von KILIAN ERTL
Die Kennzeichnungspflicht für Polizeibedienstete ist für den modernen demokratischen Rechtsstaat ein gutes, zugleich notwendiges und im Übrigen verfassungsrechtlich zulässiges Mittel, um rechtswidriger polizeilicher Gewalt vorzubeugen und diese zu sanktionieren. Denn auch Polizeibedienstete können Täter/innen sein. Aktuell sind die Polizeibediensteten in sechs Bundesländern kennzeichnungspflichtig. Drei weitere Bundesländer wollen die Kennzeichnungspflicht für Polizeibedienstete in naher Zukunft einführen. Umgesetzt wird sie in der Regel entweder durch Namensschilder oder – vor allem bei so genannten „geschlossenen Einsätzen“ auf Großveranstaltungen – durch individuelle und anonymisierende Nummern, die auf den Uniformen angebracht werden.
Strafverfolgungsinteresse
Hauptanliegen der Befürworter der Kennzeichnungspflicht ist die Steigerung der Effektivität der Strafverfolgung. Hierbei handelt es um ein verfassungsrechtliches Gebot und öffentliches Interesse, welches regelmäßig zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen wird. Es gehört zu den Aufgaben des Staates, das Recht gegenüber denjenigen, die das Recht verletzen, durchsetzen, um die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen. Im Jahre 2014 wurden insgesamt 1624 Strafverfahren wegen Körperverletzungen im Amt geführt. Eine hohe Anzahl nicht erstatteter Anzeigen wird vermutet, weil sich Polizeibedienstete nicht identifizieren lassen. Polizeigewalt ist insofern zwar kein Massenphänomen, aber mit Blick auf die Dunkelziffer auch kein zu vernachlässigendes, auf Einzelfälle reduzierbares Problem. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird überwiegend ein strukturelles Problem u.a. auf Grund unzulänglicher Ausbildung, mangelnder Fehlerkultur, schlechter Arbeitsbedingungen und einer die Polizeigewalt begünstigenden „Cop Culture“ angenommen. Die Aufklärung von rechtswidriger staatlicher Gewalt bereitet insbesondere auf Großveranstaltungen aufgrund der mit Helmen und einheitlicher Einsatzmontur ausgestatten Polizeibediensteten große Schwierigkeiten. Die Aufklärung ist dennoch sehr wichtig. Nicht umsonst ist die Körperverletzung im Amt gemäß § 340 Abs. 1 StGB mit einer höheren Strafe bedroht als die einfache Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB. Das Unrechtsgehalt dieser Tat wird durch den Missbrauch einer von der Allgemeinheit verliehenen Befugnis gesteigert.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibedienstete wurde festgestellt, dass diese zumindest in etwa 10 bis 17 % der eingestellten Ermittlungsverfahren (bei einer Einstellungsquote von etwa 93 %) zu einer Aufklärung der Sachverhalte hätte beitragen können. Nicht zuletzt ist es die strafrechtliche Verfolgung und das parallel zu führende dienstrechtliche Verfahren, welches – im Gegensatz zu verwaltungs- und staatshaftungsrechtlichen Prozessen – zukünftige Straftaten von Polizeibediensteten effektiv ausschließen können.
Der Kennzeichnungspflicht wurde in den 80er Jahren noch entgegengehalten, aufgrund der regelmäßig zeitlich eng aufeinander folgenden und turbulenten Ereignisse auf Versammlungen könne der Zweck der Kennzeichnungspflicht, Polizeibedienstete zu identifizieren, gar nicht erreicht werden; es fehle also an der Geeignetheit. Das überzeugt nicht. Die Identifizierbarkeit von Polizeibediensteten wird hierdurch keineswegs schlechterdings unmöglich. Insbesondere unbeteiligte, sich nicht im Tumult befindliche Zeugen können durchaus Kenntnis von der in entsprechender Größe auf den Polizeiuniformen abgebildeten Kennziffer nehmen und zur Aufklärung von etwaigen Vorwürfen beitragen. Außerdem bestehen mittlerweile zahlreiche technische Mittel wie Handys und Kameras, mit deren Hilfe eine Identifizierung zusätzlich erleichtert wird.
