von SÖNKE E. SCHULZ
Offensichtlich ist die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte nicht in der Lage, hinreichenden Schutz im Internet zu vermitteln – droht eine Beeinträchtigung doch vor allem von ausländischen staatlichen Stellen, privaten Dritten und damit nicht unmittelbar grundrechtsgebundenen Akteuren. Im Netz sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, auf Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Meinungsfreiheit neuartigen Bedrohungen ausgesetzt. Cybermobbing, ungewollte Verwertung personenbezogener Daten, Zugriffe auf die Systeme der Nutzer durch Apps und Zensur in sozialen Netzwerken sind nur einige Problemfelder.
Grundrechtsfunktionen im Wandel
Vor dem Hintergrund dieser privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen gewinnen die Schutzfunktionen der Grundrechte sowie deren Drittwirkung an Bedeutung. Die Schutzfunktion beschreibt, inwieweit Grundrechtsträger Maßnahmen des Staates fordern können, die vor Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte durch Dritte schützen. Dieser Verpflichtung kann der Staat in vielfältiger Weise nachkommen. Selbst hinsichtlich fundamentaler Individualrechtspositionen ist ein weiter Einschätzungsspielraum anerkannt. In Konstellationen, die das Privatrechtsverhältnis betreffen, wird zudem relevant, inwieweit auch Private grundrechtsverpflichtet sind. In der Rechtsprechung ist eine mittelbare Drittwirkung anerkannt, was bedeutet, dass die Grundrechte als objektive Werteordnung auch das Verhältnis der Bürger zueinander prägen und im Rahmen auslegungsbedürftiger Vorschriften des Zivilrechts Berücksichtigung finden müssen. Eine weiterreichende unmittelbare Wirkung wird abgelehnt – selbst in Verhältnissen, die von erheblichen Machtungleichgewichten geprägt sind, dem Verhältnis Bürger-Staat nahekommen und öffentliche Räume im Internet betreffen.
Charakteristika des Internets erschweren (national-)staatliche Reaktionen
Wie kann nun aber die Schutzpflichtdimension der Grundrechte aktiviert werden, um den Schutzdefiziten im Internet zu begegnen? Dabei ist zunächst festzustellen, dass ein solches Schutzdefizit bei einer rein nationalstaatlichen Betrachtung nicht bestünde. Die deutsche Rechtsordnung ist derart von der grundrechtlichen Werteordnung durchdrungen und beeinflusst, dass es – soweit diese anwendbar ist – in der Regel nicht einmal eines Rückgriffs auf verfassungsrechtliche Positionen bedarf, um verfassungsentsprechende Verhältnisse unter Privaten herzustellen. Wenn es um die Beziehungen zwischen Anbietern und Nutzern geht , sind es u. a. das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, BDSG, TKG und TMG, die den notwendigen Interessenausgleich sichern. In Fallkonstellationen, in denen es um unfreiwillige Einbußen an individuellen Rechtspositionen geht, wäre ebenfalls kaum weitergehender Handlungsbedarf auszumachen: strafrechtliche Sanktionen, urheber- und zivilrechtliche Unterlassungsansprüche sind im geltenden Rechtsrahmen vorhanden. Für den hypothetischen Fall der Beherrschbarkeit des Internets durch einen Nationalstaat käme es auch nicht zu Durchsetzungsdefiziten.
Angesichts der Charakteristika des Internets (Staatsferne, Anonymität, Unkörperlichkeit, Globalität und Ubiquität und technische Komplexität) ist die Steuerungskraft nationalen Rechts jedoch in vielen Fällen nicht gegeben. Die Mehrzahl der relevanten Kommunikationsbeziehungen im Internet ist nicht rein national zu erfassen. Die Bedrohungsszenarien unterfallen nicht der deutschen bzw. europäischen – damit grundrechtlich geprägten – Rechtsordnung, können nicht über unmittelbar verfassungsrechtlich fundierte Rechtsinstitute befriedet werden und bewegen sich oftmals nicht einmal in einer konsentierten außerrechtlichen, sozial-ethischen Grundvorstellung.
Zurückgehende Bedeutung des Rechts als Handlungsoption
Das Recht als Steuerungsressource rückt immer mehr in den Hintergrund. Einerseits unterliegen viele Sachverhalte nicht ausschließlich dem deutschen, unter Umständen nicht einmal dem europäischen Rechtsregime, andererseits fehlen effektive Durchsetzungsmöglichkeiten. Die überkommenen Handlungsinstrumente sind im digitalen Raum nicht nur ineffektiv, sie sind überdies zum Teil auch rechtlich wie tatsächlich unmöglich. Diese Erkenntnis bedeutet nicht, dass der Staat in zulässiger Weise untätig bleiben darf. Der Staat muss den Wandel berücksichtigen und andere Instrumente als in der Vergangenheit in den Mittelpunkt rücken. Es besteht ein weiter Ermessenspielraum, wie der Staat seiner Schutzverpflichtung nachkommen kann. Zu diskutieren ist deshalb, welche Maßnahmen in Erfüllung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags zielführend oder gar verfassungsrechtlich gefordert sind. Ein Maßnahmemix aus verschiedenen Bestandteilen dürfte die einzig zielführende Variante sein. In Betracht kommt insbesondere,
- den einfachgesetzlichen Rechtsrahmen weiterzuentwickeln,
- die bestehenden Machtungleichgewichte zwischen Nutzern und Anbietern zu verringern,
- Vollzug und Rechtsdurchsetzung zu stärken,
- Verhandlungen mit den Anbietern zu führen,
- Selbstregulierungsmaßnahmen zu fördern und zu initiieren,
- die Medienkompetenz der Nutzer zu stärken,
- Aufklärungs- und Informationsmaßnahmen zu intensivieren,
- eigene Infrastrukturen und Dienste aufzubauen,
- einen (nationalen) Markt durch Zertifizierungen, Akkreditierungen oder andere Maßnahmen zu fördern und vor allem
- den internationalen Rechtsrahmen fortzuentwickeln.
