehr Gewicht in Abwägungsprozessen verleihen würde – wie man es bei der Beschneidungsdebatte sehen könne. Ein normativer Anklang tauchte im Übrigen auch bei Wihl auf, der in seinem Input Analogien zwischen pluralem Recht, dem Naturrecht und dem Rechtspositivismus aufdeckte. Der Voluntarismus des Rechtspositivismus sei u.a. dadurch charakterisiert, dass jemand etwas rational wolle.

Staat, Recht und Nächstenliebe

Die Grenzen der Verrechtlichung ergründete Stefan Klingbeil (HU) mit dem Thema: „Die juristische Konstruktion der Nächstenliebe“. Dies war insofern bemerkenswert, als ein Triptychon von Philosophie, Recht und Theologie den Horizont der Teilnehmer erweiterte. In einem ersten Schritt untersuchte er hierzu anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter die Konstruktion der christlichen Nächstenliebe. Indem der Mensch seinem Nächsten – in Anwendung christlicher Werte: einem Jedem – helfe, diene er vor allem Gott. Das Verhältnis sei also, wie Klingbeil feststellte, nicht direkt zwischen Mensch und Mensch zu finden, sondern „übers Eck“ [sic] Mensch-Gott-Mensch.

Sodann stellte er in einem zweiten Schritt die unterlassene Hilfeleistung im deutschen Recht (§ 323c StGB) dar. Neben den Bezug zur christlichen Nächstenliebe trat in diesem Schritt die Genese des § 323 c StGB. Sie zeige auf, so Klingbeil, dass auch hier eine Konstruktion „ums Eck“ erfolgen müsse. Gott (Nächstenliebe) sei jedoch durch den Staat (§ 323c StGB) ersetzt: § 323c StGB fordere den Verpflichteten nur scheinbar direkt – ohne Bezug weder auf Gott noch auf Staat – zur Handlung auf und erwecke so unzutreffender Weise den Eindruck, ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB zu sein. Die Vorfassung hingegen, die 1935 als § 330c StGB von den Nationalsozialisten eingeführt wurde (und unter anderem auf das „gesunde Volkempfinden“ Bezug nahm) strafe ebenfalls aufgrund des einfachen Unterlassens; darüber hinaus jedoch insbesondere, wenn der Verpflichtete trotz ausdrücklicher Anweisung durch die Polizei die Hilfe unterließ. Die Vorschrift aus dem Jahre 1871 (§ 360 Nr. 10 RStGB) ging sogar so weit, das Nicht-Hilfe-Leisten nur dann unter Strafe zu stellen, wenn dem Unterlassen eine ausdrückliche Aufforderung zur Hilfeleistung durch die Staatsgewalt vorangegangen war. Der Verpflichtete handle somit – sei es damals im Wortlaut einfach erkennbar oder heute in der Genese der Norm verborgen – als verlängerter Arm des Staates. Diese Verpflichtung finde also auch „übers Eck“, nämlich im Verhältnis Mensch-Staat-Mensch, statt.

Im letzten Schritt betrachtete Klingbeil, wie in den USA mit dem Samariter-Gleichnis umgegangen wird. Bemerkenswert sei insbesondere die Einsetzung der polis als Gottes- bzw. Staatsersatz und damit die Konstruktion: Mensch-polis-Mensch. Daraus folge, dass der – für die europäische Wahrnehmung gelegentlich befremdliche – Heroenmythos und die Scham als Werkzeuge der polis im angloamerikanischen Gesellschaftssystem zur Förderung der Nächstenliebebereitschaft dienen. Eine für die Diskussion sehr hilfreiche Synopse fasste die Untersuchungsergebnisse prägnant zusammen. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Distribution der Ehre durch den Staat, aber auch auf die Perversion des Gemeinnutzgedankens durch die Nationalsozialisten wurde Bezug genommen.

Schluss

Zuletzt trug Andreas Engelmann (FFM) zum Thema „Warum überhaupt Recht?“ vor, wobei er diese Frage wohl rhetorisch verstanden wissen wollte. In einem Parforceritt durch die Rechtsphilosophie, angereichert unter anderem durch Beispiele vom Fußballplatz, dem Bild des Rechts als eselhütendem Idioten, der Geschichte des 18. Kamels stellte er die Notwendigkeit des Rechts insgesamt in Frage, ohne sich – auch in der anschließenden Diskussion – etwa zu Thesen, die er in der (ob der gefühlten Perspektivlosigkeit) teils hitzigen Diskussion als generell „simplifizierend“ ablehnte, hinreißen zu lassen.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Vielfalt der akademischen Hintergründe der Vortragenden bereichernde Perspektiven auf die Rechtsphilosophie aufgezeigt hat. So wird auch die Auseinandersetzung mit dem von Disziplin zu Disziplin unterschiedlichen Wissenschaftsverständnis zum Element des philosophischen Diskurses. Mit der Themenwahl haben die Veranstalter eine inhaltlich breit gefächerte Vortragsauswahl ermöglicht, die – insbesondere in einer Gesamtschau mit den Vorträgen der 19. Jahrestagung – ein umfassendes Bild der Funktion und Begründung von Recht zeichnete.


Interdisziplinarität, Jan Benjamin Daniels, JFR, Nächstenliebe, Rechtsbegründung, Rechtsfunktion, Rechtsphilosophie, Stefan Martini
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