Die disziplinierende Wirkung der Kennzeichnungspflicht
Wissenschaftlich erwiesen ist zudem die gesteigerte Tendenz zu normenabweichendem Verhalten infolge einer Anonymität aus der Gruppe heraus – die so genannte Deindividuation. Die individuelle Kennzeichnung entfaltet also eine disziplinierende Wirkung auf die Bediensteten. Hinzu kommen Erkenntnisse der sozialpsychologischen Forschung über die Beeinflussung menschlichen Handelns durch Autorität und Macht. Diese belegen eine autoritätsbedingte Enthemmung und machtbedingte Steigerung von normabweichendem Verhalten. Diese trotz aller Ausbildungsbemühungen der Dienstherren bestehende besondere Gefahrenlage erfordert daher eine Kennzeichnungspflicht, die jene Anonymität aufhebt und dafür sorgt, dass sich Polizeibedienstete nicht mehr als strafrechtlich immun fühlen und sich der möglichen Konsequenzen von nicht gerechtfertigter Gewalt bewusst werden.
Grundrechtsposition der Polizeibediensteten
Auch Polizeibedienstete sind Träger/innen von Grundrechten. Durch die Kennzeichnungspflicht zwingt der Staat seine Bediensteten zur Preisgabe von personenbezogenen Daten gegenüber privaten Dritten und greift damit in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG ein. Auch anonymisierende, individualisierte Kennziffern dürften, sofern man auf die objektive Möglichkeit abstellt, Daten einer Person zuordnen zu können (so genannter „absoluter Personenbezug“), als personenbezogene Daten zu beurteilen sein. Zwar greift der Staat keinesfalls zielgerichtet auf diese Daten zu, jedoch schützt das Grundrecht auch vor Kenntniserlangung von personenbezogenen Daten durch private Dritte. Maßgeblich für die Begründung eines staatlichen Eingriffs ist daher die dem Staat durch die Einführung der Kennzeichnungspflicht zuzurechnende Möglichkeit von Privaten Dritten, von den geschützten Daten der Polizeibediensteten Kenntnis zu erlangen. Insoweit ist diese Konstellation vergleichbar etwa mit der Pflicht von Taxifahrenden, ihren Namen im Innenraum ihres Fahrzeugs für Taxikunden sichtbar anzubringen.
Zum Teil wird der Kennzeichnungspflicht entgegengehalten, durch eine solche würden Polizeibedienstete diskriminiert und unter Generalverdacht gestellt werden. Übertragen in rechtliche Kategorien könnte dabei im Falle der Verpflichtung der Bediensteten zum Tragen einer individualisierten Kennziffer an einen Eingriff in den Schutz der sozialen Anerkennung, den so genannten „sozialen Geltungsanspruch“ als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, zu denken sein. Neben dem durch die Kennzeichnungspflicht deutlich sichtbar tangiertem Selbstbestimmungsrecht der Polizeibediensteten über die Darstellung der eigenen Person könnte auch der Schutz vor herabwürdigenden und sich abträglich auf das Ansehen des Einzelnen auswirkenden staatlichen Äußerungen betroffen sein. Dass auch staatliche Kennzeichnungen eine solche Wirkung entfalten können, lässt sich etwa im Falle der Verpflichtung von Strafgefangenen erkennen, Anstaltskleidung außerhalb der JVA zu tragen. Hiermit lässt sich die Verpflichtung von Polizeibediensteten zum Tragen einer Kennziffer jedoch nicht vergleichen. Sie dürfte die soziale Anerkennung der Polizeibediensteten mangels ehrverletzenden oder sonst herabwürdigenden Charakters der Kennziffer kaum beeinträchtigen. Alles andere würde auf eine Überinterpretation der auf den Uniformen angebrachten Kennziffern hinauslaufen. Selbst bei Annahme einer Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs wäre die Eingriffsintensität jedenfalls als nur gering zu beurteilen.
Ein überwiegendes Schutzinteresse der Polizeibediensteten besteht daher im Verhältnis zu den bereits aufgezeigten positiven Folgen der Kennzeichnungspflicht nicht. Insoweit ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ganz konkret kein Anspruch von Polizeibediensteten auf Anonymität im Dienst. Im Übrigen erschiene es auch nur wenig nachvollziehbar, würde der Staat angesichts der vielen bestehenden, z.T. ebenso verdachtsunabhängigen rechtsstaatlichen Mittel, die er gegen seine Bürgerinnen und Bürger einsetzt, ausgerechnet seine eigenen Bediensten von jedem Generalverdacht ausnehmen.
Gefährdung der Polizeibediensteten?