Internationale Vorschriften zur Regelung eines achtungsvollen, die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht jedes Einzelnen respektierenden Umgangs im Internet miteinander könnten zielführend sein. Als Referenzgebiete könnten der Umwelt- und der Klimaschutz dienen. Denkbar sind völkerrechtliche Verträge, bspw. in Form eines effektiven globalen Datenschutzabkommens oder einer Fortschreibung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Art. 17 Abs. 1 IPBürgR) für die digitalisierte Welt. Bei internationalen Rechtsregeln handelt es sich nur im Ergebnis um eine rechtliche Reaktion. Das Verhalten, welches ggf. unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten von deutschen staatlichen Stellen gefordert werden kann, besteht darin, entsprechende Initiativen auf europäischer oder globaler Ebene anzustoßen bzw. zu unterstützen. So erkennt auch das BVerfG an, dass das Verbot der totalen Registrierung und Erfassung der Freiheitswahrnehmung der Bürger zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland gehöre, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen müsse.
Grenze des individuellen Schutzanspruchs: Unmöglichkeit
Die Schutzmöglichkeiten des Staates unterliegen faktischen Einschränkungen, die zugleich normativ seine Schutzpflichten begrenzen können. Die Schwierigkeiten, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, können subjektiven Ansprüchen des Einzelnen auf ein Handeln des Staates entgegengehalten werden. Das Untermaßverbot ist nur verletzt, wenn eine tatsächlich mögliche und rechtlich zulässige Maßnahme unterlassen wird. Handlungen, an deren Ergreifung der Staat gehindert ist, können nicht begehrt werden. Dies zeigen Beispiele aus der analogen Welt: während bei einer Geiselnahme innerhalb des deutschen Staatsgebiets der Einsatz von Polizeikräften möglich und zulässig ist, ist dies bei einer Auslandsentführung zwar theoretisch möglich, aber in der Regel unzulässig. Damit verringert sich der Handlungsspielraum staatlicher Stellen – gleichwohl können (und müssen) andere Maßnahmen ergriffen werden, bspw. die Aufnahme und Begleitung von Verhandlungen, Einwirkung auf und Unterstützung von lokalen Sicherheitsbehörden.
Der Grundsatz ultra posse nemo obligatur besagt, dass eine moralische oder rechtliche Verpflichtung zu einer Leistung, die unmöglich ist, nicht bestehen kann. Ähnlich impossibilium nulla est obligatio: eine Leistungspflicht entfällt bei objektiver oder subjektiver Unmöglichkeit ipso iure (vgl. etwa § 275 Abs. 1 BGB). Im Strafrecht kommt dieser Gedanke bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten zum Tragen, etwa durch die rechtfertigende Pflichtenkollision. Er kann darüber hinaus aber als allgemeiner Rechtsgrundsatz angesehen werden, der auch im Verwaltungsrecht Anwendung findet. So normiert § 44 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG die tatsächliche Unmöglichkeit als besonderen Nichtigkeitsgrund für Verwaltungsakte. Bei der Frage, ob ein Anspruch auf Handeln einer Behörde bestehen kann, muss er ebenfalls Berücksichtigung finden. Gleiches gilt für staats- und grundrechtlich fundierte Ansprüche. Exemplarisch insofern die Einschätzung des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papierim Kontext der NSA-Ausspähaffäre: Zwar habe der Staat die grundsätzliche Pflicht, seine Bürger vor Zugriffen ausländischer Mächte zu schützen, aber der Staat könne nur zu etwas verpflichtet sein, das er rechtlich und tatsächlich auch zu leisten vermag.
Fazit: Andersgeartete Handlungsverpflichtung des Staates
Insofern muss man anerkennen, dass die Steuerungsfähigkeit des Nationalstaats in einer globalisierten Welt begrenzt ist. Wer die Vorteile der Globalisierung, der zunehmenden Vernetzung, der auf Ubiquität und Raum- und Zeitunabhängigkeit basierenden Dienste nutzt, muss sich im Gegenzug vergegenwärtigen, dass er nicht in gleicher Weise Schutz des Staates beanspruchen kann wie in rein nationalen Sachverhalten. Problematisch ist jedoch, dass viele Dienste, die nicht der deutschen Staatsgewalt unterliegen, mittlerweile eine erhebliche kommunikative und gesellschaftliche Bedeutung für den Einzelnen haben (digitale Agora). Insofern ist der Verzicht – anders als bei der Auslandsreise in ein besonders gefährdetes Gebiet – nicht ohne Weiteres möglich bzw. mit Einschränkungen verbunden. Zudem stehen kaum nationale Lösungen zur Verfügung, die als Ersatz dienen könnten. Das Eingeständnis beschränkter nationaler Steuerungsfähigkeit führt aber lediglich zu einer Veränderung des gegen den Staat gerichteten Anspruchs auf Schutz. Der Ermessensspielraum ist weit – Untätigkeit ist dennoch nicht angezeigt!
Der Beitrag basiert auf Ergebnissen, die im Rahmen eines Forschungsprojektes des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) am Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften erarbeitet wurden. Sie sind dokumentiert in einer Publikation des Nomos-Verlages.