Des Weiteren begünstige die Kennzeichnungspflicht Kritikern zufolge Racheakte, Bedrohungen, falsche Anschuldigungen und tätliche Angriffe. Eine erhöhte Gefährdung der Polizeibediensteten konnte jedoch wissenschaftlich nicht festgestellt werden (dazu Greifeld, ZRP 1982, S. 318 ff.). Insoweit verletzt die Kennzeichnungspflicht auch nicht die Fürsorgepflicht des Dienstherrn als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums iSv Art. 33 Abs. 5 GG. Eine hierdurch bedingte Steigerung von Anzeigen gegen Polizeibedienstete erscheint zwar als sehr wahrscheinlich, gerade das ist aber auch eine der beabsichtigten Wirkungen einer Kennzeichnungspflicht. Ob die Anzeigen gerechtfertigt sind, wird sich dann in einem rechtsstaatlichen Verfahren herausstellen. Dass sich unter diesen Anzeigen auch solche befinden, die unberechtigt sein mögen, lässt sich nicht vermeiden. Dieses Risiko ist den Polizeibediensteten wie allen anderen, grundsätzlich identifizierbaren Personen aber zuzumuten. Darüber hinaus kann die Kennzeichnung durch anonymisierende Nummern erfolgen, sodass außenstehende Dritte zunächst keine Kenntnis von den Namen der Polizeibediensteten erlangen. Insoweit dürfte sich die Gefährdung der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten im Rahmen halten. Die Bedenken sind daher unbegründet und reichen nicht aus, um an der Verhältnismäßigkeit einer gesetzlich normierten Kennzeichnungspflicht Zweifel zu wecken.
Fazit
Während das Strafverfolgungsinteresse und die sozialpsychologischen Gesichtspunkte die Notwendigkeit der Kennzeichnungspflicht belegen, vermag die bislang ins Feld geführte Kritik nicht zu überzeugen. Die Möglichkeiten und Umsetzung der gerichtlichen Überprüfbarkeit und konsequenten Ahndung von rechtswidriger staatlicher Gewalt stellen gewissermaßen den „Seismograph der rechtsstaatlichen Demokratie“ dar. Die wahre Stärke einer rechtsstaatlichen Demokratie kann genau hieran gemessen werden. Trotz aller polizeigewerkschaftlichen Lobbyarbeit sollte die Politik aus den vorstehenden Gründen die Courage haben, alles dafür zu tun, staatlichen Gesetzesüberschreitungen vorzubeugen, indem sie ihre Bediensteten nicht von der individuellen Verantwortung freistellt.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Für die Notwendigkeit der Kennzeichnungspflicht wird anhand des Strafverfolgungsinteresses sowie sozialpsychologischer Gesichtspunkte argumentiert. Kritik zu letzterem Punkt: Die sozialpsychologischen Mechanismen werden nicht korrekt dargestellt. Deindividuation durch Anonymität aufgrund gewisser Gruppenmerkmale wie Uniform führt zur erhöhten Salienz gruppeninternen Normen. Bei vermummten Hooligans wäre dementsprechend ein erhöhtes normabweichendes Verhalten zu erwarten – jedoch nur in Referenzen zu rechtlichen Normen, nicht zu Normen der Gruppe. Für den Fall also, dass Polizisten sich anonym fühlen (und hier ist die Tatsache des „Anonym-Fühlens“ entscheidender als das „Anonym-Seins“) wäre demnach sogar eine Erhöhung prosozialer Verhaltensweisen zu erwarten, aufgrund der sozialen und auch persönlichen Rollenerwartung an den Polizisten als „Freund und Helfer“ (Zimbardo, 1971; oder auch Johnson & Downing, 1979, lieferten zu diesem Bereich die klassischen Experimente). Die präsentierte Argumentation zum Strafverfolgungsinteresse ließe sich hingegen auf alle Bürger anwenden und ist so nicht spezifisch für den Polizeibeamten begründbar, es sei denn, man nähme diese als besondere Risikogruppe für die Begehung von Straftaten wahr. Sollte selbst dies zutreffen (was zumindest anzuzweifeln wäre), müsste man mit angegebenen Argumenten auch andere Risikogruppen etikettieren, was je nach Abwägung, wie hoch das gesellschaftliche Sicherheitsinteresse bewertet wird, zu einer flächendeckenden Kennzeichnung führen könnte. Die Deanonymisierung des Individuums jedoch ist eine Debatte, die weiter diskutiert werden muss, und kann sich nicht allein auf die Subgruppe der Polizei beziehen, um sinnvoll und auch mit sich konsistent zu sein.
[…] mahnen rechtsstaatliche Kontrollmöglichkeiten an, die Vertrauen erst ermöglichten, und sehen eine durch persönliche Identifizierbarkeit geminderte Tendenz zu normabweichendem Verhalten. Tatsächlich lässt sich die Debatte bis in die 1970er Jahre […]